Eins
Der Fluss, der träge unter dem Pont de la Concorde hindurchströmte, war glatt und grau wie abgenutztes Linoleum. Es war Oktober, und die Behörden hatten beschlossen, dass es wieder einmal an der Zeit war, hart gegen Schmuggler durchzugreifen. Sie hatten ihren üblichen Überraschungskontrollpunkt am gegenüberliegenden Ende der Brücke eingerichtet. Der Verkehr staute sich über die ganze Brücke bis ans rechte Seineufer.
»Eins ist mir bis heute nicht klar«, sagte Custine. »Sind wir jetzt Musiker, die ihr Einkommen mit ein bisschen Detektivarbeit aufbessern, oder verhält es sich genau umgekehrt?«
Floyd warf einen Blick in den Rückspiegel. »Wie wäre es dir lieber?«
»Ich denke, es wäre mir am liebsten, ein Einkommen zu haben, das man nicht aufbessern muss.«
»Bis vor kurzem lief alles bestens.«
»Bis vor kurzem waren wir zu dritt. Und davor zu viert. Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber da scheint sich ein gewisser Trend abzuzeichnen.«
Die Schlange kam in Bewegung. Floyd legte den Gang ein und ließ den Mathis ein Stück vorwärts rollen. »Wir müssen nur so lange die Stellung halten, bis sie zurück ist.«
»Das wird nicht geschehen«, erwiderte Custine. »Als sie in den Zug gestiegen ist, war das eine endgültige Entscheidung. Dass du ihr vorne im Auto einen Platz frei hältst, ändert nichts daran.«
»Es ist ihr Platz.«
»Sie ist fort.« Custine seufzte. »Das ist das Problem, wenn man ein echtes Talent erkennt. Früher oder später erkennt es auch ein anderer.« Der groß gewachsene Franzose kramte in seiner Jackentasche. »Hier. Zeig dem netten Herrn meine Papiere.«
Floyd nahm den vergilbten Ausweis entgegen and legte ihn neben seinem eigenen aufs Armaturenbrett. Als sie den Kontrollpunkt erreichten, warf der Wachmann einen kurzen Blick auf Floyds Papiere und gab sie ihm wortlos zurück. Dann blätterte er die von Custine durch und beugte sich vor, um einen Blick auf den Rücksitz des Mathis zu werden.
»Geschäftlich unterwegs, Monsieur?«
»Ich wünschte, es wäre so«, antwortete Custine ruhig.
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Dass wir Arbeit suchen«, erklärte Floyd freundlich. »Unglücklicherweise haben wir bislang keine gefunden.«
»Was für Arbeit?«
»Musik«, antwortete Floyd und zeigte nach hinten. »Deshalb die Instrumente.«
Der Wachmann stieß mit der Mündung seines Stanzmetall-Maschinengewehrs gegen den weichen Stoff des Kontrabasskastens. »Da würden eine Menge Zigaretten reinpassen. Fahren Sie rüber in den Inspektionsbereich.«
Floyd würgte den Gang rein und lenkte den alten Mathis in die Bucht, wo die Wachleute genauere Durchsuchungen vornahmen. An einer Seite stand eine gestreifte Holzhütte, in der sich die Wachen mit Kartenspielen und Pornos die Zeit vertrieben. Hinter einer niedrigen Steinmauer war ein schmaler, kopfsteingepflasterter Kai zu sehen. Ein leerer Stuhl stand an der Mauer, neben einer großen, aufgebockten Tischplatte, auf der eine Decke lag.
»Sag so wenig wie möglich«, sagte Floyd zu Custine.
Während der Wachmann mit dem Maschinengewehr auf seinen Posten zurückkehrte, klopfte einer der Männer im Inspektionsbereich aufs Autodach. »Holen Sie das Ding raus. Legen Sie es auf den Tisch.«
Floyd und Custine bugsierten den Instrumentenkasten aus dem Auto. Er war eher sperrig als schwer und hatte schon so viele Dellen und Kratzer ausgehalten, dass es auf ein paar mehr nicht ankam.
»Soll ich ihn öffnen?«, fragte Custine.
»Natürlich«, antwortete der zweite Wachmann. »Und nehmen Sie bitte auch das Instrument heraus.«
Custine tat wie geheißen und legte den Kontrabass behutsam nieder. Neben dem leeren Kasten war gerade ausreichend Platz auf dem Tisch. »Bitte«, sagte er. »Sie können den Kasten gerne untersuchen, wenn Sie glauben, dass ich gewieft genug bin, mehr als dieses Instrument darin zu verstecken.«
»Es ist nicht der Kasten, um den ich mir Gedanken mache«, erklärte der Wachmann. Er winkte einen seiner Kollegen heran, der auf einem Klappstuhl neben der gestreiften Hütte saß. Der Mann legte die Zeitung beiseite und nahm einen hölzernen Werkzeugkasten mit. Offensichtlich handelte es sich bei ihm um eine Art Inspekteur. »Ich habe die beiden schon mal gesehen«, fuhr der Wachmann fort. »Sie fahren über den Fluss hin und zurück, als würde es was umsonst geben. Da kommt man doch ins Grübeln, nicht wahr?«
Der Inspekteur musterte Custine mit leicht zusammengekniffenen Augen. »Den hier kenne ich«, sagte er. »Sie waren mal Polizist, nicht wahr? Irgendein hohes Tier im Hauptquartier.«
»Ich hatte das Gefühl, ein Berufswechsel würde mir gut tun.«
Floyd holte einen frischen Zahnstocher aus der Hemdtasche, steckte ihn in den Mund und biss darauf. Die Spitze grub sich so tief ins Zahnfleisch, dass es blutete.
»Ein ganz schöner Absturz, von anspruchsvoller Polizeiarbeit zu dem hier«, fuhr der Inspekteur beharrlich fort und stellte den Werkzeugkasten ab.
»Wenn Sie es sagen«, antwortete Custine.
Der Inspekteur hob den Kontrabass auf und schüttelte ihn mit konzentrierter Miene, um ihn dann wieder auf den Tisch zurückzulegen. »Da klappert nichts«, sagte er und griff nach dem Werkzeugkasten. »Aber Sie könnten innen etwas festgeklebt haben. Wir werden den Burschen zerlegen müssen.«
Floyd sah, wie Custine scharf nach Luft schnappte und die Hände schützend auf das Instrument legte. »Sie können ihn nicht zerlegen«, widersprach Custine ungläubig. »Der Kontrabass ist ein Musikinstrument. Man kann ihn nicht auseinander nehmen.«
»Ich habe die Erfahrung gemacht, dass früher oder später alles zerlegt wird«, erklärte der Inspekteur.
»Bleib ruhig«, sagte Floyd. »Lass sie. Es ist nur ein Stück Holz.«
»Hören Sie auf Ihren Freund«, bestätigte der Wachmann. »Er ist vernünftig, besonders für einen Amerikaner.«
»Nehmen Sie bitte die Hände vom Instrument«, sagte der Inspekteur.
Custine würde nicht gehorchen, und Floyd konnte es ihm nicht einmal verdenken. Der Kontrabass war Floyds wertvollster Besitz, den Mathis Emyquatre eingeschlossen. Sofern ihnen nicht ein neuer Fall in den Schoß fiel, war er auch das Einzige, das sie noch vor der totalen Verarmung bewahrte.
»Lass los.« Floyd bildete die Worte lautlos mit den Lippen. »Ist die Sache nicht wert.«
Der Inspekteur und Custine rangen um das Musikinstrument. Von der Unruhe angezogen verließ der Wachmann mit dem Maschinengewehr, der sie angehalten hatte, seinen Posten und schlenderte zu ihnen herüber. Der Kontrabass befand sich mittlerweile nicht mehr auf dem Tisch, sondern zwischen den beiden Männern, die verbissen an ihm zerrten.
Der Wachmann entsicherte sein Gewehr. Der Kampf wurde hitziger, und Floyd befürchtete schon, dass der Kontrabass entzweibrach. Dann gewann Custines Gegner die Oberhand und entriss ihm das Instrument. Einen Augenblick lang erstarrte der Inspekteur, dann warf er den Kontrabass in einer einzigen fließenden Bewegung über die niedrige Mauer hinter dem Untersuchungstisch. Die Zeit dehnte sich: Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Floyd das grausame Splittern hörte, als der Kontrabass unten auf das Kopfsteinpflaster traf. Custine sackte auf dem Stuhl neben dem Untersuchungstisch zusammen.
Floyd spuckte den Zahnstocher aus und zertrat ihn wie einen Zigarettenstummel. Langsam ging er zur Mauer hinüber und blickte hinab, um den Schaden zu begutachten. Bis zum gepflasterten Kai ging es zehn oder zwölf Meter abwärts. Der Hals des Instruments war abgebrochen und der Klangkörper in Hunderte scharfe Splitter zerborsten, die einen weiten Kreis um den Aufschlagpunkt bildeten.
Das Geräusch von Stiefeln zu seiner Rechten erregte Floyds Aufmerksamkeit. Der zweite Wachmann ging über eine Steintreppe, die aus der Wand hervorragte, zum Kai hinab. Zu seiner Linken hörte Floyd ein gequältes Stöhnen und sah, wie Custine über die Brüstung blickte. Seine Augen waren weit aufgerissen und fast völlig weiß. Der Schock hatte seine Pupillen zu kleinen Punkten zusammenschrumpfen lassen. Nach und nach verwandelte sich sein Stöhnen in verständliche Laute.
»Nein. Nein. Nein.«
»Es ist geschehen«, sagte Floyd. »Und je schneller wir hier wegkommen, desto besser für uns.«
»Sie haben ein Stück Geschichte zerstört!«, schrie Custine den Inspekteur an. »Das war Sodieux’ Kontrabass! Django Reinhardt hat dieses Holz berührt!«
Floyd drückte seinem Freund eine Hand auf den Mund. »Er ist ein wenig aufgewühlt«, erklärte er. »Sie müssen ihn entschuldigen. In letzter Zeit stand er wegen einiger persönlicher Schwierigkeiten unter großem Druck. Er entschuldigt sich vorbehaltlos für sein Verhalten. Nicht wahr, André?«
Custine schwieg. Zitternd starrte er die Überreste des Kontrabasses an. Er will die Zeit zurückdrehen, dachte Floyd. Er wollte die letzten paar Minuten seines Lebens ungeschehen machen und von einem früheren Punkt aus weiterleben. Beim zweiten Mal würde er gehorchen, die Fragen der Wachleute höflich beantworten, und vielleicht wäre der Schaden, den sie dem Kontrabass unweigerlich zufügen würden, zu beheben.
»Sag es!«, flüsterte Floyd.
»Ich entschuldige mich«, sagte Custine.
»Vorbehaltlos.«
»Ich entschuldige mich vorbehaltlos.«
Der Inspekteur musterte ihn kritisch und zuckte schließlich die Achseln. »Was geschehen ist, ist geschehen. In Zukunft sollten Sie sich eine Scheibe von Ihrem Freund abschneiden.«
»Das werde ich tun«, sagte Custine ausdruckslos.
Unten beförderte der Wachmann die Überreste des Kontrabasses mit Fußtritten in den Fluss. Die Bruchstücke verloren sich schnell im Müll, der das Ufer wie eine Schleimschicht säumte.
Floyds Telefon klingelte, als er die Tür zu seinem Büro im dritten Stock eines alten Hauses an der Rue du Dragon öffnete. Er legte die Post, die er gerade aus dem Briefkasten geholt hatte, beiseite und griff nach dem Hörer.
»Detektivbüro Floyd«, meldete er sich mit lauter Stimme, um das Rattern eines Zuges zu übertönen. Er nahm den Zahnstocher aus dem Mund. »Wie kann …?«
»Monsieur Floyd? Wo waren Sie?« Die Stimme – sie hörte sich nach einem älteren Mann an – klang eher neugierig als verärgert. »Ich habe schon den ganzen Nachmittag versucht, Sie anzurufen. Fast hätte ich aufgegeben.«
»Tut mir Leid«, sagte Floyd. »Ich war mit Ermittlungen beschäftigt.«
»Sie sollten mal darüber nachdenken, sich eine Sekretärin zu leisten«, bemerkte der Mann. »Oder falls das unmöglich sein sollte, einen Anrufbeantworter. Ich habe gehört, dass die bei den orthodoxen Juden sehr beliebt sind.«
»Sekretärinnen?«
»Anrufbeantworter. Sie arbeiten mit Magnetbändern. Erst letzte Woche habe ich in der Rue des Rosiers einen zum Verkauf angeboten gesehen.«
»Wir leben wirklich in einer faszinierenden Welt der Wissenschaft.« Floyd zog seinen Stuhl heran und setzte sich. »Darf ich fragen …?«
»Entschuldigen Sie. Ich hätte mich schon längst vorstellen sollen. Mein Name ist Blanchard. Ich rufe aus dem dreizehnten Arrondissement an. Möglicherweise habe ich einen Fall für Sie.«
»Fahren Sie fort«, sagte Floyd, halb davon überzeugt, dass er nur träumte. Nach allem, was in letzter Zeit geschehen war – Greta hatte die Band verlassen, es gab keine Arbeit für sie, dann der Zwischenfall am Kontrollpunkt – war ein neuer Fall etwas, worauf er kaum zu hoffen gewagt hatte.
»Ich sollte Sie allerdings vorwarnen. Es ist eine ernste Angelegenheit. Ich bezweifle, dass es eine schnelle oder einfache Ermittlung wird.«
»Das … dürfte kein Problem sein.« Floyd goss Brandy in ein bereitstehendes Schnapsglas. »Um welche Art Fall handelt es sich, Monsieur?« Geistig ging er bereits die verschiedenen Möglichkeiten durch. Betrügerische Ehefrauen und -gatten waren recht gewinnträchtig. Manchmal musste man sie wochenlang beschatten. Das Gleiche galt für verloren gegangene Katzen.
»Es geht um einen Mord«, erklärte Blanchard.
Floyd erlaubte sich einen bittersüßen Schluck Brandy. Seine Stimmung sackte genau so schnell wieder in den Keller, wie sie sich kurz zuvor gehoben hatte. »Das ist sehr bedauerlich. Wir können keine Mordfälle annehmen.«
»Wirklich nicht?«
»Für Tötungsdelikte sind die Jungs mit den Melonen zuständig. Die vom Quai. Sie würden gar nicht zulassen, dass ich solche Aufträge übernehme.«
»Aber genau darum geht es. Die Polizei hält den Fall nicht für einen Mord – oder ein ›Tötungsdelikt‹, wie Sie es ausdrücken.«
»So?«
»Man ist der Meinung, dass es möglicherweise Selbstmord oder ein Unglücksfall war, aber letztlich interessiert man sich sowieso nicht dafür. Sie wissen ja, wie das heutzutage ist – diese Leute sind sehr viel mehr daran interessiert, ihren eigenen Nachforschungen nachzugehen.«
»Ich glaube zu wissen, worauf Sie anspielen.« Aus alter Gewohnheit machte er sich bereits Notizen: Blanchard, 13. Arr., mögl.t Tötungsdelikt. Vielleicht wurde nichts daraus, aber falls das Gespräch unterbrochen wurde, konnte er zumindest versuchen, den Anrufer erneut zu kontaktieren. Er kritzelte das Datum auf den Notizzettel und stellte fest, dass es sechs Wochen her war, seit er sich das letzte Mal etwas auf dem Block notiert hatte. »Angenommen, die Polizei liegt tatsächlich falsch – wie kommen Sie darauf, dass es weder Selbstmord noch ein Unfall war?«
»Weil ich die betreffende junge Dame kenne.«
»Und Sie denken, dass sie nicht der Typ war, der Selbstmord begehen würde?«
»Das weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass sie Höhen nicht besonders mochte – das hat sie mir selbst gesagt – und trotzdem ist sie von einem Balkon im fünften Stock gefallen.«
Floyd zuckte zusammen und schloss die Augen. Er dachte an den zertrümmerten Kontrabass, die Splitter auf dem Kopfsteinpflaster. Er hasste Stürze. Er hasste schon die Vorstellung eines Sturzes, ob Selbstmord oder nicht. Er nippte an seinem Brandy, um das Bild vor seinem inneren Auge fortzuspülen.
»Wo ist die Leiche jetzt?«
»Tot und begraben. Genau genommen wurde er ihren Wünschen entsprechend verbrannt. Sie starb vor drei Wochen, am zwanzigsten September. Wie ich gehört habe, gab es eine Autopsie, die aber nichts Verdächtiges zutage gefördert hat.«
»Also gut.« Geistig bereitete Floyd sich bereits darauf vor, seine Notizen durchzustreichen. Dieser Fall sah nach einem Blindgänger aus. »Vielleicht ist sie schlafgewandelt. Oder etwas hat sie aufgeregt. Oder das Balkongeländer war locker. Hat die Polizei mit dem Vermieter gesprochen?«
»Das hat sie. Zufällig bin nämlich ich der Vermieter. Ich versichere Ihnen, dass das Geländer absolut sicher war.«
Das bringt nichts, sagte sich Floyd. Vielleicht war die Sache ein oder zwei Tage Nachforschungen wert, aber am Ende würden sie zum gleichen Schluss gelangen wie die Polizei. Das war besser als gar kein Fall, aber es würde Floyds schwere finanzielle Misere nicht beheben.
Er legte den Füller weg und nahm stattdessen einen Brieföffner zur Hand. Er schlitzte den ersten der Umschläge auf, die er aus dem Briefkasten geholt hatte, und zum Vorschein kam eine Forderung von seinem eigenen Vermieter.
»Monsieur Floyd – sind Sie noch dran?«
»Ich denke nur nach«, antwortete Floyd. »Wahrscheinlich wird es schwierig sein, einen Unfall prinzipiell auszuschließen. Und ohne Hinweise auf ein Verbrechen kann ich der offiziellen Einschätzung kaum etwas hinzufügen.«
»Hinweise auf ein Verbrechen sind genau das, was ich hier habe, Monsieur Floyd. Natürlich wollten die phantasielosen Trottel vom Quai nichts davon wissen. Von Ihnen erwarte ich deutlich mehr.«
Floyd zerknüllte die Mietforderung zu einer Kugel und warf sie in den Papierkorb. »Können Sie mir etwas über diese Hinweise erzählen?«
»Ich kann es persönlich tun. Ich möchte Sie bitten, mich in meiner Wohnung aufzusuchen. Heute Abend. Erlaubt das Ihr Terminplan?«
»Ich müsste sie zwischenschieben können.« Floyd schrieb sich Blanchards Anschrift und Telefonnummer auf und machte eine Zeit mit ihm ab. »Eine Sache noch, Monsieur. Ich verstehe, warum man am Quai nicht an diesem Fall interessiert ist. Aber warum haben Sie mich angerufen?«
»Wollen Sie damit andeuten, dass das ein Fehler war?«
»Nein, ganz und gar nicht. Es ist nur so, dass ich die meisten meiner Fälle über persönliche Empfehlungen bekomme. Den Großteil meiner Arbeit habe ich nicht Leuten zu verdanken, die meine Nummer im Telefonbuch gefunden haben.«
Der Mann am anderen Ende der Leitung ließ ein leises, wissendes Lachen hören. Es klang, als ob jemand Kohlen auf einen Rost schüttelte. »Das kann ich mir denken. Sie sind schließlich Amerikaner. Welcher Narr käme schon auf die Idee, in Paris die Dienste eines amerikanischen Detektivs in Anspruch zu nehmen?«
»Ich bin Franzose«, erwiderte Floyd, während er den zweiten Umschlag öffnete.
»Lassen Sie uns nicht über Pässe und Papiere streiten. Ihr Französisch ist tadellos – für einen Ausländer. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Sie sind in den Vereinigten Staaten geboren, nicht wahr?«
»Sie wissen eine ganze Menge über mich. Woher haben Sie meinen Namen?«
»Vom einzigen vernünftigen Polizisten, mit dem ich bei dieser ganzen Angelegenheit gesprochen habe – ein gewisser Inspektor Maillol. Ich nehme an, Sie beide kennen sich.«
»Wir sind uns bereits begegnet. Maillol ist ein recht anständiger Kerl. Kann er nicht diesen scheinbaren Selbstmord untersuchen?«
»Maillol sagt, dass ihm die Hände gebunden sind. Als ich erwähnte, dass die Frau Amerikanerin war, ist er von ganz allein auf Sie gekommen.«
»Woher kam die Frau?«
»Aus Dakota, glaube ich. Vielleicht war es auch Minnesota. Auf jeden Fall irgendwo im Norden.«
»Ich komme aus Galveston«, sagte Floyd. »Damit liegen Welten zwischen ihr und mir.«
»Wie dem auch sei – nehmen Sie den Fall an?«
»Wir haben eine Verabredung, Monsieur. Dann können wir die Sache besprechen.«
»Gut. Kann ich also zur vollen Stunde mit Ihnen rechnen?«
Floyd schüttelte den zweiten Briefumschlag, der einen Stempel aus Nizza trug. Ein einzelnes, doppelt gefaltetes graues Blatt fiel auf den Schreibtisch. Er faltete es auf und sah eine handgeschriebene Nachricht in wässriger Tinte, die nur eine Spur dunkler war als das Papier, auf dem sie stand. Floyd erkannte die Handschrift sofort. Es war Gretas.
»Monsieur Floyd?«
Floyd ließ den Brief fallen wie ein Stück glühendes Metall. Seine Finger kribbelten. Er hatte nicht damit gerechnet, noch einmal von Greta zu hören – zumindest nicht in diesem Leben. Er brauchte einen Moment, um sich auf ihr plötzliches erneutes Eindringen in seine Welt einzustellen. Was konnte es geben, das sie ihm noch mitzuteilen hatte?
»Monsieur Floyd? Sind Sie noch da?«
Er klopfte mit einem Finger an die Sprechmuschel. »Sie waren einen Augenblick lang weg, Monsieur. Das sind die Ratten im Keller. Sie machen sich immer an den Telefonkabeln zu schaffen.«
»Offensichtlich. Zur vollen Stunde also? Sind wir uns einig?«
»Ich werde da sein«, antwortete Floyd.