Fünfundzwanzig

 

 

Floyd stand in einer öffentlichen Telefonzelle vor dem Gare du Nord. Es war Dienstagmorgen, und seinem Kopf ging es immer noch nicht besser. Da sie beide verletzt waren, aber nichts mit hilfsbereiten oder neugierigen Fremden zu tun haben wollten, war die Zugfahrt von Berlin langwierig und anstrengend gewesen. Es waren angespannte Momente gewesen, als man ihre Ausweise inspiziert hatte. Keiner von ihnen hatte es gewagt, auch nur ein Wort zu sagen, bis die Beamten weitergegangen waren. Floyd bezweifelte, dass er sich wegen seiner Verletzungen Sorgen zu machen brauchte, aber Augers Zustand gefiel ihm überhaupt nicht. Er hatte sie in der Wartehalle zurückgelassen, notdürftig verarztet und der Ohnmacht nahe, aber nicht gewillt, sich zu einer Klinik bringen zu lassen.

»Maillol«, sagte jemand am anderen Ende der Leitung.

»Inspektor? Hier ist Wendell Floyd. Können wir miteinander reden?«

»Natürlich können wir das«, sagte Maillol. »Es ist sogar so, dass ich sowieso mit Ihnen reden wollte. Wo waren Sie, Floyd? Anscheinend wusste niemand, wo Sie gesteckt haben.«

»In Deutschland, Monsieur. Jetzt bin ich wieder in Paris. Aber ich habe nicht viel Geld dabei und rufe aus einer Telefonzelle an.«

»Warum benutzen Sie nicht das Telefon in Ihrem Büro?«

»Ich dachte mir, dass es zu gefährlich sein könnte.«

»Sehr vernünftig«, sagte Maillol anerkennend. »Soll ich anfangen? Ich werde mich kurz fassen. Sie wissen von meiner Razzia gegen die Bootleg-Bande in Montrouge, nicht wahr? Dabei sind wir auf etwas Interessantes gestoßen. Einen Schwimmer.«

»Einen Schwimmer, Monsieur?«

»Eine Wasserleiche, Floyd. Sie schwamm mit dem Gesicht nach unten im überfluteten Keller des Lagerhauses, in dem wir die Werkstatt für illegale Schallplattenpressungen gefunden haben. Der Tote wurde inzwischen als ein gewisser Monsieur Rivaud identifiziert. Der Gerichtsmediziner sagt, dass er höchstens drei oder vier Tage lang im Wasser gelegen hat.«

»Es ist sehr früh am Tag, Monsieur, und ich hatte nicht viel Schlaf, aber ich glaube nicht, dass mir dieser Name bekannt ist.«

»Das ist seltsam, Floyd, denn Sie scheinen diesen Herrn getroffen zu haben. Bei ihm wurde eine Visitenkarte von Ihnen gefunden.«

»Das muss nicht zwangsläufig heißen, dass ich ihn kenne.«

»Außerdem hatte er einen Schlüssel dabei, den wir dem Mietshaus von Monsieur Blanchard an der Rue des Peupliers zuordnen konnten. Rivaud war einer seiner Mieter.«

»Warten Sie«, sagte Floyd. »Hat er zufällig im zweiten Stock gewohnt?«

»Also erinnern Sie sich doch an ihn.«

»Ich bin ihm nie begegnet. Custine hat ihn befragt und ihm meine Visitenkarte gegeben. Als ich ihn wegen weiterer Fragen aufsuchen wollte, war niemand zu Hause.«

»Wahrscheinlich, weil der junge Mann da bereits tot war.«

Floyd schloss die Augen. Das hatte ihm gerade noch gefehlt: ein weiterer Toter, auch wenn er offenbar nur entfernt mit seinem Fall zu tun hatte. »Todesursache?«

»Ertrinken. Es könnte ein Unfall gewesen sein. Vielleicht ist er ausgerutscht und ins überschwemmte Kellergeschoss gestürzt. Andererseits hat der Gerichtsmediziner im Nacken des Mannes seltsame Abschürfungen gefunden, die nach Fingerabdrücken aussehen. Es könnte also sein, dass jemand ihn unter Wasser gehalten hat.«

»Das heißt, Sie können die Ermittlungen in diesem Mordfall abschließen.«

»Nicht ganz«, sagte Maillol. »Die Fingerabdrücke waren sehr klein.«

»Lassen Sie mich raten: als würden sie von einem Kind stammen?«

»Einem Kind mit sehr langen Fingernägeln. Was natürlich keinen Sinn ergibt …«

»Nur dass ich Ihnen schon einmal gesagt habe, dass gewalttätige Kinder in diesen Fall verwickelt sind.«

»Dann hätten wir da auch noch den erstochenen Kellner im Gare du Nord. Den Jungen, den die Zeugen gesehen haben, konnten wir bis jetzt nicht ausfindig machen.«

»Das wird Ihnen wahrscheinlich nie gelingen«, sagte Floyd.

»Wissen Sie etwas über diesen Vorfall?«

Floyd zog einen neuen Zahnstocher aus der Hemdtasche und steckte ihn sich zwischen die Zähne. »Natürlich nicht, Monsieur«, sagte er. »Ich will damit nur andeuten … dass das Kind inzwischen vermutlich über alle Berge ist.«

Maillol sagte zehn oder zwanzig Sekunden lang gar nichts. Im Hintergrundlärm klappernder Schreibmaschinen und gebrüllter Befehle hörte Floyd ihn atmen.

»Ich bin überzeugt, dass Sie Recht haben«, sagte Maillol schließlich. »Aber betrachten Sie das Problem einmal aus meiner Perspektive. Der Fall an der Rue des Peupliers hat mich nicht interessiert, außer dass ich das Bedürfnis hatte, Custine nach besten Kräften zu helfen. Es gab keine Verbindung zwischen den beiden Todesfällen und den verbrecherischen Machenschaften in Montrouge.«

»Und jetzt?«

»Jetzt gibt es eine Verbindung, aber sie ergibt keinen Sinn. Was hat sich Ihr Monsieur Rivaud dabei gedacht, in Montrouge herumzuschnüffeln?«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte Floyd.

»Das ist ein loses Ende«, sagte Maillol. »Ich mag keine losen Enden.«

»Mir geht es genauso, Monsieur, aber ich weiß trotzdem nicht, was Rivaud dort gemacht hat. Wie ich bereits sagte, ich hatte nicht einmal die Gelegenheit, mit ihm zu sprechen.«

»Dann sollte ich vielleicht ein Wörtchen mit Custine reden.«

»Zufällig«, sagte Floyd, »ist Custine der Grund, warum ich anrufe.«

»Hat er sich wieder bei Ihnen gemeldet?«

»Natürlich. Wir halten ständig Kontakt. Was haben Sie erwartet? Er ist mein Freund, und ich weiß, dass er unschuldig ist.«

»Sehr gut, Floyd. Ich wäre enttäuscht gewesen, wenn Sie etwas anderes gesagt hätten.«

»Leider kann ich Ihnen nicht sagen, wie Sie Custine erreichen. Dafür haben Sie sicherlich Verständnis.«

»Natürlich.«

»Aber ich glaube, ich stehe kurz davor, den Tatverdächtigen zu finden. Doch es wird Ihnen nicht gefallen, wenn ich Ihnen einen von ihnen ausliefere.«

»Einen von ihnen?«

Floyd warf weitere Münzen in den eisernen Rachen des Telefons. »Custine hat Blanchard nicht ermordet. Es war eins von diesen Kindern. Sie haben mit den Zeugen im Gare du Nord gesprochen. Sie wissen, wie der Junge beschrieben wurde.«

»Einschließlich eines Zeugen, der Französisch mit einem ausgeprägten amerikanischen Akzent sprach.«

»Dieses Kind war real, Monsieur. Es gibt mehrere davon, Jungen und Mädchen, aber aus der Nähe sehen sie gar nicht mehr wie Kinder aus. Wenn ich Ihnen eins dieser Monster ausliefere, habe ich meinen Teil unserer Vereinbarung erfüllt.«

»Wir haben nie eine Vereinbarung getroffen, Floyd.«

»Lassen Sie mich jetzt nicht im Stich, Monsieur. Ich gebe mir alle Mühe, nicht den letzten Respekt vor den Behörden in dieser Stadt zu verlieren.«

»Ich kann Belliard nicht auf ewig von Ihrem Fall fern halten«, sagte Maillol. »Er geht schon jetzt jeder Spur nach, die ihn zu Custine führen könnte. Übrigens, diese Bar, die Sie gelegentlich frequentieren, Le Perroquet Pourpre …«

»Was ist damit?«, fragte Floyd besorgt.

»Wo sie sich befunden hat, ist nur noch ein nettes verkohltes Loch zurückgeblieben.«

»Und Michel, der Besitzer? Ist ihm etwas passiert?«

»Niemand ist zu Tode gekommen, aber Zeugen haben zwei Männer in Überziehern und mit Benzinkanistern gesehen, die in einem Citroen vom Tatort geflüchtet sind. Sie sollen sich in Richtung Quai des Orfevres aus dem Staub gemacht haben.« Maillol wartete einen Moment, um die Neuigkeit wirken zu lassen. »Falls Custine sich dort versteckt, können Sie davon ausgehen, dass Belliard ihm sehr dicht auf den Fersen ist.«

»Custine kann sehr gut auf sich selbst aufpassen.«

»Das mag sein. Die Frage ist nur: Können Sie es auch? Belliard wird nicht aufgeben, wenn er den ersten Fisch an der Angel hat.«

»Ich brauche nur noch etwas mehr Zeit«, sagte Floyd.

»Falls – ich wiederhole: falls Sie mir eins dieser falschen Kinder lebend und in vernehmungsfähigem Zustand bringen, dann wäre es denkbar, dass ich etwas tun könnte. Auch wenn ich noch nicht weiß, wie ich dem Untersuchungsrichter die Angelegenheit erklären soll. Paris von einer Bande mörderischer Kinder terrorisiert? Er wird mich auslachen und hochkant aus dem Justizpalast werfen.«

»Zeigen Sie ihm das Kind, Monsieur. Ich glaube, dass ihm dann sehr schnell das Lachen vergehen wird.«

»Ich werde tun, was ich kann.«

»Es freut mich, dass wir immer noch eine gemeinsame Basis haben«, sagte Floyd.

»Eine gemeinsame Basis, die jedoch zusehends kleiner wird, mon ami. Im Gegenzug würde ich Sie gerne um Ihre Mithilfe bitten, um die Rivaud-Verbindung aufklären zu können.«

»Verstanden.« Floyd legte den Hörer auf, dann kramte er in seiner Tasche nach weiteren Münzen für das nächste Telefonat.

 

Das Auto wurde langsamer, fädelte sich aus dem Verkehrsstrom aus und schrammte mit den rechten Rädern am Bordstein entlang. Die hintere Tür wurde aufgerissen und eine Hand – die einem großen Mann gehörte, der auf dem dunklen Beifahrersitz nicht genau zu erkennen war – dirigierte sie zu den Rücksitzen des Wagens. Auger stieg zuerst ein, gefolgt von Floyd. Er hatte kaum die Tür zugeschlagen, als der Fahrer Gas gab und wieder auf die Rue La Fayette ausscherte. Das plötzliche Manöver wurde von der Fahrzeugschlange mit einer Symphonie aus wütendem Gehupe begrüßt.

Custine drehte sich auf dem Beifahrersitz um, während der Fahrer, der nun als Michel erkennbar war, den Wagen auf die Rue Magenta lenkte.

»Es tut gut, dich wiederzusehen, Floyd«, sagte Custine herzlich. »Wir hatten uns schon Sorgen gemacht.«

»Schön zu wissen, dass man an mich denkt.«

Custine tippte sich an den Hut und blickte in Augers Richtung. »Das Gleiche gilt für Sie, Mademoiselle. Wie geht es Ihnen?«

»Man hat auf sie geschossen«, sagte Floyd. »Also lässt sich kaum behaupten, dass es ihr gut geht. Das einzige Problem ist, dass sie nicht zulässt, von mir in eine Klinik gebracht zu werden.«

»Ich nicht brauchen Klinik«, sagte Auger. »Ich nur brauchen Station von Zug.«

Custine sah Floyd an. »Liegt es an mir, oder hat sie perfektes Französisch gesprochen, als ich ihr das letzte Mal begegnet bin?«

»Sie hat sich am Kopf gestoßen.«

»Muss ein ziemlich schlimmer Stoß gewesen sein.«

»Das ist noch gar nichts. Du solltest dir anhören, was mit ihrem Englisch passiert ist.«

»Was ist mit dir passiert, Floyd?«, fragte Custine, dem zum ersten Mal Floyds Kopfverband auffiel. Sein Hut war im Keller des Fabrikgebäudes von Kaspar Metall zurückgeblieben.

»Mach dir um mich keine Sorgen. Wie geht es dir? Wie geht es Greta? Ist Marguerite noch …?«

»Mit Greta habe ich gestern gesprochen. Sie war – verständlicherweise – mehr als nur ein wenig aufgeregt über deine überstürzte Abreise.«

»Ich hatte keine Zeit für eine ausführliche Diskussion. Du warst dort. Du weißt, wie es war.«

»Ich bin mir sicher, dass sie dir verzeihen wird – irgendwann. Und was Marguerite betrifft … sie hält sich tapfer.« Custine zog sich den Hut über eine Seite des Gesichts, um sich unkenntlich zu machen, als ein Polizeiauto auf der gegenüberliegenden Fahrspur vorbeiraste. Er wartete, bis das Fahrzeug in eine Straße abgebogen war, bevor er sich wieder entspannte. »Aber wie es scheint, macht sich niemand Hoffnungen, dass sie diese Woche überstehen wird.«

»Arme Greta«, sagte Floyd. »Für sie muss es die Hölle sein.«

»All das ist nicht gerade hilfreich.« Custine warf Auger einen unbehaglichen Blick zu. Vielleicht fragte er sich, was zwischen ihnen vorgefallen war, während sie sich in Berlin aufgehalten hatten. »Sie wartet immer noch auf eine Antwort von dir«, sagte er vorsichtig. »Das kleine Dilemma hat sich während deiner Abwesenheit nicht in Luft aufgelöst.«

»Ich weiß«, sagte Floyd mit einem tiefen Seufzer.

»Früher oder später musst du eine Entscheidung treffen. Das bist du ihr schuldig.«

»Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen, solange wir in dieser Bredouille stecken«, sagte Floyd. »Dazu gehört, dass wir dir wieder eine saubere Weste verpassen. Es hätte nicht viel Sinn, dir das Detektivbüro anzuvertrauen, wenn du es aus dem Gefängnis führen müsstest, nicht wahr?«

Custine schüttelte den Kopf. »Gib es auf, Floyd. Sie werden immer wieder Mittel und Wege finden, um mich zur Strecke zu bringen. Ich kann bis Mitte der Woche aus Paris verschwunden sein. Ich habe Freunde in Toulouse … jemanden, der mich mit einer neuen Identität ausstatten kann.«

»Ich habe vorhin mit Maillol telefoniert. Er glaubt immer noch, dass er dir aus der Patsche helfen kann, wenn ich ihm einen Tatverdächtigen liefere.«

»Aus deinem Mund klingt es wie ein Kinderspiel.«

»Das wird es nicht sein. Aber bevor ich dir helfen kann, muss ich Mademoiselle Auger helfen.«

»Dann hör nicht auf sie und bring sie in eine Klinik.«

»Sie hat sich ziemlich klar geäußert, Custine. In dieser Métro-Station gibt es etwas, das ihr helfen kann. Deshalb müssen wir zum Bahnhof Cardinal Lemoine.«

»Wann hat man auf sie geschossen?«

»Gestern – vor knapp vierundzwanzig Stunden.«

»Dann ist sie mit hoher Wahrscheinlichkeit deliriös. In diesem Fall kann man den Äußerungen des Patienten nicht mehr vertrauen, Floyd.«

»Ich vertraue ihr. Sie hat seit der Verletzung dasselbe gesagt. Sie weiß, was für sie das Beste ist.«

»Wer ist sie?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Floyd. »Aber nach allem, was ich erlebt habe, hege ich ernste Zweifel an der Dakota-Geschichte.«

 

Custine und Michel setzten sie am Eingang zu Cardinal Lemoine ab, dann tauchten sie wieder im Verkehr unter. Es war neun Uhr morgens mitten in der Rushhour, sodass niemand darauf achtete, was Floyd oder Auger taten. Floyds Verletzung war für jeden offensichtlich, vor allem, nachdem er seinen Hut verloren hatte. Aber ein Mann mit einem Kopfverband erregte nur einen gewissen Grad von Aufmerksamkeit. Eine Streiterei in einer Kneipe, eine Auseinandersetzung mit einer Geliebten oder einem Rivalen … es gab unendlich viele Möglichkeiten und genauso viele Gründe, keine Fragen zu stellen. Was Augers Verletzungen betraf – Floyd hatte sie gesäubert, sterilisiert und mit Stoffstreifen aus seiner Jacke verbunden, bevor sie von Berlin aufgebrochen waren. Kurz vor der Ankunft des Zuges hatte er noch einmal dasselbe getan. Unter mehreren Schichten war der Verband nicht mehr auf den ersten Blick zu erkennen, und das Einzige, was einem Beobachter aufgefallen wäre, war eine Steifheit ihrer rechten Körperhälfte und eine gewisse Blässe des Gesichts. Floyd hakte ihren unversehrten Arm bei sich unter und führte sie mit dem Strom der Pendler in den gekachelten Bauch der Station.

Wenn die Kugel größeren Schaden angerichtet hätte, wäre sie inzwischen an den inneren Blutungen gestorben. Aber eine Sepsis wäre etwas anderes. Er war sich nicht ganz sicher, nach welcher Zeit sie einsetzte, aber er wusste, dass es ein sehr langsamer und unangenehmer Tod sein konnte.

»Ich hoffe, du irrst dich nicht, was das hier betrifft«, sagte er auf Englisch, den Mund dicht an ihr Ohr gepresst.

»Ich irre mich nicht. Vertrau mir bitte.«

»Gehe ich recht in der Annahme, dass es dort andere Menschen gibt, die dir helfen können?«

»Ja.«

»Und dass du dich lieber in ihre Obhut begibst als in die eines Krankenhauses?«

»Ja.«

»Ich brauche irgendeinen Beweis«, sagte Floyd. »Ich kann dich nicht einfach in den Tunnel spazieren lassen und das Beste hoffen.«

»Es tut mir Leid, aber genau das wirst du tun müssen.«

Er blieb auf der Treppe stehen und ließ die anderen Passagiere an ihnen vorbeigehen.

»Du sagst mir, wo ich dich später wiederfinde? Ich muss dich wiedersehen und mich vergewissern, dass es dir gut geht.«

»Es wird mir gut gehen, Floyd.«

»Trotzdem will ich dich wiedersehen.«

»Nur um dich zu vergewissern, dass es mir gut geht?«

»Nicht nur. Du weißt, was ich empfinde. Vielleicht irre ich mich, aber ich glaube, ich weiß, was auch du empfindest.«

»Mit uns kann es nichts werden«, sagte sie.

»Wir könnten es wenigstens versuchen.«

»Nein«, sagte sie mit Entschiedenheit. »Weil wir damit das Unvermeidliche nur hinausschieben würden. Es kann nicht funktionieren. Es kann niemals funktionieren.«

»Aber wenn du es wirklich willst …«

»Floyd, hör mir zu. Ich habe dich in Berlin nicht angelogen. Vielleicht liebe ich dich sogar. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass wir niemals zusammenkommen können.«

»Warum? So unterschiedlich sind wir doch gar nicht.«

»Wir sind unterschiedlicher, als dir klar ist. Inzwischen hast du dir vielleicht ein paar Dinge über mich zusammengereimt. Aber glaub mir, was immer du dir vorstellst, es entspricht nicht einmal annähernd der Wahrheit.«

»Dann sag mir die Wahrheit.«

»Das kann ich nicht. Ich kann dir nur sagen, dass wir niemals zusammen sein können, ganz gleich, was wir füreinander empfinden.«

»Hast du zu Hause jemand anderen?«

»Nein«, sagte sie etwas leiser. »Da ist wirklich niemand. Es gab einmal jemanden, aber mir war meine Arbeit viel zu wichtig, sodass ich ihn langsam aus meinem Leben hinausgedrängt habe. Aber in deinem Leben gibt es jemand anderen, Floyd.«

»Du meinst Greta? Tut mir Leid, aber zwischen uns läuft nichts mehr.«

»Sie ist hübsch und intelligent, Floyd. Wenn sie euch eine neue Chance geben will, solltest du sie unbedingt ergreifen.«

»Ihre Chance würde bedeuten, alles zurückzulassen, was mir in dieser Stadt etwas bedeutet.«

»Trotzdem klingt das für mich nach einem guten Angebot.«

»Du willst nur, dass ich dich ohne Reue vergesse.«

»Wäre das so unmenschlich von mir?«

»Ich kann nichts daran ändern, was ich für dich empfinde. Es ist Greta, die fortgehen will. Ich sehe selbst, dass sie hübsch und intelligent ist, aber sie gehört jetzt nicht mehr zu meinem Leben.«

»Schön blöd von dir.«

Auger entzog sich seinem Griff und stieg weiter die Treppe zum betriebsamen U-Bahnsteig hinunter. Floyd holte sie kurz darauf wieder ein und hakte ihren Arm wieder bei sich unter.

»Du hast meine Frage immer noch nicht beantwortet«, sagte er. »Werde ich dich wiedersehen, nachdem man dich wieder in Ordnung gebracht hat?«

»Nein«, sagte sie. »Du wirst mich nicht wiedersehen.«

»Ich werde alle Métro-Stationen von Paris beobachten. Irgendwann finde ich dich wieder.«

»Es tut mir Leid. Ich wünschte mir, ich könnte es auf andere Weise beenden, aber ich möchte dir keine falschen Hoffnungen machen. Das hast du nicht verdient.«

Ein Zug fuhr in den Bahnhof ein. »Auger«, sagte Floyd. »Du kannst dich nicht ewig in diesem Tunnel verstecken. Ich werde immer auf dich warten.«

»Tu es nicht, Floyd«, sagte sie. »Verschwende nicht den Rest deines Lebens, auf mich zu hoffen. Ich bin es nicht wert.«

»Nein«, sagte er. »Du täuschst dich. Du wirst es immer wert sein.«

Plötzlich griff eine Hand nach ihrem Ärmel und drehte sie von Floyd weg. Floyd blickte verdutzt auf und spürte, wie sein Arm von einer anderen Hand ergriffen wurde. Der Mann, der Auger festhielt, trug eine Melone und einen langen Regenmantel über einem Serge-Anzug. Ein anderer Mann in Zivil setzte Floyd fest.

»Inspektor Belliard«, sagte Floyd.

»Es freut mich, dass ich einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen habe«, sagte der junge Polizist, der Auger ergriffen hatte. »Wurden Sie jemals für den demolierten Briefbeschwerer entschädigt?«

»Ich hatte beschlossen, darauf verzichten zu können. Wer hat mich an Sie verraten? Maillol?«

Hinter ihnen wurde eine andere Stimme hörbar. »Ich habe sogar alles getan, um Ihnen zu helfen, Floyd. Bedauerlicherweise hatte ich nicht damit gerechnet, dass ich von meiner eigenen Abteilung abgehört werde. Unmittelbar nachdem Sie vom Gare du Nord angerufen haben, hat man Ihnen eine Einheit auf den Hals geschickt.«

Belliard sah Maillol mit strengem Blick an. »Ich habe Sie gewarnt, dass Sie uns auf keinen Fall folgen sollen. Und ich habe Sie gewarnt, sich aus dem Fall Blanchard herauszuhalten.«

»Floyd ist ein Nebenzeuge in meinem Fall«, sagte Maillol liebenswürdig. »Niemand kann mir das Recht streitig machen, ihn zu befragen.«

»Sie wissen, dass er Informationen über den Aufenthaltsort von André Custine zurückhält.«

»Ich interessiere mich nur für den Montrouge-Fall. Custine geht mich nichts an, wie Sie mir unmissverständlich klar gemacht haben.«

Belliard blaffte seinem Mann einen Befehl zu, dann knurrte er Maillol an. »Wir werden diese Diskussion im Quai fortsetzen, wo Sie erklären können, warum Sie versucht haben, eine Ermittlung des Kriminaldezernats zu sabotieren. In der Zwischenzeit wollen wir einen diskreteren Ort suchen, um uns mit diesen beiden auseinander zu setzen.«

Das war der Augenblick, in dem Auger aktiv wurde. Sie entwand sich Belliards Griff und rannte in die Menge der Passagiere auf dem Bahnsteig. Floyd verlor sie aus den Augen, kurz bevor sich die Türen der Waggons zischend schlossen. Belliard zog seine Waffe und seine Dienstmarke und stürmte zum Zug, während er den Leuten zubrüllte, dass sie ihm Platz machen sollten. Als er den Waggon erreichte, hämmerte er mit der Waffe gegen ein Fenster. Doch der Zug hatte sich bereits in Bewegung gesetzt und beschleunigte, bis der letzte Waggon im Tunnel verschwunden war.

Belliard wandte sich wieder an seinen Mitarbeiter. »Ich will, dass sämtliche Bahnhöfe dieser Linie abgeriegelt werden. Die Frau darf uns nicht entwischen.«

»Ich werde dafür sorgen, dass sie nicht weit kommt«, sagte der Mann, ließ Floyd los und näherte sich mit schnellen Schritten einem Angestellten der Métro.

»Sie wissen nicht einmal, wer sie ist«, sagte Floyd.

»Sie schien nicht bereit zu sein, mit uns zu sprechen«, entgegnete Belliard. »Das ist ein begründeter Anlass für einen Verdacht.«

»Und ich?«

»Sie decken einen Flüchtigen. Wie klingt das?«

Maillol redete eindringlich auf Floyd ein. »Damit können Sie nicht durchkommen. Man wird dieses amerikanische Mädchen finden, und man wird auch Custine finden. Machen Sie es für sich nicht schlimmer, als es bereits ist.«

Floyd blickte zu dem anderen Polizisten in Zivil hinüber, der immer noch in eine Diskussion mit dem Angestellten der Métro verwickelt war. Jetzt oder nie, dachte er, tauchte hinter Belliard und Maillol weg und verlor sich im nächsten Moment unter den wartenden Pendlern. Belliard rief etwas und setzte ihm nach. Floyd konnte seine Melone zwei oder drei Köpfe hinter sich erkennen. Er zog den Kopf ein und kämpfte sich weiter, ohne Rücksicht auf das Murren der Menschen um ihn herum zu nehmen.

»Floyd!«, hörte er Maillol rufen. »Tun Sie nichts Unvernünftiges!«

Ein weiterer Zug fuhr in die Station ein und noch mehr Menschen drängten auf den Bahnsteig. Die wogende, rempelnde Masse war genau das, was Floyd brauchte. Eine Lücke öffnete sich zwischen ihm und Belliard, und er zerrte die Pistole aus der Jackentasche hervor. Er hatte keine Ahnung, was er damit tun wollte, aber es fühlte sich besser an, sie in der Hand zu halten.

Er erreichte das Ende des Bahnsteigs und riskierte einen Blick über die Schulter. Belliards Melone war immer noch besorgniserregend nahe. Viel schlimmer war, dass auch der Polizist die Waffe gezogen hatte, die er in Kopfhöhe hielt, sodass der Lauf zur Decke gerichtet war.

Dann wurden die beiden Männer wieder durch die wimmelnden Passagiere voneinander abgeschirmt, von denen die meisten keine Ahnung vom Drama hatten, das sich hier abspielte. Diese Ablenkung verschaffte Floyd die Gelegenheit, sich an den Rand des Bahnsteigs zu stellen, während der Zug an ihm vorbeiraste und die Station verließ. Mit stählernem Dröhnen stürzte sich der letzte Waggon in den Tunnel. Floyd beobachtete, wie die roten Lichter kleiner wurden, und fragte sich, ob er den Mut aufbrachte, ihm zu folgen.

»Halt!«, rief Belliard.

Floyd drehte sich um, hob seine Pistole und richtete den Lauf genau auf den Polizisten. Maillol war ein paar Schritte hinter Belliard und schüttelte bestürzt den Kopf. Inzwischen waren die Pendler auf das Spektakel aufmerksam geworden und hatten sich aus der unmittelbaren Nähe der drei Männer zurückgezogen.

»Zurück!«, sagte Floyd. »Kehren Sie um und gehen Sie!«

»Sie können uns nicht entkommen«, sagte Belliard. »In ein paar Minuten haben meine Männer jeden möglichen Ausgang der Métro gesichert.«

»Dann wird es für Sie eben etwas interessanter, mich zu fangen.«

»Lassen Sie die Waffe fallen!«, versuchte Maillol an seine Vernunft zu appellieren.

»Ich sagte, Sie sollen gehen. Das gilt auch für Sie, Monsieur.« Floyd hob den Lauf und feuerte einen Schuss auf die Decke ab, um seinen Standpunkt zu unterstreichen. »Ich werde die Waffe benutzen, also zwingen Sie mich nicht dazu.«

»Sie sind ein toter Mann«, sagte Belliard. Aber er zog sich bereits zurück, während er die Hände erhoben hatte und seine Waffe nur noch an einem Finger hing.

»Dann sehen wir uns auf dem Friedhof wieder«, entgegnete Floyd.

Im nächsten Moment war er aufs Gleisbett gesprungen und tauchte in der Dunkelheit des Tunnels unter. Hinter ihm auf dem Bahnsteig hörte er aufgeregte Stimmen rufen. Jemand stieß schrille Pfiffe mit einer Trillerpfeife aus. Ein Zug fuhr in den Bahnhof ein und bremste, bis der erste Waggon kurz vor der Mündung des Tunnels zum Stehen kam. Mehrere Männer versammelten sich an der Spitze des Zuges auf dem Bahnsteig, manche von ihnen in Uniform. Einer ging in die Knie und leuchtete mit einer Taschenlampe in den Tunnel. Floyd drückte sich gegen die Wand, nur wenige Zentimeter außerhalb der Reichweite des Lichtstrahls.

Kurz darauf erloschen die Scheinwerfer des Zuges zu einem schwachen Glimmen.

Man hatte den Strom abgeschaltet.

Floyd lief los und drang in immer tiefere Finsternis vor. Steinchen knirschten unter seinen Füßen. Er tastete sich mit der linken Hand an der Wand entlang und hatte die rechte ausgestreckt. Bei jedem Schritt musste er gegen die Angst ankämpfen, plötzlich den Boden unter den Füßen zu verlieren. Irgendwo vor sich hörte er Schüsse. Hinter ihm wurde der Tunneleingang bereits durch bewegte Gestalten verdunkelt. Mehrere Lichtstrahlen durchschnitten das Schwarz wie die Suchscheinwerfer der Flugabwehr.

»Floyd!«, hörte er Maillol rufen. »Ergeben Sie sich, solange es noch geht!«

Floyd hastete tiefer in den Tunnel. Er wagte es nicht, Augers Namen zu rufen, während Belliard glaubte, dass sie mit dem vorletzten Zug entkommen war.

Von vorn hörte er wieder einen Schuss und einen kurzen Schrei, der kaum menschlich klang.

Dann konnte er sich nicht mehr zurückhalten. »Auger!«, rief er.

Vielleicht hatte er es sich nur eingebildet, aber er glaubte, seinen Namen als Antwort gehört zu haben. Seine rechte Hand schloss sich fester um die Pistole, und er zwang sich dazu, auf die Stelle zuzulaufen, von der er etwas gehört hatte, obwohl alle Muskeln seines Körpers zum Licht zurückkehren wollten – zurück in die Sicherheit, auch wenn ihm dort die Festnahme drohte. Vielleicht würde man ihn schonen, vor allem, wenn er die Waffe wegwarf. In seinem gegenwärtigen Zustand mit dem Kopfverband würde man ihn möglicherweise sogar freundlich und mit Verständnis behandeln. Er war einfach nur ein bisschen verwirrt, mehr nicht. Nach dem Schlag gegen den Kopf war er etwas desorientiert, das würden sie sicher verstehen. Er war wieder halbwegs zur Vernunft gekommen und hatte eingesehen, dass er nichts im Tunnel verloren hatte. Er würde sich beschämt für sein Verhalten entschuldigen. Das würden die Polizisten doch bestimmt genauso sehen!

»Floyd?«, zischte eine Stimme. »Floyd – bist du das?«

Ihre Stimme klang ziemlich schwach. Es war sogar schwer zu schätzen, wie weit sie entfernt war, auch vor dem Hintergrundlärm im Tunnel.

»Auger?«

»Sie sind hier, Floyd. Sie sind im Tunnel.«

Er wusste, dass sie nicht die Polizei meinte. Er lief schneller, bis er mit der Fußspitze etwas Weiches streifte. Obwohl er hätte ahnen müssen, was ihn erwartete, keuchte er überrascht auf. Er ging in die Knie, einen Fuß gegen eine Schiene gestützt. Er tastete nach der Gestalt, fand einen Arm, dann einen Hals und schließlich ein Gesicht.

»Ich bin müde«, sagte sie und lehnte sich mit dem Kopf gegen ihn. »Ich glaube nicht, dass ich es allein schaffen werde.«

»Ich habe einen Schuss gehört.«

»Es waren mehrere. Ich glaube, ich habe alle erwischt.« Sie hustete. »Du hättest mir nicht folgen dürfen. Ich wollte nicht, dass du hierher mitkommst.«

»Trennungen sind mir noch nie leicht gefallen.«

»Versuch meine Taschenlampe zu finden. Ich habe sie fallen gelassen, als ich angegriffen wurde. Sie muss irgendwo in der Nähe sein.«

Floyd tastete in der Dunkelheit herum und berührte die Schienen. Er betete, dass sie nicht plötzlich wieder unter Strom gesetzt wurden. Dann schlossen sich seine Finger um den geriffelten Stab der Taschenlampe. Er hob sie auf, schüttelte sie und fand den Schalter. Die Glühbirne leuchtete auf.

Er schaltete sie wieder aus. »Hab sie. Was jetzt?«

»Hilf mir auf. Es ist nicht mehr weit.«

Die Männer konnten nur noch fünfzehn oder zwanzig Meter hinter ihnen sein. Sie ließen sich Zeit und unterhielten sich leise, als würden sie etwas von der möglichen Gefahr spüren, die tiefer im Tunnel auf sie lauerte.

»Wie weit genau?«, fragte Floyd, der immer noch zögerte, mit ihr weiterzugehen.

»Ein paar Meter. In der Wand ist eine Holztür. Du wirst sie spüren. Bring mich durch die Tür. Dann schließe sie und sieh zu, dass du ganz schnell von hier verschwindest. Wenn ich auf der anderen Seite bin, kann ich mir selber helfen.«

Er stützte sie, während er sich an der Wand entlangbewegte. Die Stimmen und Lichter hinter ihnen kamen näher. Die Verfolger schienen neuen Mut gefasst zu haben. Floyds Augen gewöhnten sich immer mehr an die Dunkelheit, und nun erkannte er undeutliche fließende Formen. Er riskierte es, kurz die Taschenlampe einzuschalten, wobei er das Licht mit seinem Körper vor den Männern abschirmte. Der Strahl flammte auf und erlosch gleich wieder.

»Da«, sagte Auger. »Die Aussparung in der Wand. Hast du sie gesehen?«

»Ja.« Floyd blickte sich um. Die Stimmen klangen, als wären sie jetzt nur noch zehn Meter hinter ihnen.

»Drück sie auf. Schieb mich hindurch. Dann rette deine Haut.«

Floyd klemmte sich die Taschenlampe zwischen die Zähne. Er lehnte Auger gegen die Wand und warf sich mit der Schulter gegen die alte Holztür. Sie ging auf. Dann dirigierte er Auger in den Raum, der dahinter lag, wobei er darauf vertraute, dass sie wusste, was sie tat. Beinahe glaubte er selbst daran. Dann wurde er von der Tunnelwand weggerissen und auf das Gleisbett geworfen. Er spürte, wie seine Wirbelsäule schmerzhaft auf einer Schiene landete. Die Taschenlampe fiel ihm aus dem Mund – ein metallisches Scheppern und Klirren von Glas.

Er verlor auch die Pistole.

Floyd zwang seine Lungen, wieder einzuatmen. Der Strom war immer noch ausgeschaltet. Er ruderte mit den Armen und versuchte, von den Schienen herunterzukommen. Es hob sich kaum von der Dunkelheit ab, die ihn umgab, aber er konnte vage erkennen, dass ein Kind über ihm stand. Es stellte einen Fuß auf seinen Arm, um ihn daran zu hindern, an seine Pistole zu gelangen. Im Zwielicht konnte Floyd die dämonische Krümmung seines Lächelns, die eingefallenen Wangen und die toten Augenhöhlen ausmachen. Die Taschenlampen der Verfolger rissen das Kind aus der Dunkelheit und ließen es zur Statue erstarren. Es blickte genau in die Richtung, aus der die Männer kamen. Es zischte wie eine Schlange, und etwas blitzte in seiner rechten Hand auf.

Der Arm des Kindes bewegte sich und richtete die Mündung seiner kleinen Waffe auf den Suchtrupp. In einer kurzen Entladung feuerte es mehrere Geschosse ab.

Floyd hörte einen Mann vor Schmerz aufschreien, dann sauste eine Salve Gegenfeuer über sie hinweg. Das Kind wurde nicht getroffen. Es zielte erneut mit der Waffe und deckte die Männer mit schnellen Schüssen ein. Floyd hörte weitere Schmerzensschreie. Taschenlampen fielen zu Boden und erloschen.

Angestrengt ächzend gelang es ihm, den Arm unter dem Fuß des Kindes hervorzuziehen. Seine Finger streiften den Griff der Pistole, fassten nach und schafften es, die Waffe etwas näher heranzuziehen. Seine Hand schloss sich um den Kolben. Dann hob er die Pistole und stützte den Ellbogen mit der anderen Hand ab. Das Kind blickte auf ihn herab, und für einen kurzen Moment verwandelte sich der selbstgefällige Gesichtsausdruck in Verwirrung.

Floyd drückte den Abzug. Die Waffe klickte. Sonst geschah nichts.

Das Kind lächelte wieder. Es richtete seine Waffe auf Floyd, und die Finger schlangen sich wie blasse Aale um den Griff.

Dann ertönte der schrille Lärm einer weiteren Salve.

Das Kind wurde wie eine hängende Marionette durchgeschüttelt, als es von Kugeln durchsiebt wurde. Auger feuerte weiter und drückte den Auslöser so lange, bis die Waffe mit glühender Mündung verstummte. Die Überreste des Kindes, die zerrissene Kleidung und das zerfetzte Fleisch vermischten sich zu einer ununterscheidbaren Masse, die wie ein Stück Schlachtereiabfall auf den Tunnelboden klatschte.

Floyd rappelte sich auf und folgte Auger durch das Loch in der Wand.

»Hier musst du umkehren, Floyd. Du darfst mir nicht weiter folgen.«

»Glaubst du wirklich, dass ich auch nur einen Augenblick länger da draußen bleiben möchte? Die Polizisten werden davon ausgehen, dass ich es war, der auf sie geschossen hat.«

»Glaub mir, für dich wird die Sache besser ausgehen, wenn du versuchst, an ihre Vernunft zu appellieren.«

»Bevor ich dazu komme, haben sie mich längst abgeknallt«, sagte Floyd.

Sie stöhnte verzweifelt. »Wenn du mir folgst, wirst du den Boden unter den Füßen verlieren.«

»Das Risiko gehe ich ein.«

»Dann schließ die Tür, bevor die Männer kommen.«

Er tat es. »Glaubst du, sie haben gesehen, wohin wir verschwunden sind?«

»Ich weiß es nicht«, sagte sie. Ihre Stimme klang immer noch schwach, und ihr Atem ging keuchend und unregelmäßig. »Aber sie werden Nachforschungen anstellen, was mit uns geschehen ist. Jetzt werden sie jeden Quadratzentimeter des Tunnels absuchen. Und irgendwann werden sie diese Tür finden.«

»Ich hoffe, dass es hier irgendwo einen Hinterausgang gibt, falls das passiert.«

»Ich auch.«

Sie befanden sich in einem wesentlich engeren Tunnel, in dem es keine Gleise gab. Hier war zu wenig Platz für eine U-Bahn. Die Decke war so niedrig, dass Floyd nicht einmal aufrecht stehen konnte. Obwohl er sich duckte, stieß er immer wieder mit dem Kopf gegen die grob bearbeitete Decke. Auger führte ihn weiter und hielt gelegentlich an, um wieder zu Kräften zu kommen.

»Wir haben Glück gehabt«, sagte sie. »Die Kinder können sich in der Dunkelheit nicht mehr so gut orientieren. Ihre Sehfähigkeit lässt mit zunehmendem Alter nach.«

»Wie alt sind sie?«

»Sie sind seit mindestens dreiundzwanzig Jahren hier, vielleicht sogar schon länger, und mit jedem Tag werden sie schwächer.«

»Irgendwie habe ich das Gefühl, dass du jetzt bereit bist, mir die ganze Wahrheit zu sagen.«

»In wenigen Augenblicken wirst du all die Antworten haben, die du niemals wissen wolltest, Floyd.«