Zwei
Verity Auger begutachtete die unterirdische Szene aus der Sicherheit ihres Schutzanzugs. Sie stand etwa zwölf Meter vom bewegungsunfähigen Wrack des Kriechers entfernt. Die tarantelähnliche Maschine hatte schwere Schlagseite. Zwei Beine waren gebrochen und drei weitere unter der niedrigen ausgehöhlten Eisdecke verkeilt und völlig nutzlos. Der Kriecher würde sich nicht mehr von der Stelle bewegen. Es war nicht einmal möglich, ihn an die Oberfläche zurückzuschleppen – aber wenigstens war seine Lebenserhaltungsblase noch intakt. Cassandra, das Studentenmädchen, saß nach wie vor mit verschränkten Armen in der Kabine und beobachtete die Geschehnisse mit einer Art hochmütiger Distanz. Sebastian, der Junge, lag etwa fünf Meter vom Kriecher entfernt. Sein Anzug war beschädigt, aber er würde ihn immerhin so lange am Leben erhalten, bis das Rettungsteam eintraf.
»Halt durch da drin«, sprach Auger über den Anzugfunk zu ihm. »Sie brechen durch. Schon bald werden wir zu Hause im Trockenen sein.«
Das Knistern und Rauschen, die die Antwort des Jungen begleiteten, ließen ihn Millionen Lichtjahre entfernt erscheinen. »Mir geht es nicht besonders gut.«
»Was hast du?«
»Kopfschmerzen.«
»Halt einfach still. Die Anzugsiegel machen ihren Job bestens, solange du dich nicht bewegst.«
Auger trat einen Schritt zurück, als die Rettungskriecher vom Antiquitätenministerium über ihr auftauchten und das Eis mit kolbenbetriebenen Klauen und Hacken auseinander zwangen.
»Bist du das, Auger?«, erklang eine Stimme in ihrem Helm.
»Natürlich bin ich’s. Warum hast du so lange gebraucht? Ich dachte schon, ihr taucht gar nicht mehr auf.«
»Wir sind so schnell wie möglich gekommen.« Sie erkannte Mancusos Stimme, einen der Rettungshelfer, mit dem sie schon früher zu tun gehabt hatte. »Es war nicht einfach, euch so weit unten genau zu orten. Die Wolken haben sich heute Abend offenbar um irgendwas gestritten. Wir mussten durch eine Menge elektromagnetischen Scheiß durchgucken. Was genau machst du so weit unten?«
»Meine Arbeit«, antwortete Auger kurz angebunden.
»Ist der Junge verletzt?«
»Sein Anzug hat was abgekriegt.« Auf ihrem Visiermonitor sah sie nach wie vor die Diagnosezusammenfassung von Sebastians Anzug. Am rechten Ellbogengelenk pulsierten rote Schraffierungen, die Gefahr signalisierten. »Aber es ist nichts Ernstes. Ich habe ihm gesagt, dass er sich hinlegen und stillhalten soll, bis die Rettungsmannschaft eintrifft.«
Der vorderste Kriecher spie bereits zwei Rettungshelfer aus, die die etwas lächerlichen Anzüge der Einheiten für außerordentliche Gefahren trugen. Sie rückten mit den watschelnden Schritten von Sumoringern vor.
Auger bewegte sich zu Sebastian hinüber und ging neben ihm in die Hocke. »Sie sind da. Jetzt musst du nur noch stillhalten, dann bist du so gut wie in Sicherheit.«
Sebastian antwortete mit einem unverständlichen Gurgeln. Auger hob die Hand und winkte einen der beiden Helfer heran. »Das ist der Junge, Mancuso. Ich glaube, ihr solltet euch zuerst um ihn kümmern.«
»Das hatten wir ohnehin vor«, krähte eine weitere Stimme in ihrem Helm. »Tritt zurück, Auger.«
»Seid vorsichtig mit ihm«, warnte Auger. »Er hat einen bösen Riss am rechten …«
Mancuso stand in seinem Anzug über dem Jungen. »Ganz ruhig, Kleiner«, hörte sie ihn sagen. »Dich kriegen wir in null Komma nix wieder hin. Alles in Ordnung da drinnen?«
»Schmerzen«, hörte sie Sebastian keuchen.
»Ich denke, wir sollten uns lieber mit ihm beeilen«, sagte Mancuso und winkte den zweiten Rettungshelfer mit dem muskelbepackten Arm heran. »Wir können nicht riskieren, ihn zu bewegen, nicht bei dieser Partikeldichte.«
»Sollen wir ihn vor Ort behandeln?«
»Fangen wir an.«
Mancuso zeigte mit dem linken Arm auf den Jungen. Ein Spalt öffnete sich in der Rüstung, und eine Sprühdüse schob sich heraus. Sie verschoss eine silberweiße Masse, die sich beim Auftreffen sofort verhärtete. Innerhalb von Sekunden verwandelte sich Sebastian in einen menschenförmigen Kokon aus festen, speichelähnlichen Fäden.
»Seid vorsichtig mit ihm«, wiederholte Auger.
Dann machte sich ein zweites Team ans Werk und schnitt mit Lasern in den Eisblock, auf dem Sebastian lag. Dichter Dampf stieg auf. Dann und wann hielten sie kurz inne und gaben sich mit den Händen knappe Signale. Das erste Team kehrte mit einer Kombination aus Harnisch und Rolltrage zurück. Dünne Metallklauen senkten sich vom Schutzgestell herab und gruben sich ins Eis um Sebastian. Langsam hob die Trage die ganze eingesponnene Masse – auch das Eis unter Sebastian – vom Boden auf. Auger beobachtete, wie sie Sebastian fortschafften und ihn in die erste Rettungsmaschine verfrachteten.
»Es war nur ein Kratzer«, sagte Auger, als Mancuso zurückkehrte, um bei ihr nach dem Rechten zu sehen. »Ihr müsst nicht so tun, als sei es ein Notfall. Ihr erschreckt den Jungen ja zu Tode.«
»Dann hat er mal richtig was erlebt.«
»Für heute hat er genug erlebt.«
»Tja, man kann gar nicht vorsichtig genug sein. Hier unten ist jeder Unfall ein Notfall. Das solltest du mittlerweile eigentlich wissen, Auger.«
»Ihr solltet mal nach dem Mädchen sehen«, sagte Auger und zeigte auf den Kriecher.
»Ist sie verletzt?«
»Nein.«
»Dann hat sie keine Priorität. Jetzt wollen wir mal schauen, wofür du das Leben dieser Kinder aufs Spiel gesetzt hast.«
Mancuso meinte die Zeitung.
»Sie ist im Lagerfach des Kriechers«, sagte Auger und ging, gefolgt von Mancuso, zur verkeilten Maschine hinüber. An der Vorderseite des Kriechers, zwischen Greif- und Werkzeugarmen, war ein Netzbeutel und eine Klappe, hinter der sich eine unterteilte Ablage befand. Auger öffnete den manuellen Verschluss und zog die Ablage heraus. »Sieh selbst«, forderte sie ihn auf und zog die Zeitung sehr behutsam aus dem Fach.
»Junge!« Widerstrebend stieß Mancuso ein anerkennendes Pfeifen aus. »Wo hast du die gefunden?«
Sie zeigte auf einen eingesunkenen Bereich direkt vor der zerstörten Maschine. »Wir haben da unten ein Auto entdeckt.«
»War jemand drin?«
»Es war Leer. Wir haben das Sonnendach aufgerissen und die Greifarme des Kriechers benutzt, um die Zeitung vom Rücksitz zu bergen. Dabei mussten wir den Kriecher an der Decke abstützen, damit er nicht umkippte. Dummerweise war die Decke nicht besonders stabil.«
»Das liegt daran, dass diese Höhle noch nicht für Einsätze mit Menschen freigegeben ist«, erklärte Mancuso.
Auger wählte ihre Worte mit Bedacht. Ihr war klar, dass alles, was sie jetzt sagte, in den Berichten auftauchen konnte. »Es ist niemand zu Schaden gekommen. Wir haben einen Kriecher verloren, aber die geborgene Zeitung wiegt das mehr als auf.«
»Was ist mit dem Jungen passiert?«
»Er hat mir geholfen, den Kriecher zu stabilisieren, und sich dabei den Anzug aufgerissen. Ich habe ihm gesagt, dass er stillhalten und auf die Kavallerie warten soll.«
Sie legte die Zeitung ins Fach zurück. Die Buchstaben waren immer noch so gestochen scharf und lesbar wie zu dem Zeitpunkt, als sie das gute Stück aus dem Auto geholt hatte. Durch die Berührung der Zeitung – wobei das Papier leicht aufgewölbt wurde – war sogar eine der animierten Werbeanzeigen zum Leben erwacht: Ein Mädchen am Strand warf einen Ball in die Kamera.
»Ziemlich gut, Auger. Sieht so aus, als hättest du diesmal Schwein gehabt.«
»Hilf mir bitte, die Ablage rauszuholen«, sagte sie in der Annahme, dass man nicht versuchen würde, den ganzen Kriecher zu bergen.
Sie zogen die Probenablage heraus, trugen sie zum nächsten Rettungskriecher und schoben sie in ein leeres Fach.
»Und jetzt die Filmbänder«, sagte Mancuso.
Auger ging um das schief hängende Fahrzeug herum, öffnete ein paar Riegel und zog die schweren schwarzen Kassetten hervor. Der Einfachheit halber steckte sie sie zum leichteren Transport zusammen. Als sie alle zwölf eingesammelt hatte, auch die von der Kabinenüberwachung, gab sie das unhandliche Paket an Mancuso weiter.
»Das sind alle?«, fragte er.
»Das sind alle«, antwortete Auger. »Können wir uns jetzt um Cassandra kümmern?«
Doch als sie wieder zur schimmernden Kabine blickte, war das Mädchen nirgends zu sehen. »Cassandra?«, rief sie in der Hoffnung, dass die Funkverbindung zum Kriecher noch funktionierte.
»Alles klar«, antwortete das Mädchen. »Ich bin direkt hinter euch.«
Auger fuhr herum und sah Cassandra im zweiten kindergroßen Schutzanzug auf dem Eis stehen.
»Ich habe dir doch gesagt, dass du drinnen bleiben sollst«, sagte Auger.
»Es war Zeit, zu gehen«, erwiderte Cassandra. Soweit Auger erkennen konnte, hatte sie ihren Schutzanzug mit professioneller Sorgfalt angelegt. Auger war beeindruckt. Selbst für einen Erwachsenen war es nicht leicht, ohne fremde Hilfe in einen Schutzanzug zu steigen, ganz zu schweigen von einem Kind.
»Hast du darauf geachtet …?«, setzte Auger an.
»Mit dem Anzug ist alles in Ordnung. Ich denke, wir sollten allmählich verschwinden. Der ganze Aufruhr könnte die Furien aufgestört haben. Wir sollten nicht mehr hier sein, wenn sie eintreffen.«
Mancuso berührte Auger mit einem Krafthandschuh, der sie ohne Schwierigkeiten hätte zerquetschen können, an der Schulter. »Das Mädchen hat Recht. Lasst uns ganz schnell aus Paris verschwinden. In dieser Stadt läuft es mir jedes Mal kalt den Rücken runter.«
Auger spähte durchs Deckenbullauge des Rettungskriechers und wünschte sich, dass die roten und grünen Scheinwerfer des Trägerschiffes durch die Wolkendecke schnitten, während sie gleichzeitig hoffte, dass die Wolken selbst nicht noch aufgewühlter würden. Etwas stimmte in dieser Nacht wirklich nicht mit den Wolken. Normalerweise war ihre Sprache ruhig und gelassen, kommuniziert durch Veränderungen von Form, Farbe und Oberflächenstruktur. Dann nahmen zum Beispiel riesige, schaltkreisähnliche Strukturen aus scharfkantigem Blaugrau innerhalb vieler Minuten Gestalt an, stabilisierten sich nach und nach und verblassten langsam wieder. Zwanzig oder dreißig Minuten später kamen dann Anzeichen neuer Muster im teigigen Grau unstrukturierter Wolken zum Vorschein. Solche Bewegungen waren lediglich die Grundbausteine einer Unterhaltung, die Stunden oder Tage dauern konnte.
Aber derzeit lagen sich die Wolken in den Haaren. Muster bildeten sich und zerfielen rasch wieder, und Blitze versahen die Auseinandersetzung mit eindringlichen Ausrufungszeichen. Die Wolken rissen auseinander und verschmolzen, als würden uralte Bündnisse und Allianzen neu ausgehandelt.
»Das machen sie manchmal«, sagte Cassandra.
»Ich weiß«, antwortete Auger, »aber nicht während meiner Schicht, und nicht genau über der Stadt, die ich gerade untersuche.«
»Vielleicht geschieht es nicht nur über Paris«, sagte Cassandra.
»Das habe ich auch gehofft. Unglücklicherweise habe ich es überprüft. Es gibt einen ernsthaften Streit im Wettersystem, dessen Zentrum genau über Nordfrankreich liegt und der ungefähr zum Zeitpunkt unseres Eintreffens begonnen hat.«
»Zufall.«
»Oder auch nicht.«
Ein Blitz erhellte die Szene und schnitt mit der Präzision eines Laserstrahls einen langgezogenen Hindernisparcours aus Blöcken, Rampen und tiefen Schluchten mit glatten Rändern aus dem fahlblauen Eis. Auf beiden Seiten der Champs-Elysées waren die Umrisse eingestürzter Gebäude zu erkennen, überzogen von einer dünnen Glasur pastellfarbenen Eises, mit sauberen Stufen und Kanten an den Stellen, wo die ferngesteuerten Ausgrabungsmaschinen des Antiquitätenministeriums innegehalten hatten, weil sie auf brüchiges Mauerwerk, Stahl oder Glas gestoßen waren. Auger dachte an die Fahrzeugführer, die diese Maschinen aus dem Orbit steuerten, und verspürte das zunehmende Bedürfnis, ihnen Gesellschaft zu leisten, weit weg von den Gefahren des Erdbodens.
»Beeilt euch!«, drängte Auger mit gedämpfter Stimme. »Die Sache ist schon seit Stunden nicht mehr besonders lustig.«
»War eine einzelne Zeitung das wirklich wert?«, fragte Cassandra.
»Natürlich war sie es wert. Du weißt es auch. Zeitungen gehören zu den wertvollsten Artefakten des Leeren Jahrhunderts, die man überhaupt finden kann. Ganz besonders die Spätausgaben, die in den letzten paar Stunden, bevor alles geschah, noch auf den neuesten Stand gebracht wurden. Du glaubst gar nicht, wie wenige davon erhalten sind.«
Cassandra schob den Vorhang aus schwarzem Haar beiseite, der die Angewohnheit hatte, ihr vors linke Auge zu fallen. »Was spielt es für eine Rolle, wenn man ein paar Kleinigkeiten nicht weiß, solange man das große Ganze erkennen kann?«
Eine Bewegung weckte Augers Aufmerksamkeit. Durch das Deckenbullauge sah sie eine Schwadron aus Trägerschiffen, die sich auf Feuersäulen durch die Wolken herabsenkten.
»Weil wir dann vielleicht eine Chance haben, den gleichen Fehler nicht noch einmal zu machen.«
»Und der wäre?«
»Zum Beispiel die Erde zu ruinieren. Zu glauben, dass man ein technisches Chaos lösen kann, indem man noch mehr Technik draufschmeißt, obwohl bisher jeder entsprechende Versuch alles nur noch schlimmer gemacht hat.«
»Man müsste schon ein abergläubischer Fatalist sein, um zu sagen, dass wir es nicht trotzdem weiter versuchen sollten«, erwiderte Cassandra und verschränkte die Arme vor der Brust. »Außerdem kann es wohl kaum noch schlimmer kommen, als es ohnehin schon ist.«
»Benutz deine Phantasie, Mädchen«, entgegnete Auger. Sie spürte, wie der Rettungskriecher erzitterte, als die Schockwelle eines Trägerschiffes ihn umspülte. Helle Lichter tanzten durch die Kabine, gefolgt von einem Ruck, als die Bergungsklammer den Kriecher erfasste. Dann waren sie in der Luft, mitgerissen vom aufsteigenden Trägerschiff. Durch die Seitenfenster beobachtete Auger, wie die Champs-Elysées unter ihnen zurückfielen und bald darauf durch die eingestürzten Gebäude verborgen wurden. Jetzt konnte sie die Ringstraßen erkennen, unfähig, den Teil ihres Gehirns abzuschalten, der darauf bestand, ihre Namen aufzusagen. Die Haussmann im Norden, Marceau und Montaigne im Süden.
»Wie könnten wir es noch schlimmer machen?«, fragte Cassandra. »Da unten können keine Menschen mehr leben. Nichts kann dort leben, nicht mal Bakterien. Das ist doch schon das Schlimmstmögliche.«
»Heute haben wir gewonnen«, sagte Auger. »Wir kommen mit einem Stück Vergangenheit zurück, einem Fenster in die Geschichte. Aber dort unten gibt es eine Menge Dinge, die wir noch nicht gefunden haben. Wissenslücken, die darauf warten, geschlossen zu werden. Wir haben so viel vergessen, und es gibt so viel, das wir niemals wissen werden, wenn wir nicht die Wahrheit finden, die da unten im Eis eingeschlossen ist.«
»Das wird durch die Pläne der Kommunitäten nicht gefährdet.«
»Auf dem Papier nicht. Aber wir alle wissen doch, dass diese Pläne nur das Vorspiel sind. Erst wird mit den Furien aufgeräumt und das Klima stabilisiert, und dann können wir mit der eigentlichen Arbeit beginnen: Terraformung.« Das letzte Wort sprach sie mit tiefstem Abscheu aus.
Während die Wolken um den Rettungskriecher dichter wurden, erhaschte Auger einen kurzen Blick auf die Schlangenlinie der Seine – ein makelloser Streifen aus weißem Eis, hier und da mit abgesperrten Ausgrabungsstätten gesprenkelt. Weiter draußen konnte sie im gedämpften Licht der schwebenden Luftschiffe die unteren zwei Drittel des Eiffelturms erkennen, seitwärts geneigt wie ein Mensch, der sich gegen eine Sturmböe stemmte.
»Ist es ein Verbrechen, die Erde wieder bewohnbar machen zu wollen?«, fragte Cassandra.
»Meiner Meinung nach ja, weil wir das nämlich nicht tun können, ohne dort unten alles auszulöschen und damit alle Bande zur Vergangenheit zu zerschneiden. Das ist so, als würde man die Mona Lisa weiß übermalen, während nebenan eine unbenutzte Leinwand steht.«
»Du bist also dafür, stattdessen die Venus zu terraformen?«
Auger hätte sich am liebsten die Haare gerauft. »Nein, dafür bin ich auch nicht. Aber wenn ich eine Wahl treffen müsste …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, warum ich diese Diskussion ausgerechnet mit dir führe!«
»Warum nicht?«
»Weil du eine von uns bist, Cassandra – eine brave kleine Stokerin, eine brave kleine VENS-Bürgerin. Ich sollte dir so etwas nicht erklären müssen.«
Cassandra zuckte mädchenhaft die Achseln und deutete einen Schmollmund an. »Ich dachte, ein guter Streit wäre eine gesunde Sache«, gab sie zurück.
»Stimmt«, erwiderte Auger. »Aber nur, solange du meiner Meinung bist.«
Tanglewood hüllte die Erde in Licht wie ein leuchtender Trauerkranz. Das Trägerschiff bewegte sich vorsichtig, flog hierhin und dorthin, um den beweglichen Strängen auszuweichen, von denen jeder eine riesige Kette aus miteinander verbundenen, bewohnten Habitaten war. In allen Richtungen setzten sich zahllose Schlaufen, Fäden und Lichtknoten fort, die in der Ferne zu einem blass leuchtenden Gewirr von beinahe übelkeitserregender Komplexität verschmolzen. Jeder Masseschwerpunkt folgte seiner eigenen Umlaufbahn um die Erde.
Hunderttausende Habitate, jedes für sich genommen schon eine Kleinstadt. Mehrere hundert Millionen Menschen, machte Auger sich klar, und jeder einzelne führte sein Leben, das genauso kompliziert und problembeladen und voller Hoffnung war wie ihr eigenes. Zwischen den verschiedenen Teilen von Tanglewood herrschte ständiger Verkehr, überall glitten Lichtfunken von einem Strang zum anderen. Die Stränge aus verketteten Habitaten befanden sich in einem ständigen Prozess der Teilung und Wiedervereinigung, wie DNS-Moleküle in einer Petrischalenkultur.
Ihre Laune hellte sich auf, als sie spürte, wie das Trägerschiff zum Landeanflug abbremste. Direkt vor ihnen befanden sich, entlang der Naben aufgefädelt, die sechs gegeneinander rotierenden Ringe des Antiquitätenministeriums. Auger war überzeugt, dass die Nachricht von ihrem Fund bereits durch die üblichen akademischen Kanäle eilte, und bald würde man sie drängen, eine vorläufige Zusammenfassung des Inhalts der Zeitung zu veröffentlichen. Wenn sie in den nächsten vierundzwanzig Stunden Schlaf finden wollte, musste sie schon sehr viel Glück haben. Aber zumindest kam die Art von Arbeit auf sie zu, die sie gern machte, die gleichzeitig ermüdend und berauschend war. Am Ende würde sie einen Zustand erschöpfter Begeisterung erreicht haben. Und das war nur der Anfang einer weitaus langwierigeren detaillierten Analyse, in der sie feststellen würde, ob ihre ersten Ahnungen und Vermutungen einer Überprüfung standhielten.
Die Staffel der Trägerschiffe dockte am ersten Ring an und kam in einem großen Hangar mit niedriger Gravitation voller Schiffe und Ausrüstungsteile zur Ruhe. Mit einem nervösen Kribbeln im Bauch bemerkte Auger, dass eins der hier geparkten Raumschiffe ein Slasher-Modell war. Es handelte sich um ein schnittiges Design: langgestreckt und stromlinienförmig wie ein Tintenfisch mit angelegten Fangarmen und von derselben halb durchsichtigen Eleganz. Mechanismen und Beschriftungen schimmerten durch den kobaltblauen Glanz der Außenhülle. Umgeben von den robusten, aber schwerfälligen Maschinen aus Augers Kultur wirkte das Slasher-Schiff auf geradezu beleidigende Weise futuristisch. Was es in gewisser Weise auch war.
Auger konnte den Grund für ihr Unbehagen nicht genau bestimmen. Es war ungewöhnlich, ein Slasher-Schiff in Tanglewood zu sehen, vor allem in Anbetracht der zunehmenden Spannungen in den letzten Monaten. Aber trotzdem tauchte dann und wann eins auf, und wenn es zu einem diplomatischen Kontakt kam, war es meistens schlicht effizienter, Slasher-Schiffe zu benutzen.
Aber im Antiquitätenministerium? Das war zugegebenermaßen etwas ungewöhnlich.
Sie unterdrückte ihr Unbehagen und konzentrierte sich auf die unmittelbaren Notwendigkeiten. Während verschiedene aggressive Sterilisierungsprozeduren durchgeführt wurden – die Schiffe wurden von letzten möglichen Spuren einer Kontamination aus Paris befreit –, durchsuchte Auger den Rettungskriecher, bis sie einen Stift und einen Block mit Standard-Antiquitätenmeldebogen fand. Dann machte sie sich daran, ihre Stellungnahme zu den unterirdischen Ereignissen festzuhalten. Wie immer kam es darauf an, ein Gleichgewicht zwischen Regelmissachtung als Kavaliersdelikt und der professionellen Einstellung zu finden, dass manche Regeln dehnbarer waren als andere.
Als die Sterilisierungsprozedur beendet war, hatte sie ihren Bericht größtenteils fertig. Ein Luftschleusengang wurde ans Rettungsfahrzeug angeschlossen, und die Lichter um die Außenluke schalteten auf Grün, womit verkündet wurde, dass man nun gefahrlos aussteigen konnte. Die Rettungsmannschaft verließ das Fahrzeug zuerst – die Besatzungsmitglieder hatten es eilig, ihre Schicht zu beenden, damit sie mit ihren Kameraden trinken und abenteuerliche Geschichten austauschen konnten.
»Komm«, sagte sie und bedeutete Cassandra mit einem Wink, vor ihr auszusteigen.
»Nach dir«, antwortete das Mädchen.
Etwas an ihrem Tonfall war noch immer seltsam, aber Auger schob es auf ihre eigene Angespanntheit, die sich durch den Anblick des Slasher-Schiffs wieder verstärkt hatte. Sie zog sich durch die Luftschleuse und trieb mit geübten Bewegungen den Verbindungsschlauch entlang.
Am anderen Ende wurde sie von zwei Offiziellen empfangen, die beide graue Nadelstreifenanzüge trugen. Einen von ihnen erkannte sie als hochrangigen Manager namens August Da Silva. Er war eine kleine Person mit glattem Engelsgesicht und stets tadellos gekämmtem Haar, das von parfümiertem Wachs in Form gehalten wurde. Ihre Wege hatten sich bereits zuvor gekreuzt, als es um das Forschungsbudget und unbedeutende Verfahrensfehler auf Augers Seite gegangen war.
Da Silva legte großen Wert darauf, Auger und das Mädchen zu trennen. »Sie bitte hier entlang«, sagte er.
»Ich muss mich um Cassandra kümmern«, protestierte Auger.
Mit sanfter Gewalt drängte Da Silva sie in ein kleines fensterloses Wartezimmer. Hinter ihr wurde die Tür sofort verschlossen. Sie war allein, nur die gepolsterten Wände leisteten ihr Gesellschaft. Auger hämmerte an die Tür, aber niemand kam oder erklärte ihr, was hier vor sich ging. Eine halbe Stunde verstrich, dann eine ganze. Nach einer Weile kochte Auger vor hilfloser Wut. In Gedanken ging sie durch, was sie sagen und auf wen sie losgehen würde, wenn man sie endlich hier herausließ. So etwas war ihr noch nie passiert. Manchmal gab es Verzögerungen wegen Pannen bei der Sterilisierung, aber die Behörden waren unter solchen Umständen immer darauf bedacht gewesen, sie auf dem Laufenden zu halten.
Nach einer weiteren halben Stunde öffnete sich die Tür, und Da Silva schob den parfümierten Kopf durch den Spalt. »Zeit, in die Gänge zu kommen, Auger. Man erwartet Sie.«
Sie brachte ein trotzig spöttisches Lächeln zustande. »Wer, zum Teufel, ist man? Ist Ihnen nicht klar, dass ich zu tun habe?«
»Ihre Arbeit wird noch etwas warten müssen.«
Mürrisch folgte sie Da Silva aus dem Wartezimmer. Er roch nach Lavendel und Zimt. »Ich muss die Zeitung und die Filmbänder holen, damit ich anfangen kann, meinen Fund zu dokumentieren. Das ist wichtig – da draußen warten Tausende darauf, zu erfahren, was diese Zeitung uns mitzuteilen hat. Sie werden sich jetzt schon fragen, warum ich noch keine vorläufige Erklärung abgegeben habe.«
»Ich fürchte, ich kann Ihnen die Bänder nicht aushändigen«, erklärte Da Silva. »Sie sind bereits zur Sicherheitsüberprüfung geschickt worden.«
»Was reden Sie da? Das sind, verdammt nochmal, meine Daten!«
»Es sind keine Daten mehr«, widersprach da Silva. »Jetzt handelt es sich um Beweismittel zur Aufklärung eines Verbrechens. Der Junge ist gestorben.«
Der Schock traf sie wie ein Faustschlag in den Magen. »Nein!«, hauchte sie, als ob ihre Leugnung etwas daran ändern würde.
»Ich fürchte, es ist so.«
Ihre Stimme klang geisterhaft und weit entfernt. »Was ist geschehen?«
»In seinem Anzug war ein Loch. Die Furien haben ihn erwischt.«
Auger erinnerte sich, dass Sebastian über Kopfschmerzen geklagt hatte. Das mussten die winzigen Maschinen gewesen sein, die sein Gehirn überflutet hatten und sich dabei vermehrten und ihr Zerstörungswerk verrichteten.
Der Gedanke verursachte ihr Übelkeit.
»Aber wir haben den Furienzähler überprüft«, sagte sie. »Er stand bei null.«
»Ihre Detektoren waren nicht empfindlich genug für den neuesten mikroskopischen Stamm. Das wäre Ihnen bekannt gewesen, wenn Sie sich die Mühe gemacht hätten, regelmäßig die technischen Rundschreiben zu lesen. Sie hätten diese Möglichkeit mit einbeziehen müssen, als Sie beschlossen haben, nach draußen zu gehen.«
»Aber er kann unmöglich tot sein.«
»Er starb während des Fluges.« Da Silva erwiderte ihren Blick. Vielleicht fragte er sich, wie viel er ihr sagen durfte. »Vollständiger Hirnstammtod.«
»Mein Gott!« Sie holte tief Luft und versuchte, klar zu denken. »Hat es schon jemand seiner …«
»Seiner Familie mitgeteilt? Man hat seinen Angehörigen gesagt, dass es einen Zwischenfall gegeben hat. Sie sind bereits auf dem Weg hierher. Man hofft, dass der Junge zumindest halbwegs in einen Bewusstseinszustand versetzt werden kann, bevor sie eintreffen.«
Offenbar spielte Da Silva mit ihr. »Sie haben gesagt, dass er gestorben ist.«
»Das ist er auch. Glücklicherweise konnte man ihn zurückholen.«
»Mit einem Kopf voller Furien?«
»Man hat ihn mit UR voll gepumpt und die Furien mit dieser wundertätigen Slasher-Medizin rausgespült. Im Moment liegt der Junge noch im Koma. Möglicherweise sind wichtige Teile seines Gehirns irreparabel beschädigt, aber das werden wir erst in ein paar Tagen wissen.«
»Das kann doch alles nicht wahr sein!«, sagte Auger. Sie kam sich vor, als würde sie bei diesem Gespräch nur zuschauen. »Es war nur ein Exkursion. Niemand hätte sterben sollen.«
»Jetzt lässt sich das leicht sagen.« Er beugte sich zu ihr hinüber, sodass sie seinen Atem riechen konnte. »Glauben Sie ernsthaft, dass wir so etwas deckeln können? Wir haben jetzt schon das Übertretungsministerium im Nacken. In letzter Zeit hat es eine Menge übler Missgeschicke unten auf der Erde gegeben, und es heißt, dass man es langsam für angebracht hält, ein Exempel zu statuieren, bevor jemand eine echte Dummheit begeht.«
»Das mit dem Jungen tut mir Leid«, sagte Auger.
»Ist das ein Schuldeingeständnis, Auger? Wenn ja, würde es die Angelegenheit insgesamt sehr viel einfacher machen.«
»Nein«, antwortete sie stockend. »Das ist überhaupt kein Eingeständnis von irgendwas. Ich sage nur, dass es mir Leid tut. Hören Sie – kann ich mit den Eltern reden?«
»Auger, im Moment dürften Sie der letzte Mensch im Sonnensystem sein, mit dem seine Eltern reden wollen.«
»Ich will sie nur wissen lassen, dass es mir nicht egal ist.«
»Das hätten Sie sich überlegen sollen, bevor Sie für ein einziges wertloses Artefakt alles riskiert haben«, sagte Da Silva.
»Das Artefakt ist nicht wertlos«, gab sie schroff zurück. »Ganz gleich, was da unten passiert ist, es war das Risiko in jedem Fall wert. Jeder, der sich mit Antiquitäten auskennt, würde Ihnen das Gleiche sagen.«
»Soll ich ihnen die Zeitung zeigen, Auger? Würde ihnen das gefallen?«
Da Silva hatte sie in seine Jackentasche gestopft. Er zog sie heraus und überreichte sie Auger. Sie nahm sie mit zitternden Fingern entgegen und spürte, wie all ihre Hoffnung in einem einzigen Augenblick vernichteter Enttäuschung verpuffte. Die Zeitung war – genauso wie der Junge – gestorben. Die Druckerschwärze war verwischt, Zeilen rannen ineinander wie Zuckergussmuster auf einem Kuchen. Sie war bereits jetzt völlig unleserlich. Die Illustrationen und Werbeanzeigen waren erstarrt, ihre Farben so sehr ineinander verlaufen, dass sie wie Kleckse abstrakter Kunst aussahen. Der kleine Motor, der das intelligente Papier mit Energie versorgte, musste auf der letzten Reserve gelaufen sein, als sie die Zeitung aus dem Auto geholt hatte.
Sie gab ihm das nutzlose Ding zurück, das all ihre Anstrengungen verhöhnte.
»Ich scheine in Schwierigkeiten zu stecken, nicht wahr?«