Fünfzehn

 

 

Als Floyd die Tür zu seinem Büro in der Rue de Dragon aufschloss, klingelte bereits das Telefon. Er nahm mit der bangen Vorahnung ab, dass es Custine sein würde, während er gleichzeitig hoffte, dass sein Partner klug genug war, ihn nicht unter einer Nummer anzurufen, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vom Quai überwacht wurde.

»Hallo?«, meldete er sich und nahm am Schreibtisch Platz.

»Ist da das Detektivbüro Floyd?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung gehörte einer französisch sprechenden Frau mit einem Akzent, den er nicht zuordnen konnte. »Mein Name ist Verity Auger. Ich rufe wegen meiner Schwester an.«

Floyd setzte sich auf, riss ein leeres Blatt von einem Notizblock und kratzte mit seinem Füller darauf herum, bis Tinte herausschoss. »Ihre Schwester?«, fragte er.

»Susan White. Ich glaube, Sie untersuchen den Mord an ihr.«

»Das tue ich allerdings«, antwortete Floyd. »Sie können auch Englisch sprechen, wenn Ihnen das leichter fällt. Ihr Französisch klingt in meinen Ohren ziemlich gut, aber da wir beide Amerikaner sind …«

»Ich hatte schon angenommen, dass Sie Amerikaner sind«, sagte sie auf Englisch, »aber es erschien mir unhöflich, einfach davon auszugehen.«

»Wie haben Sie von mir erfahren?«

»Ich war in der Menge auf der Rue des Peupliers, als Sie Ihre Visitenkarten verteilt haben. Dort hatte ich auch schon mit ein paar Mietern gesprochen, und die haben erwähnt, dass Sie Fragen über Susan gestellt hätten. Ich hätte vielleicht gleich dort mit Ihnen reden sollen, aber es geht um eine delikate Angelegenheit, und ich wollte nicht vor all den Leuten darüber sprechen.«

»Und um was für eine delikate Angelegenheit handelt es sich?«

»Um die Hinterlassenschaft meiner Schwester. Ich habe gehört, dass der bedauernswerte Mister Blanchard sie Ihnen überlassen hat, bevor er …«

»Ich habe sie«, sagte Floyd. »Es ist nur eine Dose mit Papierkram drin. Sie können sie gerne abholen. Sie haben meine Adresse auf der Visitenkarte, nicht wahr?«

»Ja, Rue de Dragon.«

»Brauchen Sie eine Wegbeschreibung?«

»Nein, ich finde mich schon zurecht. Ich könnte in einer Stunde da sein. Wäre das in Ordnung? Oder etwas später, wenn Ihnen das besser passt.«

Floyd wollte gerade zustimmen, sich in einer Stunde mit ihr zu treffen, aber dann hielt etwas ihn zurück. Er würde ihr die Dose geben, aber er wollte auch herausfinden, was sie damit machen würde, wenn sie sein Büro verließ. Ohne Custine konnte es kompliziert werden, sie zu beschatten. Selbst wenn sich Greta schnell dazu bewegen ließ, aus Montparnasse herüberzukommen, würde sie es kaum allein schaffen.

Noch während er zögerte, nahm ein Plan in seinem Kopf Gestalt an – allerdings keiner, den er innerhalb von einer Stunde in die Tat umsetzen konnte.

»Hören Sie«, sagte er schnell, bevor sie Verdacht schöpfte, »heute ist es ein wenig ungünstig. Ich muss noch wegen eines anderen Falls aus dem Büro.«

»Sie sind ein beschäftigter Mann, Mister Floyd.«

Er konnte nicht feststellen, ob sie sich über ihn lustig machte oder beeindruckt war. »Nichts besonders Aufregendes. Es wäre einfach nur günstiger, wenn wir uns gleich morgen Früh treffen könnten.«

»Überhaupt kein Problem.«

»Also um neun.«

»Bis dann, Mister Floyd.« Sie legte auf.

Floyd legte ebenfalls auf und starrte das bekleckste Blatt Papier an, auf das er kein einziges Wort geschrieben hatte. Dann blätterte er im Telefonbuch, bis er die Nummer von Maurice Didot, dem Aufzugtechniker, fand.

»Das Ding ist doch nicht etwa schon wieder kaputt, Monsieur Floyd!«

»Nicht direkt«, antwortete Floyd, »aber ich dachte mir, dass Sie vielleicht eine Kleinigkeit für mich arrangieren könnten.«

»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.«

»Können Sie morgen Früh um halb neun hier sein?«

»Halb neun? Morgen ist Samstag.«

»Ich werde Ihnen alles erklären«, versicherte Floyd. »Und ich werde dafür sorgen, dass es sich für Sie lohnt.«

 

Eine Stunde später fand er Greta in ihrer Küche in Montparnasse, wo sie in einer Filmzeitschrift blätterte und gerade die letzten Züge von einer Zigarette nahm. Auf dem Umschlagbild war ein Pressefoto aus dem neuesten düsteren Kriminalfilm zu sehen. Sie blickte auf und sah ihn aus müden Augen mit verschmiertem Make-up an.

»Ich habe nicht so schnell mit dir gerechnet.«

Floyd schloss die Tür hinter sich. »Der Fall hat eine neue Wendung genommen. Eine ziemlich ernste.«

»Setz dich.« Sie schlug das Magazin zu und schob es über den Tisch zur Seite.

»Es geht um Custine.«

»Was ist mit ihm?«

»Er ist auf der Flucht.«

»Das ist doch hoffentlich nicht irgendein …«

»Hört es sich vielleicht an, als ob ich Witze mache?«, unterbrach er sie scharf. »Monsieur Blanchard ist tot.«

»Monsieur wer?«

»Der Vermieter aus der Rue des Peupliers – der Mann, dem Susan White die Dose mit den Papieren anvertraut hat. Der Mann, der Custine und mich engagiert hat, um zu beweisen, dass sie ermordet wurde. Man hat ihn heute Morgen tot auf dem Bürgersteig gefunden.« Floyd zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch.

»Nein«, sagte sie leise.

»Doch. Und Custine war zur Tatzeit zufällig im Haus, um Untersuchungen anzustellen.«

»Du glaubst doch nicht, dass er irgendwas damit zu tun hatte!«

Floyd vergrub das Gesicht in den Handflächen. »Ich möchte glauben, dass es so ist. Alles, was ich über ihn zu wissen meine, sagt mir, dass er dazu nicht fähig wäre.«

»Na also.«

»Aber er sollte mit dem Vermieter über die Möglichkeit reden, dass er Susan White ermordet haben könnte. Nicht, indem er ihn direkt fragt … er sollte ihn nur ein bisschen prüfen, um diese Möglichkeit auszuschließen.«

»Habt ihr wirklich geglaubt …?«

»Wir mussten uns irgendwie vergewissern. Nur weil er uns wie ein netter alter Herr mit einer plausiblen Geschichte vorkam …«

»Aber du hast doch erzählt, dass die Polizei gar nicht daran interessiert war, den Tod dieses Mädchens zu untersuchen. Warum hätte der alte Mann riskieren sollen, den Verdacht auf sich zu lenken?«

»Custine und ich haben uns gefragt, ob er vielleicht erwischt werden wollte. Wenn er getötet hat, um Aufmerksamkeit zu erregen, und keine bekommen hat, wäre es für ihn nur logisch gewesen, uns einzustellen.«

»In eurem Beruf habt ihr wirklich eine sehr unschöne, misstrauische Art.«

»Es war nur eine Hypothese«, verteidigte sich Floyd. »Der Punkt ist, dass ich Custine erlaubt habe, Blanchard unter Druck zu setzen. Und ein paar Stunden später findet man Blanchard mit dem Gesicht nach unten auf dem Bürgersteig liegend.«

»Glaubst du, dass Custine vielleicht zu tief gebohrt hat?«

»Wir reden hier von einem Mann, der am Quai regelmäßig Verhöre durchgeführt hat und der darauf spezialisiert war, Angst und Schmerzen einzusetzen, um Ergebnisse zu erhalten.«

»Jemand hat dir Zweifel eingeredet.«

Floyd blickte sie zwischen seinen Fingern hindurch an. »Heute habe ich etwas über Custine erfahren, was ich noch nicht wusste.«

»Lass mich raten. Einer von seinen früheren Kollegen hat ein Wörtchen mit dir geredet, nicht wahr?«

»Er hat gesagt, dass ein Unschuldiger in Custines Gewahrsam gestorben ist. Bei einer Befragung.«

»Glaubst du es?«

»Ich habe keinen Grund, es nicht zu glauben.«

»Custine ist dein Freund, Floyd.«

»Ich weiß, und ich komme mir schon schäbig vor, weil ich auch nur daran denke, dass er etwas mit Blanchards Tod zu tun haben könnte. Aber so funktioniert mein Verstand nun mal.«

»Gab es Zeugen?«

»Custine wurde gesehen, wie er vom Tatort flüchtete. Das kann gewesen sein, bevor Blanchard stürzte oder danach. Und jemand hat einen seltsamen kleinen Jungen gesehen.«

»Und das soll etwas zu bedeuten haben?«

»Seltsame kleine Kinder tauchen bei diesem Fall mit der Regelmäßigkeit von falschen Fünfzigern auf.«

»Du glaubst, dass ein Kind es getan haben könnte?«

»Ich glaube, dass vielleicht ein Kind darin verwickelt ist, aber ich wüsste nicht, wie und warum.«

Greta drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus und trommelte mit kohlschwarzen Fingernägeln auf den Rand.

»Vergiss die Kinder mal für einen Augenblick. Hattest du Kontakt zu Custine?«

»Nicht persönlich, aber er hat mir eine Nachricht im Büro hinterlassen. Er muss direkt dorthin gegangen sein, als ihm klar geworden ist, in welchen Schwierigkeiten er steckt.« Floyd lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lüftete das Hemd vor seiner Brust. Es war schweißnass, als wäre er an einem heißen Sommertag gerannt. Er zwang seine Stimme, zumindest so etwas wie den Anschein von Ruhe zu vermitteln, als er sagte: »Mir blieb gerade genug Zeit, den Brief zu lesen, bevor einer der Jungs aus dem Großen Haus mir einen Besuch abgestattet hat – ein ausgesprochen liebenswürdiger Kerl namens Belliard mit zwei Handlangern im Schlepptau.«

»Von dem habe ich noch nie gehört.«

»Dann hoffe, dass du auch weiterhin nie von ihm hören wirst. Er hat Custine ganz schön auf dem Kieker, und ich glaube, er würde mich gerne mitreißen, wenn er ihn zugrunde richtet.«

»Was hat er gesagt?«

»Er wollte wissen, ob ich Kontakt zu Custine hatte. Ich habe natürlich gelogen, aber sie wissen, dass Custine früher oder später Verbindung mit mir aufnehmen wird.«

Sie musterte ihn lange und eindringlich, bevor sie die nächste Frage stellte. »Und was will Custine von dir?«

»Nichts. Er schreibt, dass er selbst auf sich aufpassen kann.«

»Aber er ist dein Freund«, sagte sie. »Und auch mein Freund. Wir müssen ihm helfen.«

Floyd musterte ihr Gesicht und versuchte, ihre Stimmung zu erahnen. »Wie geht es Marguerite?«

»Willst du das wirklich wissen, oder geht es dir nur darum, das Thema zu wechseln?«

»Ich will es wirklich wissen«, antwortete er. »Glaubst du, die Lage in Paris wird so schlimm, wie sie denkt?«

»Sie wird offensichtlich nicht unbedingt besser.«

»Maillol hat mehr oder weniger das Gleiche gesagt, als ich ihm in Blanchards Haus begegnet bin. Es macht einem Angst, dass so eine Veränderung sich unbemerkt anschleichen kann.«

»Ich wette, dass die Leute vor zwanzig Jahren das Gleiche gesagt haben.«

»Denkst du dabei an das, was Marguerite gemeint hat, als sie sagte, dass das Unkraut zurückkommt?«

»Ja«, antwortete sie.

»Vielleicht hat sie Recht. Vielleicht braucht man die Perspektive eines alten Menschen, um die Dinge so klar zu erkennen.«

»Ein Grund mehr, von hier zu verschwinden«, sagte Greta.

»Es sei denn, die Leute unternehmen hier und jetzt etwas dagegen, bevor es zu spät ist.«

»Leute wie du, Floyd?« Sie konnte ihre Amüsiertheit kaum verbergen.

»Leute wie wir«, gab er zurück.

»Du hast noch mehr zu erzählen, nicht wahr?«

»Ja. Ich habe etwas von Susan Whites Schwester gehört. Sie hat im Büro angerufen, kurz bevor ich hergefahren bin.«

»Heute ist anscheinend der Tag der großen Fortschritte. Was wollte sie?«

»Die Dose.«

»Wirst du sie ihr geben?«

»Ich will, dass sie sie bekommt. Aber ich will sie auch beschatten, wenn sie das Büro verlässt. Dafür werde ich ein bisschen Hilfe brauchen.«

»Ich verstehe.«

»Wirst du es tun? Wenn nicht für mich, dann für Custine?«

»Übertreib es nicht, Floyd.«

»Ich meine es ernst. Maillol sagt, dass er Custine aus der Patsche helfen kann, wenn ich etwas Handfestes vorlege.«

»Was zum Beispiel?«

»Einen anderen Verdächtigen. Ich weiß, dass es ziemlich unwahrscheinlich klingt, aber das Mädchen ist meine einzige Spur. Wenn ich ihr nicht folge, ist Custine am Ende.«

 

Floyd und Greta traten durch die Schwingtür ins Le Perroquet Pourpre und gingen an der Reihe gerahmter Jazzfotografien vorbei die Kellertreppe hinab. Am Freitagabend um acht waren bereits ein paar Stammgäste eingetroffen, aber ansonsten war es ruhig, und die meisten Tische waren noch unbesetzt. Ein junger Kerl in gestreiftem Hemd spielte ohne Begleitung auf dem hauseigenen Klavier »East St Louis Toodle-Oo«, wobei er sich ohne allzu viel Erfolg bemühte, Dukes trickreichen Stil nachzuahmen. Michel nickte Floyd und Greta unverbindlich zu, stellte ihnen wortlos Drinks hin und machte sich dann wieder daran, die verzinkte Theke zu polieren. Gelegentlich schaute er mit einem Auge zur Tür am oberen Ende der Treppe, als würde er jemand Bestimmten erwarten.

Floyd und Greta nippten schweigend an ihren Drinks. Fünf Minuten vergingen, dann zehn.

»Du weißt, warum wir hier sind«, sagte Floyd schließlich.

Michel hörte mit dem Polieren auf und legte demonstrativ das Küchentuch beiseite. »Seid ihr auf direktem Wege hergekommen?«

»Uns ist niemand gefolgt«, beteuerte Floyd.

»Bist du dir sicher?«

»So sicher, wie ich nur sein kann.«

»Das heißt nicht viel.«

»Mehr kann ich dir nicht anbieten. Du weißt, wo er ist, nicht wahr?«

Michel nahm ihre leeren Gläser. »Folgt mir.«

Er öffnete das Klappstück am Ende der Theke und führte sie in ein Hinterzimmer voller Fässer und leerer Weinflaschen. Eine weitere Tür führte sie in einen gewundenen, gemauerten Gang, in dem hölzerne Bierfässer standen. Auf halbem Wege blieb Michel vor einer unbeschrifteten weißen Tür stehen und fischte einen Schlüsselbund aus der Tasche. Er öffnete die Tür und trat in einen weiteren Lagerraum, in dem ebenfalls Fässer gestapelt waren. Sie schienen den Raum bis zur Rückwand auszufüllen, aber als Floyd genauer hinsah, fiel ihm auf, dass die Fässer so platziert waren, dass sie eine weitere Tür verbargen.

»Dahinter«, sagte Michel. »Macht schnell und seid leise. Nichts gegen dich, Floyd, aber ich gehe hier ein ernsthaftes Risiko ein.«

»Das weiß ich sehr zu schätzen«, versicherte Floyd.

Die versteckte Tür führte sie in einen Raum, der kaum größer war als eine Besenkammer. Die Wände waren mit bröckelndem Putz bedeckt, der große Flecken feuchten, mürben Mauerwerks enthüllte. Eine einzelne Glühbirne sorgte für Licht. Eine Matratze auf dem Boden war der einzige Einrichtungsgegenstand. Auf dieser Matratze, den Rücken an die mit nur ein paar dünnen Kissen gepolsterte Wand gelehnt, saß Custine. Neben ihm lag ein Beutel mit Nahrungsmitteln. Er trug die Kleidung, die er am fraglichen Morgen angehabt hatte, nur dass sie jetzt zerknittert, schweißfleckig und so sehr in Unordnung war, als hätte er sie schon eine Woche lang getragen.

Custine legte einen Zeitungsfetzen beiseite, in dem er gelesen hatte. »Missversteht es nicht als Undankbarkeit«, sagte er, »aber wie habt ihr mich gefunden?«

»Wir haben gut geraten«, antwortete Floyd.

»Beziehungsweise eine logische Schlussfolgerung gezogen«, sagte Greta. »Wie viele Freunde haben wir noch in dieser Stadt?«

»Nicht viele«, gab Custine zu.

»Es war also nicht allzu schwer, eine kleine Liste aufzustellen. Michel stand ziemlich weit oben.«

»Er ist wirklich sehr anständig von ihm, mich zu verstecken«, sagte Custine. »Aber ich kann hier nicht lange bleiben. Es ist zu gefährlich für ihn und zu gefährlich für mich. Ich nehme an, niemand ist euch …«

»Gefolgt? Nein«, sagte Floyd.

»Ich stecke in großen Schwierigkeiten.«

»Dann liegt es an uns, alles zu tun, um dich rauszuholen«, sagte Greta.

»Aber vorher müssen wir wissen, was passiert ist«, fügte Floyd hinzu. »Und zwar alles, André, von dem Augenblick an, als ich dich heute Morgen in der Rue des Peupliers abgesetzt habe.«

»Hast du meinen Brief bekommen?«

»Natürlich.«

»Dann weißt du über die Schreibmaschine Bescheid.«

»Die Verschlüsselungsmaschine? Ja. Was ich allerdings nicht ganz begreife …«

»Wir haben sie beim Quai benutzt«, erklärte Custine. »Als sicheres Kommunikationsmittel zwischen verschiedenen Einrichtungen, wenn wir versucht haben, das organisierte Verbrechen bei großen Aktionen zu erwischen. Ich rede von den Leuten, die unsere Telefonleitungen angezapft haben. Als Blanchard uns den Schreibmaschinenkoffer gezeigt hat – oder das, was er dafür gehalten hat – wusste ich, dass ich so etwas schon einmal gesehen hatte. Ich musste mich nur wieder erinnern, wann und wo.«

»Ich bin froh, dass es dir eingefallen ist«, sagte Floyd. »Das hat ein paar Dinge geklärt.«

»Sie war eine Spionin.«

»Da stimme ich dir zu.«

»Und sie ist nicht allein vorgegangen. Nicht, wenn es immer noch jemanden gibt, der codierte Mitteilungen sendet. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hat sie Helfer in der Nähe.«

»Genau genommen wird einer dieser Helfer sogar morgen früh um neun ins Büro kommen«, sagte Floyd.

Custines Augen weiteten sich. »Die Schwester?«

»Sie ist aufgetaucht, genau, wie Blanchard gesagt hat.«

»Seid bitte sehr, sehr vorsichtig«, ermahnte Custine ihn.

»Ich habe die Sache im Griff. Jetzt würde ich gerne deine Version der Geschichte hören. Was, zum Teufel, ist heute passiert?«

Custine setzte sich auf der Matratze zurecht. »Ich habe im zweiten Stock mit meinen Ermittlungen begonnen, bei dem Mieter, den du gestern nicht angetroffen hast. Er war immer noch nicht zu Hause, also bin ich in Mademoiselle Whites Zimmer gegangen und habe erneut versucht, die Radioübertragungen aufzuzeichnen.«

»Hast du etwas erreicht?«

»Ja – und diesmal hatte ich ein Morsebuch dabei. Aber als ich die Nachricht übersetzt habe, musste ich feststellen, dass sie keinen Sinn ergab – eine willkürliche Buchstabenreihe. Ich habe sie angestarrt und angestarrt, bis mir etwas daran merkwürdig vertraut vorkam. Und dann fiel mir die Enigma-Maschine am Quai ein. In dem Moment wurde mir klar: Es hätte überhaupt keinen Sinn, irgendwelche Informationen aus der Nachricht ziehen zu wollen. Selbst, wenn wir uns eine Enigma-Maschine des Typs, den Susan White benutzt hat, besorgen könnten, hätten wir immer noch nicht den leisesten Schimmer, welche Einstellungen wir vornehmen müssten, um die Nachricht zu entziffern.«

Floyd kratzte sich am Kopf. »Wie lange würde man brauchen, um alle Möglichkeiten durchzuprobieren?«

Custine schüttelte den Kopf. »Jahre, Floyd. Man soll die Verschlüsselung nicht so einfach knacken können. Darum geht es ja.«

»Also war die ganze Sache mit dem Radio völlig sinnlos?«

»Ganz im Gegenteil. Dadurch haben wir ziemlich viel über Susan White erfahren, auch wenn wir nicht wissen, was die Botschaften besagen. Aber wir wissen, dass es jemandem wichtig war, ihre Enigma-Maschine zu zerstören. Wer auch immer das getan hat, wusste ganz genau, wie entscheidend dieses Gerät war.«

»Also wurde sie von einem feindlichen Agenten ermordet«, überlegte Floyd laut.

»Ich glaube, davon können wir ausgehen«, antwortete Custine. »Und wer auch immer das getan hat, muss auch die Rotoreneinstellungen der Maschine vernichtet haben. Nichts in der Dose, die sie Blanchard überlassen hat, sieht nach einer Liste mit solchen Einstellungen aus. Vielleicht hat sie sie anderswo aufgeschrieben. Vielleicht hatte sie sie sogar nur im Kopf.«

»Wo wir gerade bei Blanchard sind …«, bemerkte Floyd.

»Als mir klar wurde, dass der Versuch, die Signale zu entschlüsseln, hoffnungslos war, habe ich das Radio wieder so hergerichtet, wie ich es am Vortag vorgefunden hatte, einschließlich der zerstörten Verbindungskabel. Ich packte mein Werkzeug ein und ging zu Blanchards Wohnung runter, um das heikle Thema anzusprechen, von dem wir gestern geredet haben.«

»Hast du es getan?«

»Ich erhielt keine Gelegenheit, dazu«, antwortete Custine. »Als ich an seine Wohnungstür klopfte, stellte ich fest, dass sie angelehnt war. Ich stieß sie auf und rief nach ihm. Niemand antwortete, aber ich hörte … Geräusche.«

»Was für Geräusche?«

»Schlurfen, Ächzen. Möbel, die bewegt wurden. Natürlich trat ich ein. Und dann habe ich das Kind gesehen: ein kleines Mädchen, vielleicht dasselbe, das wir gestern vor dem Haus gesehen haben, vielleicht auch ein anderes.«

»Was hat das Kind gemacht?«, fragte Floyd mit einem unguten Gefühl in der Magengegend.

»Es hat Monsieur Blanchard getötet.« Custine sagte es völlig ruhig und distanziert, als wäre er die Ereignisse im Kopf bereits so oft durchgegangen, dass sie ihn nicht mehr erschrecken konnten. »Blanchard lag auf dem Boden, den Kopf gegen ein Stuhlbein gedrückt. Das Kind hockte über ihm und hielt ihm mit einer Hand den Mund zu. In der anderen hielt es einen Schürhaken, mit dem es auf seinen Kopf einschlug.«

»Wie sollte ein Kind auf diese Art einen Mann überwältigen?«, fragte Floyd. »Er war vielleicht alt, aber nicht unbedingt gebrechlich.«

»Ich kann nur berichten, was ich gesehen habe«, erwiderte Custine. »Das Kind schien über enorme Kraft zu verfügen. Es hatte stockdünne Arme und Beine, aber es schlug mit dem Schürhaken auf ihn ein, als ob es stark wie ein Hufschmied wäre.«

»Du nennst das Kind immer ›es‹«, bemerkte Floyd.

»Es hat mich angeblickt«, sagte Custine. »Und da wusste ich, dass es in Wirklichkeit kein Kind war.«

Greta sah Floyd besorgt an. Dieser legte ihr eine Hand auf den Arm. »Erzähl weiter«, forderte er Custine auf.

»Es war wie ein kleines Mädchen gekleidet, aber als es mich ansah, wusste ich, dass es etwas anderes war – eher ein Dämon als ein Kind. Sein Gesicht erinnerte an ein verschrumpeltes Stück Obst. Als es den Mund öffnete, sah ich eine trockene, schwarze Zunge und ein paar verfaulte Zahnstummel. Ich habe es gerochen.«

»Er macht mir Angst«, sagte Greta, und Floyd spürte, wie sie angewidert erschauderte. »Soll das eines von diesen Kindern sein, die angeblich dauernd auftauchen?«

»Was auch immer sie sind, es sind keine Kinder«, wiederholte Custine. »Sie sehen aus wie Kinder, so lange man nicht genau hinschaut. Mehr nicht.«

»Das ist unmöglich«, beharrte Greta.

»Wir haben sie beide gesehen«, sagte Floyd. »Und ein paar von den Mietern in Blanchards Haus ebenfalls.«

»Aber … Kinder?«

»Irgendwie passt das zu der ganzen Sache«, sagte Floyd. »Eins von ihnen hat wahrscheinlich Susan White getötet.«

»Was ist dann passiert?«, fragte Greta, als ihre Faszination langsam über die Angst siegte.

»Das Kind hat mich angesehen«, sagte Custine. Er griff in den kleinen Proviantbeutel neben seiner Matratze und holte eine Flasche Whisky hervor, um sich einen Schluck zu genehmigen. »Es hat mich angesehen und ein Geräusch gemacht, das ich niemals vergessen werden. Es hat den Mund geöffnet – da habe ich Zunge und Zähne gesehen – und … gesungen.« Er sprach die Worte mit Abscheu aus und spülte sie sich mit einem weiteren Schluck Whisky aus dem Mund.

»Was soll das heißen, es hat ›gesungen‹?«, fragte Floyd.

»Oder geheult oder gekreischt – ich kann es nicht richtig beschreiben. Es war kein Geräusch, das ein Kind hervorzubringen in der Lage sein sollte. Eine Art monströses Jodeln. Fragt mich nicht, wie, aber ich wusste genau, was es tat: Es hat nach anderen seiner Art gerufen.« Custine schraubte den Verschluss auf die Flasche und legte sie in den Beutel zurück. »Und dann bin ich geflohen.«

»Du wusstest doch, dass das keinen guten Eindruck machen würde.«

»Nichts wäre schlimmer gewesen, als in diesem Raum zu bleiben. Ich habe mich nach einer Waffe umgesehen, aber das Kind-Wesen hielt bereits den einzigen Gegenstand in der Hand, mit dem sich etwas ausrichten ließ. Ich wollte einfach nur so weit weg wie möglich kommen.«

»Du hast ein Taxi gerufen?«

»Ja«, antwortete Custine. »Ich bin direkt zur Rue de Dragon gefahren, wo ich die Nachricht für dich hinterlassen habe. Und dann bin ich hierher gekommen.«

»Die Männer aus dem Großen Haus glauben, dass du Blanchard getötet hast«, sagte Floyd.

»Natürlich glauben sie das. Das wollen sie glauben. Haben sie mit dir gesprochen?«

»Ich hatte eine wirklich nette Unterhaltung mit einem gewissen Inspektor Belliard, kurz nachdem du vom Tatort geflohen warst.«

»Belliard ist reines Gift. Du musst dich schützen, Floyd. Du darfst nichts mehr mit dem Fall zu tun haben. Du darfst nichts mehr mit mir zu tun haben.«

»Dafür ist es ein bisschen zu spät.«

»Es ist nie zu spät für gesunden Menschenverstand.«

»Nun, diesmal vielleicht doch. Ich habe mit deinem alten Freund Maillol gesprochen. Er war skeptisch, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er dich insgeheim für unschuldig hält.«

Custine schüttelte resigniert den Kopf. »Ein einziger guter Mann kann keinem von uns helfen.«

»Ich habe ihm gesagt, dass ich deinen Namen reinwaschen werde. Er hat mir versichert, dass er sich jeden Hinweis ansieht, den ich beschaffen kann.«

»Ich warne dich als Freund: Lass die Finger von der Sache. Mach das, was ich auch machen werde: Verschwinde bei der nächsten Gelegenheit aus Paris.«

»Es gibt keinen Ort, an den du flüchten könntest«, sagte Floyd. »Ich kann ein Flugboot nehmen und zwei Tage später in Amerika sein. Du nicht. Wo auch immer du in Frankreich hingehst, irgendwann werden die Männer vom Quai dich finden. Unsere einzige Hoffnung besteht darin, deinen Namen reinzuwaschen.«

»Dann hast du dir eine unmögliche Aufgabe gestellt.«

»Wenn ich Maillol eins dieser Kinder präsentiere, sieht die Sache vielleicht anders aus.«

»Niemand wird glauben, dass ein Kind zu diesen Morden fähig war.«

»Aber wenn genügend Zeugen etwas sagen – genügend Leute, die diese Dämonen gesehen haben – dann ändert das vielleicht etwas.«

»Floyd«, sagte Custine mit plötzlichem Nachdruck, »bitte benutz deinen Kopf. Diese Wesen sind in diesem Moment da draußen unterwegs. Sie sind in der Stadt. Sie bewegen sich, ohne Aufsehen zu erregen. Und darüber hinaus scheinen sie ihr Möglichstes zu tun, um jeden zu töten, der auch nur die geringste Verbindung zu Susan White hatte. Das schließt jetzt auch uns drei ein.«

»Dann ist die Sache jetzt wohl eine persönliche Angelegenheit geworden.«

»Lass die Untersuchung fallen, mein Freund. Lass sie fallen und geh mit Greta nach Amerika.«

»Noch nicht. Wie ich bereits sagte, habe ich ein Gespräch mit der Schwester verabredet.«

»Du spielst mit dem Feuer.«

»Nein«, erwiderte Floyd, »ich spiele mit der einzigen Spur, die bei diesem Fall noch übrig ist. Und mit dem Einzigen, was mich zu diesen Kindern führen und dir aus der Patsche helfen kann.«

Custine ließ sich an die Wand zurücksinken. »Ich kann dich nicht davon abbringen, was?«

»Du würdest nicht weniger für mich tun.«

»Was nur beweist, dass es uns beiden an gesundem Menschenverstand mangelt.«

»Der wird ohnehin überbewertet«, antwortete Floyd mit einem Lächeln.

»Sei vorsichtig«, sagte Custine. »Diese Kinder sind vielleicht Dämonen, aber es gibt keine Garantie, dass die Schwester nicht genauso gefährlich ist.«

 

Um neun Uhr am nächsten Morgen kam Verity Auger in Floyds Büro. Das Sonnenlicht, das in Streifen durch die Jalousien schien, traf sie von der Seite und ließ eine elektrische Silberaura entlang ihrer Umrisse aufscheinen. Sie trug einen dunklen Nadelstreifenanzug und Schuhe mit flachen Absätzen, und wenn sie einen Hut aufgehabt hatte, musste sie ihn draußen an die Garderobe gehängt haben. Ihr zu einem sauberen Mittelscheitel geteiltes helles Haar fiel ihr glatt über die Schultern und bildete einen leichten Aufwärtsbogen an den Spitzen, als hätte es sich im letzten Moment anders entschieden. Floyd fühlte sich an die Walfontänen auf alten holländischen Lithographien erinnert. Sie hatte sehr dünne Augenbrauen, und ihr Gesichtsausdruck schien innerhalb weniger Herzschläge von ernst zu heiter und zurück zu wechseln.

Sie hatte sich bereits gesetzt, bevor Floyd überhaupt auffiel, dass sie ihrer Schwester eigentlich nicht besonders ähnlich sah.

»Ich muss mich für den Zustand meines Büros entschuldigen«, sagte Floyd mit einer Handbewegung zum kaum aufgeräumten Papierkram. »Jemand hat beschlossen, dass es umgeräumt werden muss.«

»Sie müssen sich nicht entschuldigen«, sagte Auger und nahm ihre Handtasche auf den Schoß. »Ich bin einfach nur dankbar, dass Sie bereit sind, sich so kurzfristig mit mir zu treffen.« Sie blickte ihm direkt in die Augen. »Mir ist klar, dass all das sehr ungewöhnlich ist, Mister Floyd.«

»Wenn es um ein Tötungsdelikt geht, gibt es nichts ›Gewöhnliches‹«, erwiderte Floyd. »Und ich kann mir nicht vorstellen, dass all das besonders leicht für Sie war.«

»Ich will nicht so tun, als wäre es leicht gewesen«, sagte sie. »Andererseits will ich auch nicht so tun, als hätten Susan und ich sich für Geschwister besonders nahe gestanden.«

»Familienprobleme?«

»Nichts so Dramatisches. Wir waren einfach nie sehr häufig zusammen, während wir aufgewachsen sind. Zunächst einmal waren wir nur Halbschwestern. Susans Vater starb, bevor ich geboren wurde. Sie war vier Jahre älter als ich. Das klingt vielleicht nicht nach einem großen Unterschied, aber für Kinder liegen Welten dazwischen. Susan hätte genauso gut erwachsen sein können, soweit es unsere Gemeinsamkeiten betraf.«

»Und später, als Sie beide älter waren?«

»Da wurde der Altersunterschied wohl weniger wichtig, aber inzwischen verbrachte Susan immer weniger Zeit zu Hause. Sie war ständig mit Jungs unterwegs. In unserer Kleinstadt hat sie sich zu Tode gelangweilt.«

»Tanglewood, Dakota«, sagte Floyd mit einem Nicken.

Ihre Augen weiteten sich leicht, entweder vor Überraschung oder vor Unglauben. »Sie kennen diesen Ort?«

»Ich weiß nur, dass sie von dort stammt, aus den Papieren in der Dose Ihrer Schwester. Das Seltsame daran ist: Ich wollte die Stadt im Ortsverzeichnis nachschlagen, aber sie scheint nicht zu existieren.«

»Sie meinen, sie ist nicht im Ortsverzeichnis aufgeführt. Ich kann Ihnen versichern, dass sie existiert, Mister Floyd. Sonst hätte ich eine Menge Schwierigkeiten, mir meine Kindheit zu erklären. Haben Sie einen Aschenbecher?«

Floyd schob ihr einen hin. »Das muss ein ziemlich kleines Kaff sein.«

Auger schüttelte den Kopf, während sie sich eine Zigarette anzündete. »Es gibt sich alle Mühe, zu einem kleinen Kaff zu werden.«

»So schlimm? Dann kann ich verstehen, dass Ihre Schwester das Gefühl hatte, von dort verschwinden zu müssen. So ein Ort kann sich leicht wie ein Gefängnis anfühlen.«

»Woher kommen Sie, wenn Ihnen die Frage nichts ausmacht? Ich weiß nicht einmal Ihren Vornamen.«

»Ich komme aus Galveston, Texas«, antwortete Floyd. »Mein Vater war bei der Handelsmarine. Mit sechzehn war ich bei den Trawlerfischern.«

»Und schließlich sind Sie in Paris gelandet?« Auger atmete einen dünnen Rauchfaden aus. »Ich hoffe, Sie waren nicht der Navigator.«

»Ich war der Navigator, der Funker und eine Menge anderes, bis zu dem Tag, an dem ich beschlossen habe, dass ich lieber Musik machen wollte als Fische fangen. Ich war gerade neunzehn und hatte gehört, dass Paris genau der richtige Ort war, wenn man sein Glück als Musiker machen wollte. Besonders, wenn man Amerikaner war. Bechet war dort gewesen, Baker, Gershwin. Also bin ich an Bord eines Schiffes nach Marseille gegangen und habe beschlossen, mir einen Namen zu machen. 1939 kam ich an, ein Jahr, bevor die Panzer in die Ardennen einrollten.«

»Und?«

»Ich versuche noch immer, mir einen Namen zu machen.« Floyd blies die Wangen auf und lächelte. »Ich habe meine ernsthaften Ambitionen als Jazzmusiker nach etwa sechs Monaten aufgegeben. Ich spiele immer noch, als Hobby, und dann und wann verdiene ich damit mehr Geld als mit dem Detektivbüro. Aber ich schätze, das sagt mehr über mein Detektivbüro aus als über mein Glück als Musiker.«

»Wie sind Sie zu dieser Arbeit gekommen? Vom Trawlerfischer zum Privatdetektiv ist es ein ganz schöner Sprung.«

»Das ist nicht über Nacht passiert«, antwortete Floyd. »Aber ich hatte schon vor meiner Ankunft in Frankreich einen Vorteil. Meine Mutter war Französin, und ich hatte die nötigen Papiere, um es nachzuweisen. Die französischen Truppen hatten zu wenig Rekruten und waren unvorbereitet, als die deutsche Armee an der Grenze Stellung bezog. Als sie schließlich aufwachten und begriffen, dass jemand bei ihnen einmarschieren wollte, waren sie nicht allzu wählerisch, wen sie ins Land ließen.«

»Und Sie sind in den Kampf gezogen?«

»Ich habe den Franzosen gesagt, dass ich es mir überlegen würde.«

»Und?«

»Ich habe es mir überlegt und bin zum Schluss gelangt, dass ich lieber etwas anderes tun wollte, als darauf zu warten, von deutschen Siebenundsiebzigern platt gemacht zu werden.«

Auger drückte ihre kaum angerauchte Zigarette im Aschenbecher aus. »Hat man nicht versucht, Ihnen mit dem Gesetz zu kommen?«

»Es gab kein Gesetz. Die Regierung hatte längst die Beine in die Hand genommen und die Stadt den Banden überlassen. Eine Weile sah es wirklich so aus, als wäre der deutsche Einmarsch von Erfolg gekrönt. Es war reines Glück, dass die Panzerdivisionen in den Ardennen stecken geblieben sind – ausnahmsweise hat das schlechte Wetter mal für uns gearbeitet. Das und der Umstand, dass wir ihre Probleme rechtzeitig bemerkt haben und ihnen ein paar Bomberstaffeln schicken konnten.«

»Mit anderen Worten, es war ziemlich knapp. Man fragt sich unwillkürlich, was wohl passiert wäre, wenn der Vormarsch nicht aufgehalten worden wäre.«

»Vielleicht wäre es gar nicht so schlimm gewesen«, sagte Floyd. »Bei den Deutschen hätte es zumindest eine Art von Ordnung gegeben. Trotzdem, soweit es mich betrifft, ist die Sache gut ausgegangen. Danach war eine Menge schmutzige Arbeit zu erledigen. Jemand, der Amerikanisch und Französisch spricht und im Zweifelsfall als Muttersprachler durchgeht, war damals ziemlich nützlich.«

Auger nickte. »Kann ich mir vorstellen.«

Floyd winkte ab, fasste all die Lebensjahre in dieser einen Geste zusammen. »Ich bekam einen Job als Leibwächter und Chauffeur für einen örtlichen Bandenchef. Dabei habe ich mehr Tricks gelernt, als ich mir bis dahin vorstellen konnte. Als die benachbarte Konkurrenzbande meinen Boss hochnahm, machte ich ein paar Seitwärtsschritte und fand mich als Leiter eines kleinen, ums Überleben kämpfenden Detektivbüros wieder.«

»Fehlt da nicht ein Kapitel – das, in dem Sie schließlich eine große, erfolgreiche Firma leiten, mit Zweigstellen auf der ganzen Welt?«

»Nächstes Jahr vielleicht«, antwortete er mit einem bedauernden Lächeln.

»Mir gefällt Ihre Einstellung, Mister Floyd. Sie scheinen nicht das Gefühl zu haben, dass das Leben Ihnen etwas schuldig ist.«

»Das ist es auch nicht. Ich habe mit einigen der besten lebenden Musiker Jazz gespielt. Und ich habe gesehen, wie sie in Flaschen mit medizinischem Alkohol bezahlt wurden, den sie glücklich runtergekippt haben, bis sie davon blind geworden sind. Solange ich ein Dach überm Kopf habe, muss ich mir nicht besonders Leid tun. Dieses kleine Detektivbüro wird aus mir und Custine keine reichen Männer machen, aber auf die eine oder andere Art schaffen wir es, von einem Jahr ins nächste zu stolpern.«

»Eigentlich – das klingt jetzt vielleicht ein bisschen taktlos –, eigentlich bin ich hier, um mit Ihnen über Ihre kleine Firma zu sprechen. Beziehungsweise über einen bestimmten Fall, in dem Sie ermitteln.«

»Ich habe mich schon gefragt, wann wir mit dem Smalltalk fertig sind. Schade – es hat gerade angefangen, mir Spaß zu machen. Sollen wir also zu Susans Hinterlassenschaft kommen?«

Er konnte die Erleichterung in ihrem Gesicht deutlich erkennen. »Also haben Sie sie. Ich habe mir schreckliche Sorgen gemacht, als ich hörte, was mit ihrem Vermieter geschehen ist.«

»Ich habe die Dose, auf die er für sie aufpassen sollte«, sagte Floyd. »Das ist das Einzige – und es ist reines Glück, dass sie bei mir gelandet ist.«

»Warum hat Mister Blanchard sie Ihnen gegeben?«

»Er dachte, dass ihr Inhalt vielleicht einen Hinweis darauf gibt, warum sie getötet wurde. Der alte Herr war ziemlich fest davon überzeugt, dass man sie ermordet hat.«

Auger seufzte. »Ich kann durchaus verstehen, warum er das geglaubt hat. Aber es war kein Mord.«

»Das wissen Sie sicher?«

»Ich kannte meine Schwester. Nicht sehr gut, wie ich schon sagte, aber gut genug, um nicht überrascht zu sein, dass es dazu gekommen ist.«

Floyd öffnete seine Schreibtischschublade und holte die Keksdose heraus. Er legte sie zwischen sich und Auger auf den Schreibtisch und nahm den Metalldeckel ab, damit sie sehen konnte, was sich darin befand. »Erzählen Sie weiter«, forderte er sie auf.

»Susan hatte Probleme. Selbst, als sie noch zu Hause gelebt hat, war sie dauernd in Schwierigkeiten. Sie hat sich ständig Lügenmärchen ausgedacht, damit die Leute glaubten, was ihr gerade in den Kram passte.«

»Das gilt für die Hälfte der Menschheit.«

»Susans Problem war, dass sie nicht wusste, wann man aufhören muss. Sie war eine Phantastin, Mister Floyd, die in ihrer eigenen Traumwelt gelebt hat. Und mit zunehmendem Alter wurde es immer schlimmer. Das war einer der Gründe, warum wir uns auseinander gelebt haben. Ich musste ihre Phantasien zu oft über mich ergehen lassen.«

»Mir ist nicht klar, was das mit dem Mord an ihr zu tun haben soll.«

»Was als einfache Phantasterei begonnen hat, nahm nach und nach unheimlichere Formen an. Irgendwann hat sie wohl an ihre eigenen Märchen geglaubt. Überall hat sie Feinde gesehen und sich eingebildet, dass die Leute hinter ihrem Rücken über sie flüstern und Pläne gegen sie schmieden.«

»Heutzutage könnte sie damit durchaus Recht haben.«

»Nicht so, wie Sie meinen. Sie lebte in einer paranoiden Wahnvorstellung, Mister Floyd. Ich habe die medizinischen Unterlagen, die es beweisen.« Auger griff in ihre Handtasche und holte einen Stapel Papiere hervor. »Sie können sie sich gerne ansehen. In ihren Zwanzigern war Susan wegen ihrer Wahnvorstellungen in Behandlung, bis hin zu Elektroschocktherapie. Ich muss wohl nicht eigens erwähnen, dass nichts davon geholfen hat.«

Floyd nahm die Papiere und blätterte sie durch. Sie sahen recht überzeugend aus. Er gab sie Auger zurück. Als sie sie entgegennahm, fiel ihm auf, dass sie keinen Ring am Finger trug. »Ich glaube Ihnen auch so«, erklärte er. »Aber mir ist nicht klar, wie Ihre Schwester in Europa landen konnte, wenn sie so krank war.«

»Im Nachhinein betrachtet war es eine dumme Idee«, sagte Auger, während sie die medizinischen Unterlagen in ihre Handtasche zurückstopfte, »aber sie hatte gerade ein paar vielversprechende Monate gehabt, und die Ärzte glaubten, dass ein Ortswechsel ihr vielleicht noch mehr helfen würde. Sie selbst hatte nicht besonders viel Geld, aber als Familie konnten wir genug zusammenkratzen, um sie in ein Schiff zu setzen und ihr etwas Taschengeld für die Zeit hier mitzugeben.«

»Das muss ein hübsches Taschengeld gewesen sein«, sagte Floyd, als er daran dachte, in welchem Tempo Susan Magazine und Bücher gekauft hatte.

»Ich weiß nicht, was Susan getan hat, als sie hier war«, sagte Auger. »Sie konnte sehr überzeugend sein, und vielleicht hat sie die Vertrauensseligkeit anderer ausgenutzt, um sich das zu beschaffen, was sie wollte.«

»Das ist durchaus möglich«, gab Floyd zu. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich eine Frage stelle, die vielleicht etwas taktlos erscheint?«

»Ich bin nicht besonders empfindlich.«

»Woher wussten Sie, dass sie tot ist, wenn Sie so wenig Kontakt hatten? Nach allem, was wir feststellen konnten, hatte Susan fast gar keinen Kontakt zu irgendwelchen Personen in Paris. Die offiziellen Stellen kannten sie nicht und interessierten sich auch nicht für sie. Und trotzdem treffen Sie hier aus Dakota ein, keine vier Wochen nach ihrem Tod.«

»Ich wusste nicht, dass sie tot ist, bis ich mich beim Mietshaus einfand«, antwortete Auger. Ihr Gesicht war eine unlesbare Maske. Floyd hätte nicht sagen können, ob sie verärgert oder gleichgültig war. »Aber ich konnte mir denken, dass etwas geschehen sein musste. Susan stand zwar nicht in Kontakt mit mir, aber sie schickte unserem Onkel in Dakota regelmäßig Postkarten. Er hatte ein- bis zweimal die Woche Nachricht von ihr erhalten, seit sie in Paris angekommen war.«

»Es kamen also keine Postkarten mehr?«

»Nicht nur das. Die letzten paar, die sie geschickt hatte, ließen befürchten, dass es weiter abwärts mit ihr ging.« Auger hielt inne, um sich eine neue Zigarette anzuzünden. Floyd fragte sich, warum sie sich die Mühe machte – die vorige hatte sie kaum geraucht. »Sie schrieb immer häufiger über Leute, die angeblich hinter ihr her waren. Mit anderen Worten, die alten Geschichten. Wir hatten gehofft, dass sie es überwunden hätte, aber offensichtlich war es nicht so.

Diesmal war es sogar noch schlimmer, als hätten sich ihre Phantasien in Europa erst richtig entfaltet. Im Urlaub ist niemand der gleiche Mensch wie zu Hause, Mister Floyd. Jeder verändert sich ein bisschen, manchmal zum Besseren. Aber Susan hat sich eindeutig zum Schlechteren verändert.«

»Was stand auf den Postkarten?«

»Das Übliche, nur in größerem Maßstab. Dass sie beschattet wird. Dass man sie umbringen will. Überall sah sie Verschwörungen.«

»Hatte sie die Angewohnheit, Passagen, die ihr wichtig waren, zu unterstreichen?«

Er bemerkte, wie einen Moment lang Zweifel über ihr Gesicht huschten. »Dann und wann schon, glaube ich. Warum?«

»Ach, nichts«, sagte Floyd und wischte die Frage beiseite. »Nur etwas, das mir durch den Kopf ging.«

Auger sah auf die Dose, die zwischen ihnen auf dem Tisch lag. »Sie hat diese Dose erwähnt. Sie sagte, dass sie eine Menge Beweise gesammelt und sie ihrem Vermieter gegeben hätte, damit er darauf aufpasst.«

»Aber wenn sie Wahnvorstellungen hatte, sind die Papiere in dieser Dose doch allesamt wertlos.«

»Etwas anderes habe ich auch nicht behauptet«, erwiderte Auger. »Aber Susan hatte eine letzte Bitte geäußert, auf einer der letzten Postkarten, die wir von ihr erhalten haben. Sie wollte, dass ich komme und diese Dose abhole, falls ihr irgendetwas zustoßen sollte. Sie meinte, das sei das Wichtigste, was wir für sie tun könnten, und dass sie glücklich sterben würde, wenn sie wüsste, dass die Dose letztlich sicher verwahrt würde.«

»Und haben Sie ihr geantwortet?«

»Ich habe ihr ein Telegramm geschickt, dass ich die Dose abholen würde, wenn ihr etwas zustieße.«

»Aber Sie wussten, dass sie wertlos war. Wollen Sie mir ernsthaft erzählen, dass Sie die Reise quer über den Atlantik nur auf sich genommen haben, um eine Dose mit wertlosen Papieren abzuholen?«

»Für Susan waren sie nicht wertlos«, erwiderte Auger scharf. »In Susans Welt waren sie das Wichtigste. Und ich habe ihr ein Versprechen gegeben. Ich weiß nicht, wie Sie es halten, Mister Floyd, aber ich breche meine Versprechen nicht, ganz gleich, wie sinnlos oder verrückt sie sein mögen.«

Floyd beugte sich vor und schob Auger die Dose zu. »Dann gehört sie Ihnen. Ich wüsste keinen Grund, sie Ihnen vorzuenthalten, besonders nach allem, was Sie mir erzählt haben.«

Sie berührte die Dose vorsichtig, als würde sie ihrem Glück noch nicht ganz trauen. »Sie lassen mich einfach damit verschwinden, ohne irgendwelche Fragen zu stellen?«

»Ich habe bereits Fragen gestellt«, sagte Floyd. »Und Sie haben sie zu meiner Zufriedenheit beantwortet. Lassen Sie mich ehrlich sein: Ich habe mir den gesamten Inhalt dieser Dose angesehen und nichts von Wert entdeckt. Wenn ich Bargeld gefunden hätte – oder Blankoschecks oder den Schlüssel zu einem Bankschließfach –, dann hätte ich vielleicht konkretere Beweise verlangt, dass Sie wirklich die sind, als die Sie sich vorgestellt haben. Aber eine Hand voll alter Landkarten, ein paar bedeutungslose bedruckte Blätter und ein abgelaufener Zugfahrschein? Nehmen Sie es mit, Miss Auger. Ich hoffe nur, es verschafft Ihrer Schwester etwas Frieden, dass die Dose jetzt bei ihrer Familie ist.«

»Das hoffe ich auch«, erwiderte Auger. Sie nahm die Dose und stellte sie unter ihren Stuhl. »Da wäre nur noch eine Sache. Sie sind sehr freundlich und hilfsbereit, Mister Floyd, und deshalb tut es mir Leid, Ihnen auch noch Ihren Fall wegzunehmen.«

»Meinen Fall?«, fragte Floyd.

»Wie ich schon sagte, es gab keinen Mord. Vielleicht hat meine Schwester sich mit Absicht das Leben genommen – sie hatte schon einen Selbstmordversuch hinter sich –, oder vielleicht hatte sie im Wahnzustand einen Unfall, während sie dachte, sie würde angegriffen. Wie dem auch sei, ich bin mir absolut sicher, dass es keinen Mord gegeben hat, und deshalb gibt es auch keinen Mordfall.«

»Das ist schon in Ordnung«, sagte Floyd. »Der Fall hat sich für mich in dem Moment erledigt, als Blanchard auf der Straße aufgeschlagen ist.«

»Stimmt«, sagte sie und nickte. »Sie haben diesen Fall für ihn untersucht?«

»Ja, und jetzt, wo es ihn nicht mehr gibt, bezahlt auch niemand unsere Rechnungen. Und nach dem, was Sie sagen, gab es sowieso nie einen richtigen Fall.«

»Glauben Sie, dass Blanchards Tod etwas mit dem von Susan zu tun hat?«

»Ich habe darüber nachgedacht«, antwortete Floyd. »Man soll natürlich nicht schlecht von Toten reden … besonders von jemandem, der erst seit ein paar Stunden tot ist. Aber ich könnte mir vorstellen, dass Blanchard die ganze Zeit über geahnt hat, was wirklich los war. Vielleicht dachte er, dass er mehr hätte tun können, um ihr zu helfen, sodass ihn die Schuld immer stärker belastet hat. Am Ende war es wohl einfach mehr, als er ertragen konnte.«

»Dann hat Blanchard sich umgebracht, weil Susan gestorben ist? Ist es das, was Sie sagen wollen?«

»Es muss einen Zusammenhang zwischen den beiden Todesfällen geben. Die Theorie, dass der Vermieter sich aus irgendeinem vagen Verantwortungsgefühl heraus das Leben genommen hat, würde vielleicht kein Geschworenengericht überzeugen, aber immerhin passt sie besser als die, dass irgendeine dritte Partei schuld ist.«

»Hören Sie«, sagte Auger. »Es tut mir sehr Leid, wie das alles gelaufen ist. Sie waren der Gelackmeierte bei einer Angelegenheit, die eigentlich gar nichts mit Ihnen zu tun hatte.« Sie griff in ihre Handtasche und holte einen unbeschrifteten braunen Briefumschlag heraus. Sie schob ihn über den Tisch zu Floyd, der ihn wie eine tickende Bombe vor sich liegen ließ. »Es ist nicht viel, aber ich bin Ihnen für Ihre Bemühungen dankbar – immerhin haben Sie auf die Dose aufgepasst –, und ich habe das Gefühl, dass Sie sich eine Prämie verdient haben, jetzt, wo der Fall abgeschlossen ist.«

Floyd legte eine Hand auf den Umschlag und spürte, wie verführerisch dick er war. Darin waren auf jeden Fall einige hundert Franc, wenn nicht mehr. »Das ist nicht nötig«, sagte er. »Ich hatte einen Vertrag mit Blanchard, nicht mit Ihnen.«

»Das ist normale menschliche Anständigkeit, Mister Floyd. Bitte nehmen Sie es an. Ich habe mit ein paar Leuten im Mietshaus geredet, und ich weiß, dass Sie ein paar schwere Tage hinter sich haben. Bitte nehmen Sie es als Entschädigung an.«

»Wenn Sie darauf bestehen.« Floyd nahm den Umschlag und legte ihn in dieselbe Schreibtischschublade, in der sich zuvor die Keksdose befunden hatte. »Ich weiß die Geste zu schätzen.«

»Dann wären wir wohl fertig«, sagte Auger und erhob sich. Sie hängte sich ihre Handtasche über die Schulter und klemmte sich die Dose unter den Arm.

»Scheint so«, antwortete er und stand ebenfalls auf.

Sie lächelte. Es war das erste Mal, dass er einen erkennbaren Ausdruck auf ihrem Gesicht sah. »Irgendwie hatte ich erwartet, dass es komplizierter wäre. Papiere unterschreiben, sich mit Juristen herumstreiten … Ich hätte nicht gedacht, dass ich hier kampflos mit der Dose herauskomme.«

»Wie gesagt, es ist nur eine Dose mit ein paar Zetteln drin. Und ich will Ihnen das Leben nicht schwerer machen, als ich muss. Eine Schwester auf diese Art zu verlieren …«

Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Sie waren sehr freundlich, Mister Floyd.«

»Ich mache nur meine Arbeit.«

»Ich hoffe, dass sich für Sie und Ihren Partner alles zum Besten wendet. Sie haben ein wenig Glück verdient.«

Floyd zuckte die Achseln. »So wie jeder auf diesem Planeten.«

Sie wandte sich um und warf ihm einen Blick über die Schulter zu. Ihr Haar rahmte ihr Gesicht in einen weiß schimmernden Heiligenschein ein, wie die Sonne hinter einer Gewitterwolke. »Nochmals danke. Ich finde alleine nach draußen.«

»Es war mir ein Vergnügen.«

An der Tür hielt sie noch einmal inne. »Mister Floyd? Sie haben mir Ihren Vornamen noch nicht verraten.«

»Ist das wichtig?«

»Ich wüsste ihn gerne. Schließlich waren Sie so freundlich.« .

»Er lautet Wendell.«

»Gefällt er Ihnen nicht?«

»Er klang in meinen Ohren immer wie ein Name für einen Idioten. Deshalb nennen meine Freunde mich Floyd.«

»Ich muss sagen, dass ich ihn mag«, bemerkte sie. »Wendell hat so einen ehrlichen Klang – zumindest in meinen Ohren.«

»Dann bin ich für Sie Wendell.«

»In diesem Fall … auf Wiedersehen, Wendell.«

»Auf Wiedersehen, Miss Auger.«

»Verity, bitte«, korrigierte sie ihn. Dann verließ sie das Büro und schloss die Tür hinter sich.

Floyd wartete einen Augenblick, dann steckte er die Hand in die Tasche und vergewisserte sich, dass die Postkarte noch da war.

Er mochte sie. Sie sah gut aus und war anscheinend eine nette Frau. Aber unwillkürlich fragte er sich, wie sie wohl reagiert hätte, wenn er etwas von »Silberregen« erwähnt hätte.