Neununddreißig

 

 

Es war ein selten bereister Seitenarm des Hypernetzes, der nur sporadischen Verkehr erlebt hatte, seit die Slasher die äußeren Verzweigungen des Netzes erkundet hatten. Fünf Portale waren nahe beieinander in einem losen Quincunx angeordnet, getrennt durch weniger als eine Lichtsekunde interstellaren Raums. Hier gab es keine Sonnen, keine Planeten, keine einsamen Monde – nicht einmal die felsigen Fragmente ungeborener oder zertrümmerter Welten. Nur die gezackten Eissplitter von fünf großen Kometen, die seit Milliarden Jahren trocken und tot waren und die Anker für jeweils ein unbemanntes Portal bildeten.

Aber hier war noch etwas anderes. Die Sensoren ertasteten es in der Dunkelheit. Es war unbegreiflich dunkel, nur vom fernen Sternenlicht erhellt. Und es war unbegreiflich groß – der Durchmesser entsprach dem einer Riesensonne.

»Sind wir zu spät?«, fragte Auger, als Tunguska auf einer Wand ein künstlich zusammengesetztes Bild der AGS entstehen ließ.

»Ich weiß es nicht. Wenn meine Berechnungen stimmen, müsste Niagara vor … neunzig Minuten aus dem Portal gekommen sein.«

»Warum sehen wir dann nichts von ihm?«

»Es gibt eine schwache Triebwerksspur«, sagte Tunguska. »Sie deutet darauf hin, dass Niagara bereits auf die andere Seite der AGS geflogen ist. Auch dazu hätte er genügend Zeit gehabt – sofern er die üblichen Sicherheitslimits ignoriert hat.«

»Dann folgen Sie ihm.«

»Das tun wir. Bedauerlicherweise ist der Sog-Antrieb immer noch nicht voll funktionsfähig. Dies ist die maximale Beschleunigung, mit der wir derzeit arbeiten können.«

Das Bild der AGS wurde zusehends detaillierter, während Tunguskas Sensoren immer mehr Details aus der Dunkelheit filterten. Mit komplexen statistischen Methoden wurde ein Maximum an Informationen aus den spärlichen Daten herausgeholt. Auger erinnerte sich an das Briefing, das sie an Bord der Twentieth Century Limited erhalten hatte. Peters schematische Darstellung war in stumpfem Blaugrau eingefärbt gewesen, doch hier gab es nicht genug Licht, um die Farbrezeptoren der Netzhaut anzuregen. Tunguskas Darstellung ignorierte die tatsächliche Beleuchtung und gab das gesamte Gebilde in mattem Grau ohne Schattierungen wieder, außer zur Andeutung der Plattenstruktur der Oberfläche. In Peters Botschaft hatte diese Struktur sie an ein Virus oder einen Kristall erinnert, doch nun wirkte die Hülle der AGS eher wie die vergrößerte Ansicht menschlicher oder tierischer Haut. Hinzu kam ein Ansatz von Unregelmäßigkeit und vereinzelte Anzeichen, dass die Heilungsprozesse es nicht ganz geschafft hatten, die Spuren früherer Beschädigungen zu beseitigen. Es war, als wäre die AGS nicht gebaut worden, sondern gewachsen.

Vielleicht traf das sogar zu. Niemand hatte die leiseste Ahnung, woher das Rohmaterial stammte. Vielleicht hatte es einst ein komplettes Sonnensystem in diesem Winkel des Weltraums gegeben, das restlos verwertet worden war, um die dünne, aber extrem harte Kugelschale zu schaffen. Oder das benötigte Masse-Energie-Äquivalent war aus dem Nichts gewonnen worden, durch einen extrem effizienten Umwandlungsprozess, der auch dem Sog-Antrieb zugrunde lag.

Auger sah Floyd an und fragte sich, wie er mit alldem zurechtkam. »Nicht vielen Menschen ist dieser Anblick vergönnt«, sagte sie. »Falls das ein Trost ist.«

»Ich hätte problemlos darauf verzichten können«, sagte er. »Irgendwie hat mir die Idee besser gefallen, dass ich dem Nachthimmel trauen kann – oder dass die Sonne wirklich existiert.«

»Deine Welt ist real, Floyd, und du bist es auch. Alles andere spielt keine Rolle.«

»Ich empfange etwas«, sagte Tunguska mit ruhiger Eindringlichkeit. »Es könnte Niagara sein.«

»Ein Echo von seinem Schiff?«, fragte Auger.

»Dazu sind wir nicht nahe genug. Aber da ist ein sich bewegender Fleck erhöhter Helligkeit auf der Hülle der AGS. Wahrscheinlich ist es eine Spiegelung seines Antriebs. Er gibt sich alle Mühe, unsichtbar zu bleiben, aber wenn er manövrieren will, ist das nicht zu vermeiden.«

»Sagen Sie mir noch einmal, ob wir weitere Raketen an Bord dieses Schiffes haben«, wollte Auger wissen.

»Wir haben keine mehr. Ich habe die Fabriken angewiesen, neue herzustellen, aber wir können es uns nicht leisten, zu viel Reparaturkapazitäten vom Antrieb abzuziehen. Ich glaube, wir können nur auf Strahlenwaffen zurückgreifen, zumindest vorläufig.«

»Sind wir in Feuerreichweite?«

»Noch nicht. Dazu müssten wir noch etwas näher heran.«

»Kommen wir nahe genug heran?«

»Nicht wenn Niagara seinen Kurs beibehalten hat. Aber dieser Reflex deutet darauf hin, dass er relativ zur AGS verzögert.«

»Warum sollte er das tun?«, fragte Floyd.

»Wahrscheinlich, weil er sich bereit macht, den Molotow-Apparat einzusetzen«, sagte Tunguska.

»Sie müssen ihn ausschalten, bevor er die Gelegenheit dazu hat.«

»Sind Sie sich sicher, dass Sie das wollen, Floyd? Wenn die Antimaterie-Bombe kein Loch in die AGS sprengt, kommen Sie nie mehr nach Hause.«

»Tun Sie es einfach«, sagte Floyd. »Über meine Rückfahrkarte können wir uns später Gedanken machen. Noch vor ein paar Stunden hätte ich nicht gedacht, dass ich jetzt noch am Leben sein würde.«

»Ich glaube, so ging es uns allen«, erwiderte Tunguska. Seine Stirn legte sich in Falten – ein Hinweis, dass etwas in der Zahlenflut, die auf seinen Kopf einströmte, sein Interesse geweckt hatte. »Aha. Das könnte wichtig sein.« Er blickte in ihre erwartungsvollen Gesichter. »Ich habe jetzt etwas genauere Daten über dieses Reflexionsmuster. Es sieht so aus, als ob es sich nicht um eine, sondern um zwei Lichtquellen handelt.«

Auger wusste nicht genau, ob sie ihn richtig verstanden hatte. »Zwei Triebwerksstrahlen?«

»Ja – aber sie liegen so weit auseinander, dass sie nicht demselben Schiff zugeordnet werden können. Es scheint so, als hätte Niagaras Schiff eine kleinere Einheit ausgeschleust. Wir müssten jeden Augenblick ein direktes Echo bekommen …« Er drückte einen dicken Finger gegen die Schläfe.

»Das ergibt Sinn«, sagte Auger. »Sein Hauptschiff ist gerade groß genug, um den Molotow-Apparat transportieren zu können, nicht wahr?«

»So sieht es aus.«

»Wahrscheinlich will er es wie einen Rammbock gegen die AGS einsetzen. Es wäre zu umständlich, den Antimaterie-Kern wieder auszubauen, wo er doch bereits das ideale Trägersystem zur Verfügung hat.« Sie rutschte auf ihrem Sitz nach vorn und ignorierte die Anspannung im Rücken. »Das zweite Schiff muss ein Shuttle sein, etwas mit genügend Reichweite, um es nach E2 zu schaffen.«

»Das wäre dann das Schiff mit dem Silberregen an Bord«, sagte Tunguska.

»Und Niagara«, fügte Auger hinzu.

Tunguska schloss die Augen und blendete die Ablenkungen der realen Welt aus. »Ich sehe jetzt das Shuttle und das Mutterschiff«, sagte er. »Das Shuttle entfernt sich mit hoher Beschleunigung von der Molotow-Sektion.«

»Wahrscheinlich will es so viel Abstand wie möglich zum Explosionspunkt gewinnen«, spekulierte Auger.

Tunguska nickte mit geschlossenen Augen.

»Das finde ich irgendwie durchaus nachvollziehbar, nicht wahr?«, bemerkte Floyd.

»Sind wir schon nahe genug, um die Strahlengeschütze einsetzen zu können?«, fragte sie.

»Noch nicht. Glauben Sie mir, mein Finger zuckt bereits am Abzug.«

Ihnen blieb nichts übrig, als zu warten, bis sich die Entfernung verringert hatte. Tunguskas Wahrnehmung wurde immer genauer, und nun bestätigte sich, dass sich die zwei Schiffe tatsächlich getrennt hatten. Das größere – das Hauptschiff, dem sie von der Erde aus gefolgt waren – raste mit hoher Beschleunigung genau auf die Hülle der AGS zu. Durch die Streustrahlung des gequälten Sog-Antriebs war es nicht mehr zu übersehen, selbst auf diese Entfernung. Noch vor einer Stunde hatte es sich parallel zur Oberfläche der Kugelschale bewegt, doch nun schoss es auf einem Kurs nach unten, der im rechten Winkel auf die Wandung zielte.

»Den Aufprall können wir nicht mehr verhindern, oder?«, sagte Auger verzweifelt. »Das verdammte Ding wird die AGS treffen, ganz gleich, was wir tun.«

Tunguska antwortete mit einer Verschmitztheit, die er sich ihretwegen hätte sparen können. »Aber Sie müssen zugeben, dass Sie durchaus neugierig sind, was dann geschehen wird, nicht wahr?«

»Ich könnte problemlos mit der Unwissenheit leben«, sagte sie.

Tunguska öffnete die Augen. »Meldung vom Sog-Triebwerk: Wir sind bereit, den Schub auf fünf Ge zu erhöhen. Mehr können wir im Moment nicht riskieren. Wir müssen nicht in die Beschleunigungstanks gehen, aber das Schiff wird uns trotzdem mit Schutzhüllen umgeben.«

»Tun Sie, was notwendig ist«, sagte Auger.

Der Raum wellte sich und verschluckte sie.

Im sanften Griff des Schutzsystems verging die Zeit mal schneller, mal langsamer, in unvorhersehbaren traumartigen Wellen. Auger fragte sich, wie es sich für Floyd anfühlen mochte, dessen Kopf frei von glitzernden Maschinen war. Was dachte er in diesem Moment, wo er seiner Heimat so nahe war und gleichzeitig damit rechnen musste, dass sie in Kürze vernichtet wurde?

»Nach meiner Schätzung«, sagte Tunguska, »erfolgt der Molotow-Einschlag in fünfzig Sekunden. Ich lasse ein paar entbehrliche Sensoren aktiviert, aber alle anderen Kanäle schalte ich jetzt ab. Bisher hat noch niemand eine Antimaterie-Explosion aus so geringer Entfernung beobachtet, und niemand weiß, wie die AGS darauf reagieren wird.«

»Wie nahe ist das Shuttle dem Explosionspunkt?«, fragte Auger.

»Etwa die Hälfte von unserer gegenwärtigen Entfernung«, sagte Tunguska. »Er sollte eine gute Abschirmung haben, wenn er diese Sache heil überstehen will. Dreißig Sekunden …«

»Ersparen Sie mir den Countdown, Tunguska«, sagte Auger und machte sich auf das Kommende gefasst. »Sagen Sie uns nur, ob wir noch am Leben sind, wenn es passiert ist.«

Sie spürte es, als es passierte. Es war wie ein geisterhaftes Echo der Explosion, obwohl Tunguska ihr versicherte, dass kein Signal durch die Barrikaden, die er errichtet hatte, zu ihr vordringen konnte. Es fühlte sich an wie das lang gezogene Donnergrollen eines fernen Gewitters.

»Der Molotow-Apparat ist detoniert«, sagte Tunguska. »Und wir sind – offenkundig – noch am Leben.«

»Meine Bemerkung war sarkastisch gemeint.«

»Meine nicht. Es ist immer gut, wenn man so etwas bestätigen kann.«

Als die entbehrlichen Sensoren Entwarnung gaben, öffnete Tunguska die schützenden Läden vor den empfindlicheren Augen des Schiffes und richtete sie auf den Schauplatz des Verbrechens. Es dauerte eine Weile, bis es ihnen gelang, die Daten zu interpretieren, denn die Sicht wurde durch eine Trümmerwolke versperrt, die sich wie eine kirschrote Fontäne langsam vom Einschlagpunkt ausdehnte. Auger bemühte sich, den Maßstab zu erfassen, aber sie kam einfach nicht mit der Größe des AGS-Objekts zurecht, die sich jeglicher Vorstellungskraft entzog. Die Wolke war gigantisch – sie hatte einen Durchmesser von mehreren hunderttausend Kilometern erreicht und dehnte sich weiter aus –, doch sie war nur ein winziges Detail auf der Oberfläche der Kugel.

»Die Trümmerwolke entfernt sich vom Epizentrum«, sagte Tunguska. »Doch aus unserer Perspektive ist nicht genau zu erkennen, welcher Schaden angerichtet wurde.«

»Zeigen Sie uns einfach, was Sie sehen«, forderte Auger ihn auf.

Sie mussten zwanzig Minuten warten, bis sich die Wolke weit genug aufgelöst hatte und sie in einem günstigeren Winkel standen, um einen besseren Blick zu erhalten. Zu diesem Zeitpunkt folgte Tunguskas Schiff dem gleichen weiten Bogen wie Niagara, der sie direkt zur AGS führte. Sie beschleunigten immer noch mit fünf Ge und waren in ihren Kokons vor der Belastung geschützt.

»Sie sind durchgebrochen«, sagte Tunguska.

Er zwang ein Bild in Augers Bewusstsein. Der Molotow-Apparat hatte ein überraschend sauberes Loch in die Hülle der AGS gestanzt. Die Wunde hatte einen Durchmesser von einhundert Kilometern und war nahezu kreisrund. Die kilometerdicke Haut glühte schmerzhaft grell an den Rändern und verblasste über eine Distanz von zwei- oder dreihundert Kilometern über Blau und Gelb zu verkohltem Rot. Im freiliegenden Querschnitt waren undeutlich wild peitschende Strukturen zu erkennen, die sich wie zertrennte Nervenenden wanden.

»Großer Gott!«, sagte Auger. »Sie haben es getan. Das verdammte Ding hat nicht den geringsten Widerstand geleistet.«

»Hast du damit gerechnet?«, fragte Floyd.

»Ich habe mit irgendetwas gerechnet.«

»Was ist mit dem anderen Schiff?«

»Ich habe es in der Ortung«, sagte Tunguska. »Es fliegt mit Vollschub auf demselben Kurs wie vor der Explosion. Es wird die Wunde in weniger als zehn Minuten erreicht haben.«

Vielleicht hätte er sich nicht solche Sorgen um den Zustand von Niagaras Abschirmung machen sollen, dachte sie. »Ich vermute, wir sind immer noch nicht in Reichweite der Strahlenwaffen.«

»Nein.« Tunguska klang geradezu beschämt. »Dazu müssen wir dem Schiff nach drinnen folgen.«

»Durch die Wunde?«

»Ja«, sagte Tunguska. »In die AGS hinein. Ich fürchte, das ist der einzige Kurs, der uns jetzt noch offen steht.«