Fünfunddreißig

 

 

Floyd und Auger traten auf den geneigten Boden der Aussichtsplattform. Über ihnen erzeugte die ständige Bewegung der Wolken das schwindelerregende Gefühl, dass der Turm genau in diesem Moment umkippen wollte. Floyd hatte Höhen noch nie gut vertragen, und in dieser Zwangslage schienen sich seine sämtlichen Alpträume zu vereinigen. Sie liefen auf einer rutschigen, schiefen, wackligen Fläche, die mit Löchern und unsicheren Stellen übersät war und sich in über zweihundert Metern Höhe befand … während ein Sturm tobte … während sie sich in schweren Anzügen bewegten, die die Sicht einschränkten, in der jede Bewegung unbeholfen wirkte, mit denen jeder Schritt gefährlich war … und zu allem Überfluss trugen sie vier schwere Kisten, die mit Papieren, Büchern und Schallplatten voll gepackt waren.

»Alles in Ordnung mit dir, Floyd?«, fragte Auger. Ihre Stimme klang schrill in seinem klobigen Taucherhelm, in den die Slasherin kurz zuvor seinen Kopf eingesperrt hatte.

»Ich will es mal so ausdrücken, Auger: Als ich das letzte Mal aufgestanden bin, stand das Herumspazieren auf der Ruine des Eiffelturms nicht unbedingt auf der Liste der Dinge, die ich bis Sonnenuntergang erledigen wollte.«

»Betrachte es einfach von der positiven Seite, Floyd. Denk an die tollen Geschichten, die du darüber erzählen wirst.«

»Ich denke eher an den Spaß, den ich haben werde, jemanden zu finden, der bereit ist, mir zu glauben.«

Mit einem grauenhaften und sehr lauten metallischen Ächzen neigte sich die Plattform plötzlich ein Stück weiter zur Seite. Lose Trümmer rutschten quietschend auf sie zu. Floyd sprang zur Seite und ließ dabei eine Kiste fallen. Bevor er wieder danach greifen konnte, sauste eine Strebe vorbei, verfing sich an der Kiste und zerrte sie mit sich. Während er verzweifelt nach Halt suchte, um nicht denselben Weg wie die Kiste zu nehmen, beobachtete er, wie sie bis zum Rand der Fläche weiterrutschte und darüber hinausschoss. Die Kiste überschlug sich und verteilte ihren literarischen, journalistischen und musikalischen Inhalt in der Luft über Paris.

»Floyd! Alles klar bei dir?«, rief Auger.

»Ja. Aber ich habe gerade eine Kiste verloren.«

Er hörte, wie sie fluchte und dann ihren Ärger hinunterschluckte. »Lässt sich nicht ändern. Aber der ganze Turm macht den Eindruck, als würde er bald den Geist aufgeben. Vielleicht wegen der Belastung durch die zwei Shuttles.«

Blitze flackerten am Horizont, heller als zuvor.

»Das sieht nach einem heftigen Gewitter aus«, stellte Auger fest. »Ich hätte das hier gerne hinter mich gebracht, bevor es eintrifft.«

»Ich auch«, sagte Floyd seufzend und stand auf. »Ich habe den Ausblick jetzt zur Genüge genossen. Man gewöhnt sich einfach viel zu schnell an so etwas.«

Caliskans Schiff war ihnen ein Stück entgegengerutscht, bis es vom Hindernis des gekappten Aufzugschachts aufgehalten worden war. Aus dieser Perspektive konnte Floyd eine Rampe mit Treppenstufen erkennen, die sich aus der silbernen Hülle des Schiffes ausgeklappt hatte. Eine Gestalt im Schutzanzug beugte sich am oberen Ende der Rampe nach draußen und winkte sie heran. Dann stieg die Gestalt die Stufen herunter und ging Auger entgegen. Sie reichte ihm eine ihrer zwei Kisten, dann wartete sie, bis er sie ins Schiff verladen hatte und ihr die zweite abnahm. Anschließend lief sie zu Floyd zurück und half ihm mit der letzten Kiste. Er folgte ihr die Rampe hinauf und erkannte unter dem Helm das Gesicht des Mannes, den er schon auf verschiedenen Slasher-Bildschirmen gesehen hatte. Es war Caliskan.

Er dirigierte sie ins Schiff und in einen kleinen Raum, der zwei Türen hatte, aber nur so groß wie eine Speisekammer war. Die äußere Tür schloss sich, und der Sturm verstummte, als hätte man die Nadel von einer Schallplatte genommen. Die Kisten wurden in einer Ecke aufeinander gestapelt wie Müll, der darauf wartete, abgeholt zu werden.

Als sie durch die innere Tür getreten waren, nahm Caliskan den Helm ab und gab ihnen zu verstehen, dass sie dasselbe tun sollten. »Sie haben es geschafft«, sagte er und zog sich die Finger durchs Haar, bis es wieder einigermaßen nach einer Frisur aussah. »Das war ein bisschen kritisch, was?«

»Kann ich mit Cassandra sprechen?«, fragte Auger. »Ich möchte ihr sagen, dass sie möglichst schnell von hier verschwinden soll.«

»Natürlich.« Caliskan führte sie in den schmalen vorderen Teil des kleinen Schiffes. Die Wände bestanden aus nackten Metallplatten mit Spieren und Röhren, und es war etwa so warm und gemütlich wie in einem Mini-U-Boot. »Die Verbindung steht noch. Ich werde dafür sorgen, dass sie angemessen entschädigt wird, sobald wir das Schlimmste überstanden haben.«

»Cassandra, kannst du mich hören?«, sagte Auger.

»Laut und deutlich.«

»Bring dich in Sicherheit. Wir kommen jetzt allein zurecht.«

»Kann Caliskan euch von hier wegbringen?«, fragte sie.

Caliskan beugte sich in den Erfassungsbereich der Kamera. »Ich werde mich um die beiden kümmern. Machen Sie sich keine Sorgen.«

Nachdem er Caliskan nun leibhaftig vor sich sah, war Floyd fester als je zuvor davon überzeugt, dass er ihm schon einmal begegnet war – oder seinem Bruder. Der Mann, der seinen Raumanzug immer noch nicht ganz abgelegt hatte, bückte sich, um durch ein rundes Bullauge zu schauen. »Warum startet sie nicht? Weiß sie nicht, wie instabil diese Konstruktion ist?«

Wieder blitzte es, und der Widerschein zeichnete helle Glanzlichter auf Caliskans Gesicht wie auf einem retuschierten Foto.

»Das Gewitter kommt näher«, stellte Floyd fest.

»Cassandra«, sagte Auger, die davon ausging, dass die Verbindung immer noch stand. »Gibt es ein Problem?«

Aus den Lautsprechern kam nicht einmal ein Knistern. Der Bildschirm war erloschen. Mit besorgtem Gesichtsausdruck nahm Caliskan auf dem Pilotensitz Platz und drückte Knöpfe, zuerst systematisch, dann mit zunehmender Ungeduld. »Etwas stimmt nicht«, sagte er, nachdem er es etwa eine Minute lang probiert hatte.

»Wurde das Schiff von Furien infiltriert?«, fragte Auger mit unüberhörbarer Unruhe.

»Nein … bis vorhin wurden nur niedrige Werte angezeigt.«

»Und jetzt?«

»Jetzt ist alles tot, einschließlich der Monitore. Das Schiff hat auf Reserveenergie umgeschaltet – nur noch einfachste Funktionen sind möglich.« Er zeigte auf das Bullauge. »Wenn ich das Alter des Schiffs bedenke, mit dem Sie eingetroffen sind, könnte es sein, dass Cassandra mit denselben Schwierigkeiten zu kämpfen hat.«

»Aber wenn es keine Furien sind …«, sagte Auger.

Wieder flackerten Blitze, noch heller, näher und heftiger als zuvor. Ein metallisches Rumpeln erschütterte die Plattform und das gelandete Schiff. Es fühlte sich wie ein vorbeifahrender Güterzug an.

»Ich weiß nicht, was hier vor sich geht«, sagte Auger, »aber wir müssen verschwinden, bevor der Sturm losbricht oder der Turm einstürzt. Oder beides.«

»In nächster Zeit werden wir nirgendwohin verschwinden«, sagte Caliskan. »Und ich glaube nicht, dass das Gewitterblitze sind.«

»Wenn es kein Gewitter ist …«, begann Auger und hatte vor Furcht plötzlich einen trockenen Mund.

Als Floyd ihren Gesichtsausdruck sah, wurde ihm mit einem Mal angst und bange. »Was ist hier los?«, fragte er und legte eine Hand an ihren Arm.

»Verbrannte Erde«, sagte Auger. »Es hat begonnen. Raketenbombardierung aus dem Orbit.«

»Ich fürchte, sie hat Recht«, sagte Caliskan. »Diese Blitze sehen mir eher nach Atomexplosionen aus. Mehrere hundert Kilometer entfernt … aber sie scheinen näher zu kommen. Das könnte Absicht sein, vielleicht aber auch nicht.«

Auger schlug die Hände vors Gesicht. »Als hätten wir diesem Planeten nicht schon genug zugesetzt.«

»Um den Planeten können wir uns später Sorgen machen«, sagte Floyd. »Im Augenblick sind wir wichtiger. Wie kommen wir von diesem Ding herunter? Warum funktionieren die Schiffe nicht mehr?«

»Schädigung durch elektromagnetischen Puls«, sagte Caliskan. »Diese Schiffe wurden von den Stokern gebaut und arbeiten mit vielen elektrischen Subsystemen. So etwas halten sie einfach nicht aus.«

Floyd hatte keine Ahnung, wovon Caliskan sprach, aber er vermutete, dass es ein schwerwiegendes Problem war. »Werden sie bald wieder fliegen?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Caliskan, der weiter an den Kontrollen arbeitete, als könnten sie jeden Moment wieder zum Leben erwachen. »Einige der Systeme versuchen sich zu reaktivieren, aber sie stürzen immer wieder ab, weil die anderen Systeme nicht reagieren. Wenn ich eine Neustartsequenz auslösen könnte …« Seine Finger tanzten in manischem Tempo über eine Tastatur, während blasse Ziffern und Symbole über einen an der Decke hängenden Schirm wanderten.

»Versuchen Sie es weiter«, sagte Auger und setzte sich wieder den Helm auf. »Ich werde nachsehen, ob Cassandra mehr Glück hat.«

»Das ist nicht mehr nötig«, sagte Floyd, der durch das Bullauge zum anderen Schiff hinüberschaute. »Sie ist schon zu uns unterwegs?«

»Bist du dir sicher?«

»Sieh selbst. Sie scheint entschieden zu haben, dass es zu riskant ist, an Bord zu bleiben.«

Cassandra hatte einen der standardmäßigen Raumanzüge aus den Notfallbeständen des Shuttles angelegt. Entweder hatte sich der Neigungswinkel der Plattform oder der Sturm verstärkt, denn sie kam nur mit größter Mühe voran. Sie ging gebeugt wie eine alte Frau, die vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte. Immer wieder rutschten verbogene Metalltrümmer über die Fläche oder flogen durch die Luft und verfehlten sie nur knapp.

»Vorsichtig …«, hauchte Floyd. Er blickte sich in der Enge des Schiffs um und versuchte sich vorzustellen, wie sie alle Platz darin finden sollten, für den unwahrscheinlichen Fall, dass sich die Maschine dazu überreden ließ, sich wieder in die Luft zu erheben.

»Wie es scheint, haben die Explosionen etwas nachgelassen«, sagte Auger, die die Umgebung durch das andere Bullauge beobachtete. »Vielleicht gibt es da oben doch noch jemanden mit einem Rest von Verstand.«

»Darauf sollten wir uns lieber nicht verlassen«, sagte Caliskan.

Erneut ging ein Ruck durch die Aussichtsplattform, die nun noch schiefer stand. Floyd spürte entsetzt, wie Caliskans Schiff ins Rutschen kam, als es langsam den Halt auf den Metallplatten verlor.

»Wir stürzen ab«, sagte er mit einem äußerst unangenehmen Gefühl in der Magengegend.

Doch dann wurde plötzlich wieder alles ruhig, und die Plattform schien einigermaßen in die Horizontale zurückzukehren. Floyd sah Auger an, dann Caliskan, aber in ihren Gesichtern erkannte er nichts, das darauf hindeutete, dass sie verstanden hätten, was hier vor sich ging.

»Cassandra ist nicht mehr weit entfernt«, sagte Floyd. »Vielleicht sollten Sie jetzt die Rampe ausfahren.«

Doch dann stockte Cassandra plötzlich. Mit offensichtlicher Mühe richtete sie sich gegen die Gewalt des Sturms auf und schaute auf etwas, das sich links von ihr befand. Floyd folgte ihrer Blickrichtung, so weit es das begrenzte Sichtfeld des Bullauges erlaubte. Dann sah er, weswegen sie reglos erstarrt war.

»Das müsst ihr euch unbedingt ansehen«, sagte er.

»Was?«, gab Auger von der anderen Seite der Kabine zurück.

»Komm her und schau selbst.«

Er wartete, bis sie an seiner Seite war und das Gesicht an die Scheibe drückte.

Hinter dem Rand der Aussichtsplattform erhob sich schwerfällig etwas Gewaltiges. Es war riesig und knollenförmig und schimmerte geheimnisvoll in einem inneren Licht, das in Bögen, Schnörkeln und kryptischen Symbolen angeordnet war. Das Ganze erinnerte an die Leuchtorgane eines titanenhaften, tentakelbewehrten Meeresungeheuers, das aus den Tiefen emporstieg, um über das Schiff herzufallen. Cassandra zeichnete sich als Silhouette vor diesem Berg aus Licht ab und hatte die Arme leicht gespreizt, wie zum Willkommensgruß – oder wie zum Gebet.

»Caliskan«, sagte Auger. »Ich glaube, soeben ist Hilfe eingetroffen.«

Caliskan blickte sich über die Schulter um, während seine Hände weiter die Kontrollen bedienten. »Was haben Sie gesagt?«

»Neben dem Turm schwebt eine beträchtliche Masse aus Slasher-Hardware.«

Caliskan verließ die Konsole und übernahm Floyds Platz am Bullauge.

»Das verdammte Ding muss uns gefolgt sein«, sagte Floyd.

»Cassandra geht darauf zu«, sagte Auger.

Caliskan kehrte zu den Kontrollen zurück, worauf sich Floyd wieder neben Auger drängte. »Was hat sie vor?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Auger. »Es wäre möglich, dass sie versucht, mit ihnen zu kommunizieren …«

Ein Fächer aus Lichtstrahlen schoss an einer Stelle aus dem aufgedunsenen Bauch des monströsen Schiffes. Sie durchstachen Cassandra wie Sonnenlicht, das durch Wolken drang, und nagelten sie fest, während ihr winziger Körper wie eine Fahne flatterte. Dann waren die Lichtstrahlen verschwunden, und Cassandra stand immer noch da. Doch nun waren gezackte Löcher in ihren Körper gestanzt. Sie brach zusammen, dann schob die Gewalt des stürmischen Windes sie zum Rand der Plattform. Ihr schlaffer Körper überschlug sich wie eine Flickenpuppe, dann landete sie am Geländer, wo sie wie zum Trocknen aufgehängte Wäsche im Wind baumelte.

Grellweiße Blitze punktierten den Horizont.

Das gewaltige Schiff drehte sich langsam, um einen anderen Teil des Rumpfes auf gleiche Höhe mit der Aussichtsplattform zu bringen. Es war so groß wie die Hindenburg, schätzte Floyd, oder wie ein Flugzeugträger. Vielleicht noch größer. Es gehörte sich nicht, dass so ein Ding einfach in der Luft hing.

Caliskan sah sie mit ernster Miene an. »Es sieht so aus, als wäre es gekommen, um einen von Ihnen – oder Sie beide – zu holen.«

»Haben Sie es hierher bestellt?«, fragte Auger.

»Nein. Ich habe versucht, Sie davor zu bewahren. Diese Slasher müssen über Mittel gegen die Furien verfügen. Oder sie sind so verzweifelt hinter etwas her, dass sie dafür alles riskieren würden.«

Das Schiff hatte dem Turm nun die Breitseite zugewandt. Floyd fühlte sich an ein Ausstellungsstück in einem Museum erinnert, das er einmal gesehen hatte, einen Tiefseekraken in Formaldehyd, dessen Tentakel korkenzieherartig zu einer einzigen Klinge verschlungen waren. Das Schiff hatte die gleiche dolchähnliche Funktionalität. Die Lichter und Symbole auf der Hülle schienen unter einer Schicht aus durchsichtiger Gallerte zu liegen. Das Schiff schob sich langsam näher heran, wie eine leuchtende Nebelbank.

»Das ergibt keinen Sinn«, sagte Auger. »Ich habe nichts über ihre Pläne herausgefunden, was sie nicht bereits selber wissen. Und wenn es ihnen nur darum geht, uns zu töten, hätten sie es längst tun können.«

»Dann habe ich mich möglicherweise geirrt«, sagte Caliskan mit plötzlicher Unruhe. »Vielleicht interessiert man sich gar nicht für Sie, Auger. Und auch nicht für Floyd.«

»Damit bleibt nur eins übrig«, sagte Floyd. »Wenn wir es nicht sind, muss es etwas sein, das wir mitgebracht haben.«

»Die Fracht«, sagte Auger.

Caliskan spielte noch ein letztes Mal mit den Kontrollen, dann gab er es mit einer wegwerfenden Handbewegung auf. »Setzen Sie die Helme wieder auf und suchen Sie sich eine Stelle, wo Sie sich außerhalb der Aussichtsplattform verstecken können.«

»Sie werden uns finden«, sagte Auger.

»An Bord dieses Schiffes wird man Sie auf jeden Fall finden. Draußen, wo sich der Sturm und elektrische Interferenzen austoben, haben Sie wenigstens eine gewisse Chance, am Leben zu bleiben, bis Hilfe eintrifft.«

Auger wog ihre Möglichkeiten ab. »Ich glaube, er hat Recht, Floyd«, gestand sie widerstrebend ein.

»Ihnen bleibt keine Zeit, sich ordnungsgemäß auszuschleusen«, sagte Caliskan. »Ich werde die äußere Tür aufsprengen, sobald Sie in die Luftschleuse getreten sind.« Er griff unter seinen Sitz und zog einen zerflossenen Gegenstand hervor, der wie die Dali-Skulptur einer Pistole aussah. »Nehmen Sie das«, sagte er und reichte sie Auger. »Ich bin mir sicher, dass Sie herausfinden werden, wie sie funktioniert.«

»Was ist mit Ihnen?«, fragte sie.

»Ich habe noch eine. Ich werde versuchen, Ihnen Deckung zu geben, bis Sie sich in Sicherheit gebracht haben.«

»Danke.« Auger steckte die Waffe in den Ausrüstungsgürtel ihres Raumanzuges, dann half sie Floyd, den Helm aufzusetzen. Nun hörte er ihre dünne, summende Stimme aus der Sprechanlage des Helms. »Es muss eine Treppe geben, die nach unten führt«, sagte sie. »Wir werden versuchen, sie zu finden.«

»Gehen Sie«, sagte Caliskan. »Schnell!«

 

Floyd sprang als Erster durch die aufgesprengte Tür nach draußen. Er schlug auf den Metallboden und wäre fast auf dem Gesicht gelandet. Als er sich umdrehte, sah er gerade noch rechtzeitig, wie Auger herauskam. Ein Blitz erhellte schnappschussartig ihre Züge hinter dem Helmvisier.

»Von nun an sollten wir lieber Funkstille wahren«, sagte sie. »Bleib in meiner Nähe, dann können wir rufen, wenn wir uns etwas mitzuteilen haben.«

Die leuchtende Wand des Slasher-Schiffs stieß gegen die Plattform und ließ sie schwanken. Für das Monstrum wäre es keine besondere Mühe, einfach durch den Turm zu pflügen und ihn wie einen hölzernen Landesteg zu zerschmettern.

»Auger, hast du eine Vorstellung …«

»Floyd!«, zischte sie. »Jetzt nicht. Sie hören mit hoher Wahrscheinlichkeit das EM-Spektrum ab.«

Sie bewegten sich gebückt, fast kriechend, während sie die Trümmer als Deckung nutzten, um von einem Schatten zum nächsten zu huschen. Als sie etwas erreicht hatten, das wie der Eingang zu einer Treppe aussah, berührte Auger ihn an der Schulter und zeigte durch ein Gewirr aus Streben und Metallplatten auf die spektakuläre Masse des Schiffs. Sie legte einen Finger an das Kinn ihres Helms und gab ihm zu verstehen, dass er still sein sollte.

Eine Tür hatte sich in der Seite geöffnet und bildete nun eine Zugbrücke, die die Lücke zwischen dem schwebenden Schiff und der Aussichtsplattform überspannte. Gestalten erschienen in der hellen Öffnung, insgesamt sechs. Sie liefen langsam über die provisorische Brücke. Sie trugen ebenfalls Anzüge – nahtlose Blasen aus spiegelnder Panzerung, die sich ständig veränderte, als würde sie aus Quecksilber bestehen. Die Gruppe erreichte die Plattform und trat vorsichtig auf die schiefe Metallfläche. Sie gingen aufrecht, und nur die zögernde Art, wie sie bedächtig einen Fuß vor den anderen setzten, verriet ihre Wachsamkeit.

Auger drängte Floyd, nach unten zu steigen. Er suchte mit den Füßen, bis er eine der Metallstufen gefunden hatte. Er wollte nicht darüber nachdenken, wie weit diese Treppe reichte – beziehungsweise wie weit sie nicht reichte.

Sie legte ihren Helm an seinen. Sie hatte die Funkanlage ausgeschaltet, sodass er ihre Stimme nur durch das Glas hörte. »Wir müssen tiefer hinuntergehen.«

»Ich würde gerne sehen, was diese Leute mit Caliskan zu schaffen haben.«

»Lass es sein, Floyd. Siehst du nicht, dass er uns nicht in die Falle gelockt haben kann?«

»Mädchen, irgendwer hat uns in die Falle gelockt, und ich habe Caliskan vom ersten Moment an nicht über den Weg getraut.«

»Vielleicht wurde Caliskan hinters Licht geführt«, sagte Auger. »Wäre dieser Gedanke wirklich so abwegig?«

Die Menschen in den silbernen Anzügen teilten sich auf und suchten sich einen Weg durch das Trümmerlabyrinth auf der Plattform. Sie waren miteinander verbunden, durch ein Netz aus sehr dünnen Silberfäden, das in Kopfhöhe zwischen den Helmen ihrer Rüstungen gespannt war.

Caliskan tauchte am Eingang zu seinem Schiff auf. Er hielt die Waffe in der Hand. Aus der Deckung des Türrahmens zielte er auf das nächste Trio der vorrückenden Gestalten und feuerte auf sie. Ein Strahl aus hellem Licht verband die Mündung der Waffe und die mittlere Gestalt. Die silberne Rüstung löste sich in einem Blitz auf und enthüllte einen gebeugten, ungeschützten Menschen. Caliskan zog sich zurück, stellte etwas an seiner Waffe ein und gab dann einen weiteren Schuss auf diesen Mann ab. Dessen rechter Arm verwandelte sich vom Ellbogen abwärts in eine Rauchwolke, worauf er vor Schmerz zusammenklappte. Doch bevor Caliskan erneut schießen konnte, wurden die silbernen Rüstungen der zwei unverletzten Gestalten diffus und dehnten sich aus, bis sich daraus ein schützender Mantel um ihren Kameraden bildete.

Caliskan machte die Waffe bereit und gab wieder einen Strahl auf die vereinigte Umhüllung der silbernen Gestalten ab. Doch nun hielt die Rüstung seinem Angriff stand. Sie schwoll an und leuchtete heller, aber sie löste sich nicht auf. Floyd fragte sich, wann die anderen zurückschießen würden, statt einfach nur die Treffer einzustecken. Kaum war ihm dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, als auch schon ein Lichtstrahl aus dem schwebenden Schiff abgegeben wurde und Caliskans Kopf durchbohrte.

Er stürzte neben seinem Shuttle zu Boden, wobei ihm die Waffe aus der Hand fiel.

Floyd vermutete, dass damit seine Zweifel an Caliskans Integrität ausgeräumt waren.

Die sechs Gestalten hatten nur einen Verletzten zu beklagen. Während die erste Gruppe über Caliskans Leiche hinwegstieg und sein Schiff untersuchte, machten sich die übrigen drei auf den Weg zum Rand der Plattform, bis sie Cassandra erreichten, deren Körper immer noch schlaff über dem Geländer hing.

Auger tippte gegen Floyds Ellbogen und zeigte nach unten. Floyd gab ihr ein Zeichen, noch zu warten, hin und her gerissen zwischen der Angst und der Neugier auf das, was diese Leute im Schilde führen mochten. Sie wussten, dass Cassandra tot war. Warum interessierten sie sich noch für ihre Leiche?

Die bislang hellste Explosion riss den Horizont auf. Floyd presste die Augenlider zusammen, aber er sah trotzdem alles wie ein Negativbild, als das Licht durch die Metallkonstruktion flutete. Ein paar Sekunden später spürte er wieder das Beben wie von einem Güterzug, als die Basis des Turms erschüttert wurde.

»Sie kommen näher«, sagte Auger. Ihre Hand lag auf der wie geschmolzen aussehenden Waffe, die Caliskan ihr gegeben hatte, aber sie hatte sie noch nicht vom Gürtel genommen.

Er riskierte einen weiteren Blick über die Aussichtsplattform. Die drei Gestalten hatten sich um Cassandras Leiche versammelt. Ihre silbernen Rüstungen hatten sich miteinander verbunden, und aus der Brustregion schob sich nun ein gebogener Tentakel, der so dick wie ein Oberschenkel war. Mit widerwärtigen Bewegungen berührte der Tentakel die Tote vorsichtig und systematisch an verschiedenen Stellen, als wollte er versuchen, ihr noch ein letztes Zucken des Lebens zu entlocken.

»Wonach suchen sie?«, fragte er unbehaglich.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Auger.

Die drei Gestalten traten gleichzeitig zurück. Der silberne Tentakel sammelte mit einem Mal Kraft, holte aus und schlug in Cassandras Brustkorb. Die Gruppe trat einen weiteren Schritt zurück, und dabei zog sie die Leiche vom Geländer. Dann vollführte der Tentakel eine zuckende Bewegung, die viel zu schnell war, um ihr folgen zu können, und der aufgespießte Körper flog in fünf oder sechs Teilen auseinander.

Der blutige Tentakel zog sich in die verschmolzenen Rüstungen zurück. Die drei Personen blieben noch einen Moment lang verbunden, dann teilte sich die Blase, worauf sie wieder zu individuellen Wesen wurden. Sie blickten sich um, entfernten sich ein Stück voneinander und suchten weiter die Oberfläche der Plattform ab.

»Was immer sie vorhaben mögen, sie sind damit noch nicht fertig«, sagte Auger. Sie zog die zerschmolzene Waffe und drückte sie einsatzbereit an ihre Brust.

Floyd schaute nach unten. Auger schien erkannt zu haben, dass die Treppe kein geeigneter Fluchtweg war. Sie endete etwa zehn Stufen unter ihnen, wo das Ende nutzlos im leeren Raum hing. Bis zur zweiten Aussichtsplattform waren es noch mindestens dreißig Meter. Dorthin konnten sie bestenfalls gelangen, wenn sie im Aufzugschacht (vorausgesetzt, er war noch auf ganzer Länge vorhanden) oder an den Streben hinunterkletterten, auf denen der gesamte Turm ruhte.

Es gab sonst keine Möglichkeit von hier wegzukommen.

Floyd schaute wieder zu Caliskans Schiff. Zwei der Gestalten waren an Bord gegangen, während eine draußen wartete. Floyd tippte Auger auf die Schulter und machte sie darauf aufmerksam, was sich dort tat. Eine Person kam mit einer Kiste heraus. Kurz darauf folgte der zweite Mann mit den restlichen zwei Kisten, in denen sich die Artefakte befanden.

Floyd wandte sich wieder den anderen drei zu. Sie hatten Cassandras Überreste einfach liegen lassen. Das, wonach sie gesucht hatten, schienen sie weder an noch in ihrem Körper gefunden zu haben.

Erneut wechselte seine Aufmerksamkeit zur anderen Gruppe. Er spürte, wie Auger sich anspannte und die silberne Waffe etwas höher hob. Zwei Männer standen mit den drei Kisten auf der Plattform, während der dritte erneut ins Schiff gegangen war.

»Vorsicht!«, zischte er Auger zu.

Dann bemerkte er in der Nähe ein neues Phänomen, eine Art metallische Wolke in der Luft, wie ein Schwarm aus Tausenden glitzernder Bienen, die sich auf unwahrscheinliche Weise gegen den Wind auf den Turm zubewegten. Er zuckte zusammen, als er dachte, dass es etwas mit den Männern zu tun haben musste, die Cassandra und Caliskan getötet hatten. Doch die Wolke kam in einer Abfolge schneller Täuschungsmanöver näher, was darauf hindeutete, dass sie darauf erpicht war, der Aufmerksamkeit des Suchtrupps zu entgegen. Dann schob sie sich über Floyd und Auger hinweg und zog sich ins gleiche Versteck zurück, das auch sie benutzten. Die funkelnde Masse streckte sich fließend und bildete immer wieder Muster und Formen aus.

Floyd berührte Auger vorsichtig an der Schulter und machte sie auf die tanzende Wolke aufmerksam. Auch sie zuckte zusammen – da sie bis jetzt noch nichts davon bemerkt hatte – und richtete die Waffe darauf. Die Wolke zog sich nervös zurück, aber sie verließ nicht den Schutz des Treppenschachts. Die Waffe zitterte in Augers Hand, aber sie feuerte sie nicht ab. Dann ließ sie sehr langsam die Mündung sinken, bis sie nicht mehr auf die Wolke zielte.

Vier oder fünf Sekunden lang geschah nichts.

Dann schoss die Wolke auf sie zu und umhüllte ihren Helm. Auger schlug nach dem Heiligenschein aus funkelnden Sternen, als wäre es ein Mückenschwarm. Sie schrie vor Angst oder Schmerz, dann verstummte sie schlagartig. Entsetzt beobachtete Floyd, wie die glitzernde Wolke schrumpfte, während sie durch irgendeine Öffnung in den Helm sickerte.

Nun war Auger völlig still.

Der Treppenschacht schüttelte sich und lockerte rostige Bolzen, die in den tiefen Raum unter ihnen stürzten. Mehrere Tonnen Metall krachten durch zermürbte Stellen in der Aussichtsplattform und schlugen am Fuß des Turmes auf. Das Quietschen und Stöhnen gequälten Eisens brüllte durch die Nacht.

In Floyds Kopf klickte etwas. Bevor Auger reagieren konnte, bog er ihre steifen Finger auf und nahm ihr die Waffe ab. Das Ding schien ihm willig zu gehorchen, entwand sich ihrem Griff und vertraute sich seinem an, fast wie etwas Lebendiges. Durch seinen Handschuh fühlte es sich ungewöhnlich zart an, wie etwas, das aus Alufolie bestand.

Auger zeigte keine Reaktion. Sie war völlig ruhig, während Schwaden aus funkelnden Lichtern hinter der Glasscheibe ihres Helmes trieben.

Also hatten sie sie doch erwischt. Er vermutete, dass ihm in Kürze das gleiche Schicksal blühte. Sie kamen nicht von diesem Turm herunter, und bald würde der Suchtrupp sie ausfindig gemacht haben. Wenn er einfach nur abwartete, blieb ihm vielleicht nicht einmal die Zeit für eine trotzige Geste, mochte sie auch noch so sinnlos sein.

Manchmal wurde einem nicht mehr als eine Geste gewährt.

Er richtete die Waffe auf die nächste silberne Gestalt und drückte den zitzenartigen Knubbel, der, wie er hoffte, der Auslöser war.

Die Waffe wurde in seiner Hand lebendig, wand sich wie ein Aal und spuckte stoßartig etwas aus. Die seltsame Rüstung der Gestalt verwehte wie Asche im Wind. Floyd feuerte erneut und stanzte ein Loch in den ungeschützten Slasher. Der Mann stürzte und verlor sich im Gewirr aus zerfetztem und verbogenem Metall.

Nun schlossen sich die anderen fünf zusammen. Die drei in der Nähe von Caliskans Schiff waren sich nahe genug, um ihre Rüstungen verschmelzen zu lassen, während die übrigen zwei sich zusammentaten und auf das Trio zuliefen. Floyd richtete die Waffe auf die größere Gruppe. Wieder bewegte sie sich in seiner Hand, und wieder löste sich der silberne Panzer in winzige flirrende Splitter auf. Doch diesmal war der Schaden nicht so groß, da die kombinierten Rüstungen so etwas wie einen verstärkenden Schutzschild ausgebildet hatten.

Hinter ihm rührte sich Auger wieder. »Gib mir die Waffe«, sagte sie.

Sie nahm sie ihm ab, ohne auf eine Antwort zu warten. Hastig machte sie etwas mit den Einstellungen, dann sprang sie aus ihrem Versteck und feuerte die Waffe mit übermenschlicher Geschwindigkeit und Genauigkeit ab. Ein Strahl nach dem anderen verließ die Mündung, bis sie hell wie flüssiges Eisen glühte. Ihre Schüsse zielten nur hin und wieder auf die näher rückende Gruppe. Hauptsächlich nahm sie das Schiff und insbesondere die Bordgeschütze unter Beschuss.

Sie fiel ins Versteck zurück. »Ich habe uns eine kleine Atempause verschafft. Ich hoffe, das genügt.«

»Können wir sprechen?«

»Vorläufig ist es sicher. Meine Verstärkungskräfte blockieren ihre Kommunikation und Sensoren.«

»Deine Verstärkungskräfte?«

»Das ist nicht so einfach zu erklären.«

Floyd schaute nach unten und sah gerade noch, wie ein verschwommener Lichtstreifen zwischen den gespreizten Beinen des Turmes hindurchschoss, zwischen der zweiten und dritten Stufe. Er folgte der Bewegung, so gut er konnte, lugte durch eine dunkle Masse aus Verstrebungen und erkannte eine weitere Ballung von Lichtern, die noch größer als die erste war. Floyd verfolgte die schlanken, geschmeidigen Formen, während sie höher emporschwebten, bis sie an einer Stelle plötzlich umkehrten und wieder zum Fuß des Turmes abtauchten. Sie bewegten sich so schnell, dass sie wellenförmige Turbulenzen in der Luft hinterließen, in deren Sog loser Schutt mitgerissen wurde.

»Bitte erklär es mir trotzdem«, bat er.

»Ich werde es versuchen. Du hast gesehen, was gerade geschehen ist?«

»Wie du gestorben bist, meinst du?«

»Niemand ist gestorben. Und Auger erst recht nicht. Aber im Moment sprichst du gar nicht mit Auger.«

»Die Sache scheint dich sehr mitgenommen zu haben, Mädchen?«

»Du sprichst mit Cassandra«, sagte sie. »Die winzigen Maschinen, die du gesehen hast, gehören zu mir.«

»Aber wir haben doch gesehen, wie du gestorben bist.«

»Du hast gesehen, wie mein Körper starb. Aber die Maschinen konnten ihn rechtzeitig verlassen. Sie sind im Augenblick des Todes aus meinem Körper geflohen, bevor Niagaras Aggressoren sie gefangen nehmen und befragen konnten. Jetzt benutzen sie Auger als Zwischenwirt.«

»Das hast du … einfach so gemacht?«

»Daran ist nichts Triviales«, sagte sie mit einem rechtfertigenden Unterton. »Diese Maschinen können nicht mehr als einen Schatten meiner Persönlichkeit und meiner Erinnerungen codieren und transferieren. Glaub mir, ich nehme den Tod keineswegs auf die leichte Schulter – und hier schon gar nicht.«

Floyd schaute wieder nach oben und war überzeugt, dass die silbernen Männer ihn inzwischen hätten töten können, wenn das ihre Absicht gewesen wäre. Aber sie waren nicht näher gekommen. Sie zögerten, auf halbem Wege zwischen ihrem Schiff und der Beute, hinter der sie her waren.

»Vielleicht sollten wir das später besprechen«, sagte er.

»Ich wollte nur, dass du weißt, was hier vor sich geht, Floyd. Ich werde Auger weiterhin unter meiner Kontrolle behalten, bis wir diese Sache überstanden haben. Dann kann sie entscheiden, was sie mit mir machen möchte.«

»Welche Möglichkeiten hätte sie?«

»Sie kann mich weiter beherbergen, bis wir einen geeigneten Wirt aus den Kommunitäten finden, oder sie kann mir befehlen, sie zu verlassen, worauf ich sterben werde. Ich versichere dir, dass sie weder im einen noch im anderen Fall zu Schaden kommt.«

»Hat sie dir die Erlaubnis dazu gegeben?«

»Ich hatte keine Zeit, sie danach zu fragen. Wie dir aufgefallen sein dürfte, haben sich die Ereignisse ein wenig überstürzt.«

Das riesige Slasher-Schiff wurde angegriffen. Kleinere Schiffe – mindestens zwei – nahmen es mit Strahlen aus schneidendem Licht unter Beschuss. Das Licht ätzte schmerzhafte Striche in Floyds Augen, als würde jemand ihm mit Rasierklingen die Netzhaut ritzen. Er zwang sich, den Blick abzuwenden.

»Ist das deine Kavallerie?«, fragte er.

»Ja. Ich habe Verstärkung angefordert, unmittelbar nachdem wir den Mars verlassen haben, aber ich wusste nicht, wie viele Schiffe in der Lage sein würden, darauf zu reagieren.«

»Werden wir diesen Kampf gewinnen?«

»Es könnte knapp werden.«

Das größere Schiff wehrte sich. Floyd riskierte einen Blick durch zusammengekniffene Lider und sah parallele Lichtstrahlen, die aus unbeschädigten Geschützen an der Seite schossen und die fliegenden Angreifer bestrichen. Alle drei Schiffe schützten sich mit beweglichen Schilden – gewölbten Flächen aus transparentem Material, die von einem Teil der Hülle zur anderen huschten, sich fließend bogen, um sich den unterschiedlichen Formen darunter anzupassen. Wo ein Strahl einschlug, war sofort ein solcher Schild zur Stelle, absorbierte die vernichtende Energie und glühte an den Rändern wie Papier, das jeden Augenblick in Flammen aufzugehen drohte. Nach ein paar Sekunden explodierte der Schild in Millionen leuchtender Splitter, die auf das Marsfeld hinabregneten.

Doch allmählich zeigte sich, dass das große Schiff die schwersten Schäden erlitt. Die Bewegungen der Schilde wurden immer hektischer, aber sie waren zu träge, um die blitzschnellen Angriffe der kleineren Einheiten parieren zu können. Ungefähr in der Mitte zerriss eine Explosion die durchscheinende Speckhaut der Hülle und wölbte sie wie Blütenblätter auf. Helle Muster aus maschinellen Innereien schimmerten durch die Wunde. Eine Kette kleinerer Explosionen jagte am Schwanz des Schiffes entlang. Die Leuchtsymbole unter der Gallerteschicht zerflossen und wurden unscharf.

»Sie stirbt«, sagte Cassandra durch Augers Mund.

Das silberne Quintett löste sich in Individuen auf, als sich die Verbindungen zwischen ihren Rüstungen lösten. Drei von ihnen eilten zu den Frachtkisten, hoben sie auf und liefen zur Rampe, die ins verwundete Schiff führte. Die anderen zwei nahmen ihren gemächlichen Spaziergang wieder auf und näherten sich Floyd und Auger, scheinbar unbesorgt über das, was mit ihren Kollegen oder ihrer einzigen Möglichkeit, von hier zu entkommen, geschah.

Die Zugangsrampe glitt vor und zurück, während das angeschlagene Schiff darum kämpfte, neben dem Turm auf Position zu bleiben. Einen Augenblick lang sah es aus, als hätten sich die drei silbernen Menschen einen Fehltritt erlaubt und würden zusammen mit der Fracht in den Abgrund stürzen. Doch irgendwie schafften sie es und stürmten ins Innere, während die Rampe langsam vom Schiff eingezogen wurde, wie ein satter Wal, der seine Kiefer schloss.

Weitere Explosionen spickten das Schiff auf der gesamten Länge. Der Schwanz hing nun tiefer als die Nase, als würde es durch die Lecks mit Wasser voll laufen. Eins der angreifenden Schiffe erlitt einen schweren Treffer und verlor langsam an Höhe, während tintenschwarzer Rauch – oder etwas, das große Ähnlichkeit mit Rauch hatte – aus einem Loch in der Flanke quoll. Floyd beobachtete, wie es allmählich in einer Todesspirale tiefer ging, bis es schließlich irgendwo in der Nähe von Montparnasse explodierte.

Die zwei silbernen Männer erreichten den Anfang der Treppe. In wenigen Sekunden wären sie in Sichtweite von Floyd und Auger.

»Hör mir jetzt gut zu, Floyd.«

»Ich bin ganz Ohr.«

»Wir müssen verschwinden. Ich habe kleine Gruppen von Maschinen in beide Shuttles geschickt. Sie sollen versuchen, sie wieder unter Kontrolle zu bekommen.«

»Und?«

»Beide Schiffe erholen sich jetzt langsam vom EM-Puls. Caliskans Shuttle ist unsere beste Chance. Es ist kleiner, schneller und lässt sich nicht so leicht mit Unterdrückungswaffen beeinträchtigen.«

»Worauf warten wir dann noch?«

Auf der anderen Seite der trümmerübersäten Aussichtsplattform erregte etwas Floyds Aufmerksamkeit. Im hinteren Teil des umkämpften Schiffs öffnete sich ein Schlitz, und etwas schoss heraus, das mit jeder Sekunde schneller wurde. Zuerst vermutete er, dass es sich um eine neue Waffe handelte, die in letzter Minute zum Einsatz kam. Doch das kleine Objekt stieg immer höher auf, während Feuer aus dem zugespitzten Ende schoss.

»Was war das?«

»Ein Rettungsschiff für den Notfall. Aber es wird nicht weit kommen.«

Das noch übrige kleinere Schiff löste sich unvermittelt von der größeren Slasher-Einheit und unternahm einen offensichtlichen Versuch, das Rettungsschiff abzufangen. Es gab einen kurzen Schusswechsel zwischen den beiden Schiffen, bevor das Fluchtfahrzeug durch die geometrisch gemusterte Wolkendecke schlug. Die Wolken leuchteten in einem grellen Blitz auf, gefolgt von einem lang gezogenen Donner. Durch eine Lücke in den Wolken konnte Floyd erkennen, wie das Rettungsschiff weiter aufstieg und wie eine umgekehrte Sternschuppe durch die Nacht raste.

»Bist du dir dessen immer noch sicher?«

»Viel weiter wird es nicht kommen. Die Abfangeinheiten im niedrigen Erdorbit werden sich darum kümmern.«

Das Hauptschiff war nicht mehr in der Lage, die Stellung zu halten. Es hatte sich um fünfundvierzig Grad geneigt, es verströmte Feuer und Rauch, und auf der Hülle tanzten fieberhaft verzerrte Symbole. Es drehte sich und berührte mit den unteren Extremitäten eine der vier Hauptstützen, die die Aussichtsplattform trugen. Die gesamte Konstruktion rutschte ein paar Meter zur Seite, begleitet von einem schrecklichen metallischen Knirschen. Durch die Lücke, wo die Treppe endete, sah Floyd, wie tonnenweise Gusseisen auf Paris hinunterstürzte. Aber das sterbende Schiff war noch nicht tot. Es drehte sich immer weiter und stieß gegen die Reste des Turmaufbaus. Ein weiterer Ruck folgte – der sie beinahe aus der engen Zuflucht im Treppenschacht geschleudert hätte.

»Da!«, rief Floyd entsetzt.

Caliskans kleines Pfeilschiff rutschte über die Kante der Plattform, stürzte in die Tiefe und schlug gegen den Turm. Es wurde immer kleiner, während es weiterstürzte, sich überschlug und gelegentlich von den Metallbeinen des Turmes abprallte. In der Nähe des Bodens wurde es von einem Feuerball auseinander gerissen, der wie ein von Adern durchzogenes Gehirn aussah. Floyd spürte, wie der Turm heftiger als je zuvor erschüttert wurde. Das andere geparkte Schiff – das, in dem sie eingetroffen waren – war zur Mitte der Plattform geschlittert, als sich die Neigung verstärkt hatte. Es war nur noch ein geeigneter Ruck nötig, um es über den Rand kippen zu lassen.

»Damit ist unser bevorzugter Fluchtweg dahin«, sagte Floyd.

»Dann müssen wir das andere Shuttle nehmen. Ob es noch flugfähig ist, werden wir erst wissen, wenn wir dort sind. Dann steht uns allerdings nicht mehr die Möglichkeit offen, in dieses Versteck zurückzukehren.«

»Ich bin bereit, das Risiko einzugehen.«

»Dann nichts wie los!«

Auger verließ die Deckung des Treppenschachts, dicht gefolgt von Floyd. Sie liefen gebückt, um dem Wind nicht so viel Angriffsfläche zu bieten, und duckten sich so oft wie möglich hinter Hindernissen. Auger benutzte wieder die Waffe und feuerte sie mit der gleichen übermenschlichen Präzision ab wie zuvor. Manchmal schaute sie gar nicht in die Richtung, in die sie schoss, aber sie traf jedes Mal ihr Ziel. Die Waffe fügte den zwei noch übrigen Leuten des Suchtrupps nur oberflächlichen Schaden zu – entweder hatte sie nicht mehr genug Saft, oder die Männer hatten ihren Schutz verstärkt –, aber zumindest hatten sie jetzt keine Rückendeckung durch das große Schiff mehr. Stattdessen näherten sie sich nun dem Shuttle der Twentieth und streckten einen Tentakel aus silbrigem Licht aus, der den Zugang zur Tür versperrte. Der Tentakel wand sich wellenförmig in der Luft, und die Spitze wurde breiter, um den Zugang effizienter zu verschließen. Gleichzeitig krochen zwei dünnere Tentakel auf Auger und Floyd zu und peitschten wie lose Trossen über ihnen durch die Luft. Auger feuerte weiter, sowohl auf die Tentakel als auch auf die verschmolzene Rüstung, von der sie ausgingen. Ihre Treffsicherheit war immer noch tadellos, doch selbst Floyd bemerkte, dass sie nun sparsamer mit den Schüssen umging. Sie konnte die zwei Tentakel über ihnen nur mit Mühe abwehren.

»Sie sind definitiv geschwächt«, sagte sie zwischen zwei keuchenden Atemzügen. »Sie können ihre Rüstungen nicht unbegrenzt ausdehnen. Bedauerlicherweise geht mir langsam die Energie aus.«

Sie waren nur noch etwa zehn Meter vom Shuttle entfernt und gingen vorübergehend hinter einer Masse aus zusammengebrochenem Metall in Deckung. Die Tür wurde immer noch durch den Haupttentakel verschlossen. Nach dem, was er mit Cassandra angestellt hatte, war klar, dass sie es nicht schaffen würden, lebend hindurchzukommen.

»Wir können jetzt nicht aufgeben«, sagte Floyd.

»Wir werden auch nicht aufgeben. Aber diese kontrollierten Entladungen reichen nicht aus. Die Waffe hat gerade noch genug Energie für sechs Schüsse in normaler Stärke. Ich werde jetzt die gesamte Restladung mit einem Mal freisetzen. Das wird die Waffe nicht überstehen, aber das spielt jetzt sowieso keine Rolle mehr.«

»Tu, was du für richtig hältst.«

»Es wird sie nicht töten«, sagte sie. »Aber es wird ihnen den Wind aus den Segeln nehmen.«

Sie nahm die nötigen Einstellungen an der Waffe vor. »Ganz gleich, was geschieht, ich möchte, dass du wie der Teufel zu dieser Luftschleuse rennst. Geh ins Schiff und warte nicht, wenn ich nicht hinter dir bin.«

»Ohne dich werde ich nirgendwohin gehen.«

»Die Maschinen werden sich um dich kümmern. Wollen wir nur hoffen, dass es nicht so weit kommt.«

Die Tentakel peitschten über ihnen und senkten sich langsam abwärts, wobei sie sich zu scharfen, dünnen Klingen streckten.

»Was auch immer du tun willst«, sagte Floyd, »jetzt wäre der passende Moment, es zu tun.«

Sie hob die Waffe, auf Armeslänge ausgestreckt, und zielte auf die verbundenen Körper der Slasher. Die Waffe feuerte wie zuvor, aber mit wesentlich größerer Intensität. Der Lichtstrahl stach in die vereinigten Gestalten und sprengte ihre Rüstung in einem hellen silbernen Blitz ab. Dann blitzte die Waffe selbst in Augers Hand auf. Sie hielt sie noch so lange fest, bis die Energie versiegt war, dann warf sie das glühende und funkensprühende Ding mit einem Schrei der Wut oder des Schmerzes fort.

»Lauf!«, rief sie.

Die Waffe hatte den zwei Slashern offenkundig ernste Schwierigkeiten bereitet. Die Rüstung bewegte sich wabbelnd und oszillierend wie Gelee. Die spitzen Tentakel hatten sich in die Hauptmasse zurückgezogen, während der Tentakel vor der Tür abgetrennt worden war und sich wie eine enthauptete Schlange wand. Der Eingang zum Shuttle war nun unbewacht. Floyd rannte hinüber und riss den dicken gestreiften Griff herunter, der offensichtlich dazu gedacht war, die Tür von außen zu öffnen. Zu seiner Erleichterung schob sich die Tür tatsächlich nach oben, verschwand im Rumpf und ließ ihn in die kleine Kabine einsteigen, in der die Luft ausgetauscht wurde. Er blickte sich um und erwartete, dass sich Auger jeden Augenblick gegen ihn drückte.

Aber sie war nicht bei ihm. Sie hatte sich kaum von der Stelle entfernt, wo sie die Waffe abgefeuert hatte. Sie lag auf der Seite, und eine Hand war nur noch ein verkohlter Stumpf, nachdem die Waffe explodiert war. Sie kroch über die eiserne Plattform, einen mühsamen Zentimeter nach dem anderen.

»Floyd«, stieß sie mit Mühe hervor. »Verschwinde! Sofort!«

»Ich lasse dich hier nicht zurück.«

»Ich werde mich um Auger kümmern. Sieh zu, dass du von hier weggkommst!«

Er blickte zum Rest des Suchtrupps hinüber. Einer der beiden – der Mann, den Caliskan verletzt hatte – lag jetzt ungeschützt am Boden. Die noch übrige Rüstungsblase hatte sich um den anderen Slasher zusammengezogen, aber die fließende Form hatte etwas Nervöses und Unkoordiniertes, als würde sich auch die Rüstung unter Schmerzen winden. Das abgetrennte Stück jedoch bewegte sich immer noch peitschend und arbeitete sich langsam auf die Hauptmasse zu. Wenn es sie erreicht hatte, würde die Rüstung vermutlich wieder stärker werden …

Floyd verließ das Shuttle und lief über die Aussichtsplattform zu Auger.

»Verschwinde endlich von hier!«, sagte sie.

Er ging in die Knie und hob sie auf. Beinahe hätte er es nicht geschafft – schließlich trugen sie beide schwere Schutzanzüge, und Floyd war nicht gerade für solche Aktionen ausgebildet worden.

»Niemand wird hier irgendwen zurücklassen«, sagte er und versuchte ihr Gewicht so auf seinen Armen zu verteilen, dass er nicht umkippte, wenn er aufzustehen versuchte. »Mir ist aufgefallen, dass du es nicht so eilig hattest, Auger zu verlassen, wie du es mit deinem eigenen Körper gemacht hast.«

»Es ist ganz allein meine Sache, ob ich meinen eigenen Körper aufgeben will«, sagte sie. »Aber mit dem Körper von jemand anderem macht man so etwas nicht.«

Floyd erhob sich wankend, fand sein Gleichgewicht und kehrte zum wartenden Schiff zurück. »Auch wenn es dich das Leben kostet?«, fragte er vor Anstrengung keuchend.

»Sprich nicht, Floyd. Geh weiter.«

Er erreichte die Tür des Shuttles und legte Auger in der inneren Kammer ab. Dann zwängte er sich ebenfalls in den engen Raum und fand das Gegenstück zum gestreiften Griff, den er an der Außenseite betätigt hatte. Er riss ihn herunter und wartete, dass sich die Tür schloss.

Das angeschlagene Slasher-Schiff hatte unten am Fuß des Turms endlich den Boden erreicht. Als die Tür nach unten glitt, sah Floyd, wie es starb und die Nase von Eis und Feuer verschlungen wurde. Der Kadaver fiel in sich zusammen, während darauf tausend winzige Explosionen erblühten. Daneben bebte der Turm voller Mitgefühl und verlor noch mehr Teile der morschen Aufbauten.

»Ich glaube, in Kürze wird sich Guy de Maupassants sehnlichster Wunsch erfüllen«, sagte Floyd.

 

Er hatte einen letzten Blick auf den Turm und das Marsfeld, als das Shuttle in die Wolken aufstieg. Gewaltige Explosionen zerrissen das, was noch vom abgestürzten Kommunitäten-Schiff übrig war. Kreisrunde Schockwellen jagten vom Zentrum der Vernichtung fort, dem Verteidigungsring entgegen. Paris erbebte. Langsam, wie eine verwundete Riesengiraffe, begann der Turm mit dem endgültigen Einsturz. Ein Bein unter der dritten Aussichtsplattform knickte ein und zersplitterte in Millionen Eisenscherben. Die übrigen drei Beine konnten den Aufbau nicht mehr tragen, obwohl es ein paar Sekunden lang so aussah, als würden sie es doch schaffen. Doch nun hatte ein Prozess eingesetzt, der nur noch ein mögliches Ende haben konnte. Nach einer jahrhundertelangen Pattsituation siegte die Schwerkraft über verbogene Eisenstreben und verrostete Bolzen. Die Schieflage des Turms wurde stärker, und die noch vorhandenen Beine bogen sich langsam unter der Belastung. Hundert Tonnen schwere Streben sprangen aus den Halterungen und flogen wie Spielkarten durch die Luft. Als Tausende Tonnen Metall in den Boden krachten, stieg ein Schleier aus zermahlenem Eis mehrere hundert Meter hoch empor. Er bildete eine Art Vorhang, der die letzten Augenblicke des Turms verbarg. Floyd sah, wie die oberste Aussichtsplattform kippte und ins Weiß abtauchte, begleitet von zuckenden Blitzen. Dann wandte er den Blick ab, weil ein Teil von ihm das Geschehen nicht bis zum bitteren Ende mit ansehen wollte.

Er entschied, dass ihm sein eigenes Paris trotz aller Fehler lieber war.

Schade nur, dass er es nie wiedersehen würde.