Drei

 

 

Floyd bog mit dem Mathis in eine schmale Seitenstraße zwischen hohen Mietshäusern ab. Er war seit Jahren nicht mehr in der Rue des Peupliers gewesen, und in seiner Erinnerung bestand sie aus geborstenem Asphalt, vernagelten Läden und schmuddeligen Pfandleihern. Inzwischen war die Straße sauber asphaltiert, und bei den geparkten Autos handelte es sich durchweg um blitzblanke 50er-Jahre-Modelle, tiefliegend und kraftvoll wie lauernde Panther. Die frisch gestrichenen Laternenpfähle glänzten im elektrischen Licht. Die Geschäfte im Erdgeschoss wirkten allesamt dezent und hochklassig: Uhrmacher, Antiquariate, exklusive Juweliere, ein Geschäft für Landkarten und Globen, eins, das auf Füllfederhalter spezialisiert war. Als der Nachmittag zum Abend wurde, malten die Schaufenster einladende helle Lichtrechtecke auf den dunklen Bürgersteig.

»Da wäre Nummer dreiundzwanzig«, sagte Floyd und hielt auf einem Parkplatz neben dem Wohnhaus, das Blanchard als Adresse angegeben hatte. »Hier muss sie gestürzt sein«, fügte er hinzu und machte eine Kopfbewegung in Richtung eines Stücks Bürgersteig, das offensichtlich vor kurzem gesäubert worden war. »Muss von einem der Balkone über uns gewesen sein.«

Custine blickte aus dem Seitenfenster. »Da ist nirgendwo ein beschädigtes Geländer. Es sieht auch nicht so aus, als wäre eins in letzter Zeit ersetzt und neu gestrichen worden.«

Floyd streckte die Hand nach hinten, und Custine reichte ihm Notizbuch und Filzhut. »Wir werden sehen.«

Als sie ausstiegen, trat ein kleines Mädchen in abgewetzten schwarzen Schuhen und fleckigem Kleid aus dem Haus auf die Straße. Floyd wollte der Kleinen gerade zurufen, dass sie die Tür nicht zufallen lassen sollte, aber als er ihr Gesicht sah, blieben ihm die Worte im Hals stecken. Selbst im schwindenden Tageslicht war eine Ahnung von Entstellung oder Sonderbarkeit zu spüren. Er beobachtete, wie sie über die Straße davonrannte und schließlich im Schatten zwischen den Laternen verschwand. Schicksalsergeben versuchte Floyd es mit der verglasten Tür, durch die das Mädchen gekommen war, und fand sie verschlossen vor. Daneben war eine Klingeltafel mit den Namen der Bewohner angebracht. Er fand Blanchards Namen und drückte auf den dazugehörigen Knopf.

Sofort kam eine knisternde Stimme aus der Gegensprechanlage. »Sie sind spät dran, Monsieur Floyd.«

»Heißt das, unsere Verabredung ist abgesagt?«

Statt einer Antwort erklang ein Summen. Custine drückte versuchsweise gegen die Tür, die sich einen Spaltbreit öffnete.

»Mal sehen, wie sich die Sache entwickelt«, sagte Floyd. »Das übliche Programm: Ich übernehme das Reden, du setzt dich dazu und beobachtest.«

So arbeiteten sie für gewöhnlich. Floyd hatte schon vor langer Zeit festgestellt, dass sein nicht ganz perfektes Französisch die Menschen einlullte und sie dazu brachte, mit Sachen herauszuplatzen, die sie normalerweise für sich behalten würden.

Der Flur führte direkt zu einem mit Teppichboden ausgelegten Treppenhaus, in dem sie bis zum Absatz im dritten Stock hochstiegen. Oben angekommen keuchten sie vor Anstrengung. Drei der Türen waren geschlossen, aber die vierte stand einen Spaltbreit offen. Ein schmaler Streifen elektrischen Lichts fiel auf den ausgetretenen Teppichboden. Durch den Türspalt spähte ein Auge. »Hier entlang, Monsieur Floyd. Bitte!«

Die Tür öffnete sich weit genug, um Floyd und Custine in ein Wohnzimmer treten zu lassen, dessen Vorhänge bereits zugezogen waren, um die Dämmerung auszusperren.

»Das ist mein Partner André Custine«, sagte Floyd. »Da es sich um eine Morduntersuchung handelt, dachte ich mir, dass zwei Augenpaare wahrscheinlich besser sind als eines.«

Blanchard nickte ihnen höflich zu. »Möchten Sie einen Tee? Der Kessel ist noch heiß.«

Custine wollte etwas sagen, aber Floyd dachte bereits daran, wie knapp die Zeit bis zu seinem Treffen mit Greta war, und kam ihm zuvor. »Das ist sehr freundlich, Monsieur, aber es ist wohl am besten, wenn wir gleich mit den Ermittlungen fortfahren.« Er nahm seinen Filzhut ab und legte ihn auf einen leeren Schachtisch. »Womit möchten Sie anfangen?«

»Ich bin davon ausgegangen, dass Sie die Richtung der Ermittlungen vorgeben würden«, sagte Blanchard, während er die Tür hinter ihnen schloss.

Floyds geistiges Bild vom Telefonanrufer erwies sich als erstaunlich nahe an der Wirklichkeit. Blanchard war ein dünner, alter Herr in den Siebzigern mit einer Hakennase, auf der halbrunde Brillengläser klemmten. Er trug eine Art Fes oder Nachtmütze, die sich einer genaueren Definition entzog, dazu ein gestepptes Nachthemd über einem gestreiften Schlafanzug. Seine Füße steckten in dicken Filzpantoffeln.

»Vielleicht sollten Sie noch einmal von vorn anfangen«, sagte Floyd. »Erzählen Sie mir von diesem amerikanischen Mädchen. Was wissen Sie über sie?«

»Sie war eine Mieterin, und sie hat ihre Miete immer pünktlich gezahlt.« Einen Moment lang stocherte Blanchard mit einem Schürhaken in der Asche im riesigen Jugendstil-Kamin herum. Auf dem Kaminsims beäugten zwei Buchstützen in Eulenform den Vorgang mit Edelsteinaugen. Floyd und Custine quetschten sich unbehaglich nebeneinander aufs Sofa.

»Das ist alles?«, hakte Floyd nach.

Blanchard blickte von der Feuerstelle auf. »Sie war drei Monate hier, bis zu ihrem Tod. Sie hatte das Zimmer zwei Stockwerke über diesem. Sie hätte lieber ein Zimmer etwas weiter unten gehabt – ich glaube, ich habe bereits erwähnt, dass sie keine Höhen mochte –, aber es stand keins zur Verfügung.«

»Hat sie sich bei Ihnen deswegen beschwert?«, fragte Floyd. Sein Blick wanderte die Wand entlang, fiel auf eine Reihe afrikanischer Masken und Jagdtrophäen, von denen keine aussah, als sei sie in letzter Zeit abgestaubt worden. Eine Portraitfotografie, die ein hübsches junges Paar vor dem Eiffelturm zeigte, hing neben der Tür. Die Kleidung und der etwas steife Gesichtsausdruck der beiden ließen darauf schließen, dass das Foto vor mindestens fünfzig Jahren gemacht worden war. Floyd musterte das Gesicht des jungen Mannes und verglich es mit dem des alten Herrn, der ihr Gastgeber war.

»Ja, sie hat sich bei mir beschwert«, antwortete Blanchard und ließ sich in einem Stuhl nieder. »Aber nicht bei ihrem Vermieter.«

»Ich dachte, Sie wären …«, setzte Floyd an.

»Ja, ich war ihr Vermieter, aber das wusste sie nicht. Keiner der Hausbewohner weiß, dass ich etwas anderes bin als ein weiterer Mieter. Sie zahlen ihre Miete über einen Mittelsmann.«

»Eine sonderbare Regelung«, bemerkte Floyd.

»Aber ausgesprochen nützlich. So erfahre ich sowohl von ihren offiziellen Beschwerden und Unzufriedenheiten als auch von den inoffiziellen, einfach, indem ich mich im Treppenhaus mit ihnen unterhalte. Die fragliche Frau hat ihr Unbehagen niemals in schriftlicher Form zum Ausdruck gebracht, aber sie hat sich jedes Mal, wenn wir uns begegnet sind, über ihr Zimmer beschwert.«

Floyd warf seinem Partner einen Blick zu und sah dann wieder zu Blanchard. »Wie war der Name dieses Mädchens, Monsieur?«

»Sie hieß Susan White.«

»War sie verheiratet?«

»Sie trug keinen Ehering, und sie hat auch nie jemanden erwähnt.«

Floyd notierte sich die Information. »Hat sie Ihnen gesagt, wie alt sie war?«

»Ich glaube nicht, dass sie älter war als fünfunddreißig. Vielleicht sogar erst dreißig. Es war nicht leicht zu erkennen. Sie trug nicht so viel Make-up wie andere junge Frauen, wie die anderen Mieterinnen.«

Custine meldete sich zu Wort. »Hat sie Ihnen erzählt, was sie gemacht hat, bevor sie hierher gekommen ist?«

»Nur, dass sie Amerikanerin und recht gut auf der Schreibmaschine war. Apropos Schreibmaschine …«

»Woher aus Amerika?«, unterbrach Floyd, als ihm einfiel, dass Blanchard sich nicht ganz sicher gewesen war, als sie am Telefon miteinander gesprochen hatten.

»Dakota. Jetzt erinnere ich mich sehr deutlich daran. Sie hat gesagt, dass man es ihrem Akzent anhören könnte.«

»Also hat sie sich auf Englisch mit Ihnen unterhalten?«, fragte Floyd.

»Dann und wann, wenn ich sie darum gebeten habe. Ansonsten war ihr Französisch etwa so gut wie das von Ihnen.«

»Tadellos«, sagte Floyd lächelnd. »Für einen Ausländer.«

»Was hat Mademoiselle White in Paris gemacht?«, fragte Custine.

»Das hat sie mir nie erzählt, und ich habe nie danach gefragt. Allerdings konnte sie sich offenbar problemlos finanzieren. Vielleicht hatte sie eine Anstellung, aber das hätte bedeutet, dass sie ziemlich unregelmäßige Arbeitszeiten hatte.«

Floyd blätterte sein Notizbuch um und drückte die Seite fest an, damit das Papier die Tinte von den Notizen, die er sich bereits gemacht hatte, aufsaugte. »Klingt nach einer Touristin, die ein paar Monate in Paris verbringen und dann Weiterreisen wollte. Darf ich Sie fragen, wie Sie sich kennen gelernt haben und wie weit Ihre Beziehung ging?«

»Es war eine ganz und gar harmlose Bekanntschaft. Wir sind uns zufällig in Longchamp begegnet.«

»Beim Rennen?«

»Genau. Wie ich sehe, ist Ihnen die Fotografie von meiner verstorbenen Frau und mir aufgefallen.«

Floyd nickte, ein wenig beschämt, dass sein forschender Blick so offensichtlich gewesen war. »Sie war sehr hübsch.«

»Die Fotografie kann der Wirklichkeit nicht annähernd das Wasser reichen. Ihr Name war Claudette. Sie starb neunzehnhundertvierundfünfzig – vor nur fünf Jahren, aber es kommt mir vor, als hätte ich mein halbes Leben ohne sie verbracht.«

»Das tut mir Leid«, sagte Floyd.

»Claudette war vom Rennen begeistert.« Blanchard stand erneut auf und stocherte ohne sichtbare Ergebnisse im Feuer herum. Dann setzte er sich mit knackenden Gelenken. »Nach ihrem Tod konnte ich mich lange Zeit nicht dazu aufraffen, die Wohnung zu verlassen, ganz zu schweigen davon, wieder zum Rennen zu gehen. Aber eines Tages überwand ich mich dazu, genau das zu tun. Ich wollte in ihrem Andenken etwas Geld auf ein Pferd setzen. Ich sagte mir, dass sie es so gewollt hätte, aber ich fühlte mich trotzdem ein wenig schuldig, dass ich allein dort war.«

»So etwas sollten Sie nicht denken«, sagte Floyd.

Blanchard blickte ihn an. »Waren Sie jemals verheiratet, Monsieur Floyd, oder haben Sie schon einmal einen geliebten Menschen an eine lange, schwere Krankheit verloren?«

Ernüchtert blickte Floyd zu Boden. »Nein, Monsieur.«

»Dann können Sie – bei allem gebotenen Respekt – nicht wissen, wie das wirklich ist. Dieses Gefühl des Verrats … so absurd es auch sein mag. Aber dennoch habe ich weitergemacht, jede Woche ein bisschen Geld zurückgelegt und ab und zu kleine Beträge gewonnen. Und dabei habe ich Susan White getroffen.«

»Hat das Mädchen gewettet?«

»Nicht ernsthaft. Sie hat mich nur als einen der anderen Hausbewohner erkannt und mich gefragt, ob ich ihr bei einer kleinen Wette behilflich sein kann. Im ersten Moment wollte ich gar nichts mit ihr zu tun haben, weil ich mich von Claudette beobachtet gefühlt habe, so dumm sich das auch anhören mag.«

»Aber Sie haben ihr geholfen.«

»Ich sagte mir, dass es nicht schaden konnte, ihr zu zeigen, wie man mit dem Wettbogen umgeht, und sie hat eine entsprechende Wette platziert. Zu ihrer großen Überraschung hat ihr Pferd gewonnen. Daraufhin hat sie sich dann ein- bis zweimal die Woche mit mir beim Rennen verabredet. Ehrlich gesagt glaube ich, dass die Pferde sie mehr fasziniert haben als das Geld. Ich konnte immer wieder beobachten, wie sie die Pferde anstarrte, die auf der Jockeybahn ihre Runden drehten. Als hätte sie noch nie zuvor ein Pferd gesehen.«

»Vielleicht gibt es in Dakota keine Pferde«, überlegte Custine.

»Und weiter ging es nicht?«, fragte Floyd. »Sie haben sich ein- oder zweimal die Woche beim Rennen getroffen?«

»So fing es an«, antwortete Blanchard. »Und vielleicht hätte es damit auch enden sollen. Aber ich stellte fest, dass ihre Gesellschaft mir Freude bereitete. Ich sah in ihr etwas von meiner verstorbenen Frau. Sie hatte die gleiche Lebensfreude, die gleiche kindliche Begeisterungsfähigkeit für die einfachsten Dinge. Aber das wirklich Erstaunliche war, dass auch sie offenbar Gefallen an meiner Gesellschaft fand.«

»Also haben Sie sich später auch außerhalb der Rennbahn getroffen?«

»Ein- oder zweimal die Woche lud ich sie in meine Wohnung ein. Dann haben wir Tee oder Kaffee getrunken und manchmal ein Stück Kuchen gegessen. Dabei haben wir uns über alles Mögliche unterhalten, was uns in den Sinn kam. Das heißt, meistens habe ich geredet, weil sie für gewöhnlich mit Dasitzen und Zuhören zufrieden zu sein schien.« Kleine Fältchen durchzogen Blanchards Gesicht, als er lächelte. »Irgendwann habe ich dann gesagt: ›Jetzt sind Sie dran – ich habe unsere Unterhaltung schon genug in Beschlag genommen‹, worauf sie antwortete: ›Nein, nein, ich höre Ihre Geschichten wirklich gern.‹ Und das Sonderbare ist, dass sie dabei immer ganz und gar aufrichtig gewirkt hat. Wir haben über alles Mögliche geredet: über die Vergangenheit, über Filme, übers Theater …«

»Und hatten Sie jemals die Gelegenheit, ihre Wohnung von innen zu sehen?«

»Natürlich – ich war schließlich ihr Vermieter. Wenn sie nicht da war, konnte ich einfach den Nachschlüssel benutzen. Ich habe nicht herumgeschnüffelt«, fügte er verteidigend hinzu und beugte sich zur Bekräftigung vor. »Ich habe den anderen Mietern gegenüber die Pflicht, dafür zu sorgen, dass die vertraglichen Bedingungen eingehalten werden.«

»Selbstverständlich«, sagte Floyd. »Ist Ihnen etwas aufgefallen, als Sie da drinnen nicht herumgeschnüffelt haben?«

»Nur, dass es immer sehr sauber und aufgeräumt war, und dass sie eine beachtliche Sammlung von Büchern, Schallplatten, Magazinen und Zeitungen hatte.«

»Also mit anderen Worten: ein richtiger kleiner Bücherwurm. Das ist allerdings kein Verbrechen, oder?«

»Nicht, wenn sich die Gesetze nicht geändert haben.« Blanchard hielt inne. »Allerdings gab es da etwas, das mir ziemlich ungewöhnlich vorkam. Soll ich es Ihnen sagen?«

»Kann nicht schaden.«

»Es waren immer wieder andere Bücher. Von einem Tag auf den anderen änderte sich zwar nichts, aber von Woche zu Woche waren es immer wieder neue. Und das Gleiche galt für die Magazine und Zeitungen. Es sah aus, als würde sie alles sammeln und dann anderswo unterbringen, um Platz für Neues zu schaffen.«

»Vielleicht hat sie genau das getan«, gab Floyd zu bedenken. »Wenn sie eine reiche Touristin war, hat sie vielleicht regelmäßig Pakete nach Hause geschickt.«

»Diese Möglichkeit hatte ich auch in Erwägung gezogen.«

»Und?«, fragte Floyd.

»Eines Tages bin ich ihr zufällig auf der Straße begegnet, weit weg von ihrer Wohnung. Es war reiner Zufall. Sie ging die Rue Monge entlang, zur Métro-Station am Cardinal Lemoine, im fünften Arrondissement. Sie mühte sich mit einem Koffer ab, und mir kam der Gedanke, dass sie vielleicht ihre Sachen gepackt hatte, um abzureisen.«

»Und die Miete zu prellen?«

»Nur dass sie schon bis zum Monatsende im Voraus bezahlt hatte. Weil ich ein schlechtes Gewissen wegen meiner Verdächtigungen hatte, beschloss ich, sie einzuholen und ihr mit dem Koffer zu helfen. Aber ich bin ein alter Mann und war nicht schnell genug. Beschämt, dass ich ihr nicht hatte helfen können, sah ich zu, wie sie in der U-Bahn-Station verschwand.« Blanchard nahm eine von mehreren geschnitzten Pfeifen auf einem Beistelltisch zur Hand und musterte sie gedankenverloren. »Ich dachte, damit wäre diese Angelegenheit erledigt, aber genau so schnell, wie sie verschwunden war, tauchte sie wieder auf. Es waren höchstens ein oder zwei Minuten vergangen, seit sie den Bahnhof betreten hatte, und sie trug noch immer den Koffer. Doch diesmal sah er sehr viel leichter aus. Es war ein windiger Tag, und der Koffer schwang gegen ihre Hüfte.«

»Haben Sie das alles auch der Polizei erzählt?«, wollte Floyd wissen.

»Das habe ich, aber es hat sie nicht interessiert. Sie haben gesagt, ich hätte mir den ganzen Vorfall nur eingebildet – oder ich hätte mir eingebildet, dass der Koffer vorher schwerer war als hinterher.«

Floyd machte sich eine sorgfältige Notiz – ohne zu wissen, warum –, dass es sich hierbei um eine wichtige Beobachtung handelte. »Und das sind die ›Hinweise‹ auf ein Verbrechen, die Sie am Telefon erwähnten?«

»Nein«, antwortete Blanchard. »Damit habe ich etwas ganz anderes gemeint. Zwei oder drei Wochen vor ihrem Tod änderte sich Mademoiselle Whites Verhalten. Sie kam nicht mehr zum Rennen, stattete mir keine Besuche mehr ab und verbrachte mehr und mehr Zeit außerhalb ihrer Wohnung. Bei den wenigen Gelegenheiten, als wir uns im Treppenhaus begegneten, wirkte sie abwesend.«

»Haben Sie daraufhin einen Blick in ihr Zimmer geworfen?«

Blanchard zögerte einen Augenblick, dann nickte er. »Sie hatte aufgehört, Bücher und Magazine zu sammeln. In ihrer Wohnung waren zwar noch eine ganze Menge, aber es gab keine Anzeichen, dass neue hinzugekommen oder alte fortgeschafft worden waren.«

Floyd warf Custine einen Blick zu. »Na schön. Irgendwas muss sie also beschäftigt haben. Ich habe eine Theorie. Möchten Sie sie hören?«

»Bezahle ich bereits dafür? Wir haben noch gar nicht über die Bedingungen gesprochen.«

»Dazu kommen wir, wenn wir dazu kommen. Ich glaube, dass Mademoiselle White einen Liebhaber hatte. Sie hat sich in den letzten drei Wochen vor ihrem Tod mit jemandem getroffen.« Floyd beobachtete Blanchard genau, während er sich fragte, wie viel von alldem der alte Herr wirklich hören wollte. »Sie hat Zeit mit Ihnen verbracht – völlig unschuldig, das ist mir klar –, aber ihr neuer Liebhaber wollte sie plötzlich ganz für sich allein. Keine Besuche mehr beim Rennen, kein gemütlicher Plausch mehr in diesem Zimmer.«

Blanchard schien die Theorie abzuwägen. »Und die Sache mit den Büchern?«

»Hier kann ich nur raten, aber vielleicht hatte sie plötzlich Besseres zu tun, als sich in Buchläden und an Zeitungsständen herumzutreiben. Sie hat das Interesse daran verloren, ihre Bücherei aufzustocken, also gab es auch keinen Grund mehr, Pakete nach Dakota zu schicken.«

»Das sind sehr viele gewagte Schlussfolgerungen«, sagte Blanchard, »auf der Grundlage eines auffälligen Mangels an Beweisen.«

»Ich habe gesagt, dass es sich um eine Theorie handelt, nicht um einen wasserdichten Fall.« Floyd zog einen Zahnstocher hervor und kaute darauf herum. »Ich sage nur, dass die Sache vielleicht weniger geheimnisvoll ist, als sie auf den ersten Blick erscheint.«

»Und ihr Tod?«

»Der Sturz kann nach wie vor ein Unfall gewesen sein.«

»Ich bin mir sicher, dass sie gestoßen wurde.« Blanchard griff unter seinen Stuhl und holte eine zerkratzte Keksdose mit Schottenkaromuster und der Fotografie eines Highland-Terriers auf dem Deckel hervor. »Vielleicht wird Sie das hier überzeugen.«

Floyd nahm die Blechdose entgegen. »Ich muss wirklich auf meine Figur achten.«

»Bitte öffnen Sie sie.«

Floyd zog den Deckel mit den Fingernägeln auf. In der Dose befand sich ein von einem Gummiband zusammengehaltenes Bündel Zettel und Papiere.

»Erklären Sie mir lieber, was das genau zu bedeuten hat«, sagte Floyd verwirrt.

»Weniger als eine Woche vor ihrem Tod klopfte Mademoiselle White an meine Tür. Sie starb am zwanzigsten – es muss also um den fünfzehnten oder sechzehnten gewesen sein. Ich ließ sie ein. Sie war immer noch durcheinander und zerstreut, aber wenigstens war sie wieder dazu bereit, mit mir zu reden. Zuerst entschuldigte sie sich für ihre Unhöflichkeit in den vergangenen zwei Wochen und sagte mir, wie sehr sie die Pferde vermisste. Dann gab sie mir diese Dose.«

Floyd zog das Gummiband vom Bündel ab und breitete die Papiere auf seinem Schoß aus. »Was hat sie Ihnen noch erzählt?«

»Nur dass sie Paris vielleicht sehr schnell würde verlassen müssen und dass ich auf die Dose aufpassen sollte, falls sie nicht mehr zurückkäme, um sie abzuholen.«

Floyd warf einen schnellen Blick auf die Papiere. Es handelte sich um Reisedokumente, Quittungen, Karten, Zeitungsausschnitte. Darunter befand sich auch eine sorgfältig beschriftete Bleistiftskizze von etwas Rundem, das er nicht erkannte. Und eine Postkarte mit einer vergilbten Fotografie von Notre Dame. Floyd drehte sie um und stellte fest, dass die Karte beschrieben und mit einer Briefmarke versehen, aber nie abgeschickt worden war. Die Handschrift war sauber und mädchenhaft, mit übertriebenen Bogen und Schnörkeln. Sie war an einen Mr. Caliskan adressiert, der in Tanglewood, Dakota, lebte.

»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich die Karte lese?«

»Nur zu, Monsieur Floyd.«

Im ersten Teil des Textes erzählte die Frau, dass sie vorhatte, den Nachmittag mit einem Einkaufsbummel zu verbringen, um sich nach Silberschmuck umzusehen, aber dass sie vielleicht ihre Pläne ändern musste, falls es Regen gäbe. Die Worte »Silber« und »Regen« waren sorgfältig unterstrichen. Das kam Floyd im ersten Moment sonderbar vor, doch dann erinnerte er sich an eine ältere Tante, die die Angewohnheit gehabt hatte, in ihren Briefen bestimmte Schlüsselwörter zu unterstreichen. Die Postkarte war mit »Susan« unterschrieben. Floyd nahm an, dass sie eher für einen Onkel oder Großvater als für einen Liebhaber oder engen Freund bestimmt gewesen war.

Er faltete eine der Karten auf. Er hatte mit einem Touristenstadtplan von Paris oder einer Frankreichkarte gerechnet, aber dies war eine Karte von ganz Westeuropa in kleinem Maßstab, von Königsberg im Norden bis Bukarest im Süden, von Paris im Westen bis Odessa im Osten. Um Paris und Berlin waren Kreise eingezeichnet, die mit einer schnurgeraden Linie in der gleichen Tintenfarbe verbunden waren. Um Mailand war ein weiterer Kreis gezogen, der wiederum durch eine Linie mit Paris verbunden war. Insgesamt war es so etwas wie ein »L«, mit Paris im Winkel des Buchstaben und Berlin am Ende der längeren Linie. Über den Linien waren in sauberer Schrift die zwei Zahlen eingetragen:

»875« über der Paris-Berlin-Achse und »625« neben der zwischen Paris und Mailand. Floyd schätzte, dass es sich um die Entfernungen zwischen den jeweiligen Städten handelte, allerdings in Kilometern und nicht in Meilen.

Er kratzte mit dem Fingernagel über die Tinte, um sich zu vergewissern, dass es sich nicht um einen Teil der ursprünglichen Karte handelte. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was die Markierungen zu bedeuten hatten, aber er nahm zumindest an, dass Susan White vielleicht die nächste Etappe ihrer Reise geplant und die Entfernungen zwischen Paris und den anderen Städten gemessen hatte, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Aber wozu musste ein Tourist solche Entfernungen so genau wissen? Schließlich folgten Züge und selbst Flugzeuge keinen geraden Linien, sondern mussten Rücksicht auf die geographische und politische Landschaft Europas nehmen. Aber vielleicht war ihr diese Kleinigkeit entgangen.

Floyd faltete die Karte zusammen und blätterte den übrigen Papierkram durch. Er stieß auf einen Brief in deutscher Sprache von jemandem namens Altfeld, mit Schreibmaschine auf dickem Papier verfasst und mit einem Briefkopf, der die Insignien einer Schwerindustriefirma namens Kaspar Metall zeigte. Die Absender befand sich irgendwo in Berlin, und der Brief schien eine Antwort auf eine vorangegangene Anfrage von Susan White zu sein. Mehr konnte Floyd mit seinem dürftigen Deutsch nicht übersetzen.

»Wie Liebesbriefe sehen die nicht gerade aus«, bemerkte Floyd.

»Sie hat mir noch eine weitere Anweisung gegeben«, erklärte Blanchard. »Für den Fall, dass sie nicht zurückkehrte. Sie erwähnte, dass ihre Schwester vielleicht nach ihr suchen würde. Falls das der Fall wäre, sollte ich ihr diese Dose geben.«

»Sie machte sich wegen irgendetwas Sorgen«, sagte Floyd. »Zumindest in diesem Punkt sind wir uns einig.«

»Sie sind immer noch nicht überzeugt, dass man sie vorsätzlich getötet hat? Sollten Sie nicht ganz wild darauf sein, einen Mordfall zu übernehmen? Ich werde Sie gut bezahlen. Wenn Sie keinerlei Hinweise finden, dass sie ermordet wurde, werde ich Ihr Urteil akzeptieren.«

»Ich will nicht, dass Sie Ihr Geld oder meine Zeit verschwenden«, erklärte Floyd. Custine warf ihm einen Seitenblick zu, als zweifelte er an seiner geistigen Gesundheit.

»Ich erlaube Ihnen, mein Geld zu verschwenden.«

Floyd legte die Papiere in die Dose zurück. »Warum behalten Sie das nicht einfach und warten, dass die Schwester auftaucht?«

»Weil jeder Tag, der vergeht, ein Tag mehr seit ihrem Tod ist.«

»Bei allem gebotenen Respekt, Monsieur, aber das ist wirklich nichts, worüber Sie sich den Kopf zerbrechen müssten.«

»Ich denke, das ist es sehr wohl.«

»Was hat die Polizei zur Dose gesagt?«, erkundigte sich Custine.

»Ich habe sie den Leuten gezeigt, aber natürlich hat es sie nicht interessiert. Wie ich bereits erwähnte, hat die Polizei einfach kein Vorstellungsvermögen.«

»Sie glauben, dass Mademoiselle White eine Spionin gewesen sein könnte«, riet Floyd.

»Daran hatte ich gedacht, ja. Bitte tun Sie nicht so, als hätten Sie diese Möglichkeit nicht auch schon in Erwägung gezogen.«

»Ich weiß nicht, was ich von all dem hier halten soll«, sagte Floyd. »In einem Punkt bin ich mir allerdings sicher: Es schadet nie, aufgeschlossen zu sein.«

»Dann seien Sie aufgeschlossen für die Möglichkeit, dass sie ermordet wurde. Ich schulde es dem Andenken dieser liebenswerten jungen Frau, ihren Tod nicht ungesühnt zu lassen. In meinem Herzen weiß ich, dass jemand die Verantwortung dafür trägt, Monsieur Floyd. Ich weiß auch, dass Claudette mich in diesem Moment beobachtet, und sie wäre ausgesprochen enttäuscht, wenn ich meine Pflicht Mademoiselle White gegenüber nicht erfüllen würde.«

»Das ist sehr anständig von Ihnen …«

»Es geht nicht nur um Anstand«, unterbrach Blanchard ihn schroff. »Bitte … nehmen Sie die Dose mit und schauen Sie, wohin sie Sie führt. Reden Sie mit den anderen Mietern – natürlich diskret. Vielleicht hat sie auch noch mit anderen aus dem Haus gesprochen. Was wollen wir als Vorschuss veranschlagen?«

Floyd griff in seine Jackentasche und holte eine eselsohrige Visitenkarte hervor. »Das sind meine üblichen Konditionen. Da es sich um einen Mordfall handelt, wird mein Partner mir assistieren. Das bedeutet, der Preis verdoppelt sich.«

»Ich dachte, Sie wollten mein Geld sparen.«

»Es ist Ihre Entscheidung. Aber wenn wir Mademoiselle Whites Tod untersuchen, hat es keinen Sinn, halbe Sachen zu machen. Custine und ich können doppelt so viel in der halben Zeit erledigen, wie ich allein schaffen würde.«

Blanchard nahm die Karte entgegen und steckte sie ein, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen. »Ich nehme Ihre Konditionen an. Allerdings erwarte ich für mein Geld schnelle Ergebnisse.«

»Die bekommen Sie, so oder so.«

»Das ist mir recht.«

»Ich muss wissen, was sie Ihnen über ihre Schwester erzählt hat.«

»Das ist etwas sehr Seltsames. Bis zu unserer letzten Unterhaltung, als sie mir die Dose gab, hat sie niemals von ihrer Familie gesprochen.«

»Hat sie Ihnen ihre Schwester beschrieben?«

»Ja. Sie heißt Verity. Sie hat blondes Haar, nicht rotes -Mademoiselle White hat dieses Detail sehr betont –, ansonsten ähnelt sie ihr in Größe und Körperbau.« Blanchard stemmte sich aus seinem Stuhl hoch. »Was das angeht, haben Sie Glück. Ich habe in Longchamp ein Bild von ihr gemacht.« Blanchard zog zwei Fotografien unter einer der Eulen auf dem Kaminsims hervor. »Sie können sie beide behalten.«

»Sind das Ihre einzigen Abzüge?«

»Nein. Ich habe sie vervielfältigen lassen, als ich noch davon ausging, dass sich die Polizei der Sache annehmen würde. Ich nahm an, dass man sie für Zeugenbefragungen brauchen würde.«

Floyd betrachtete eines der Bilder von Susan White. Es handelte sich um ein Ganzkörperfoto. Sie stand vor einem Geländer, und im Hintergrund war ein langgezogenes, verschwommenes Pferd im vollen Galopp zu sehen. Ihr Pagenkäppi hielt sie fest, als wollte der Wind es fortreißen. Sie lachte, überrascht und glücklich. Insgesamt sah sie nicht aus wie eine Frau, die zwei Wochen später tot sein würde.

»Sie war eine gut aussehende junge Frau«, bemerkte Blanchard und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Aber das muss ich Ihnen wohl kaum erzählen. Sie hatte wunderschönes rotes Haar. Es ist eine Schande, dass man es unter dem Hut nicht richtig erkennen kann. Normalerweise trug sie Grün. Ich finde, Rotschöpfe sehen in Grün gut aus, finden Sie nicht auch?«

»Keine Ahnung«, sagte Floyd.

Custine begutachtete das Bild. »Klasse Mädchen. Sehen sie in Amerika alle so aus?«

»Nicht in Galveston«, antwortete Floyd.

 

Zwei Stockwerke höher befand sich die Wohnung, in der die Amerikanerin die letzten drei Monate ihres Lebens verbracht hatte. Blanchard erklärte Floyd, dass das Zimmer seit ihrem Sturz unbewohnt war. »Es ist kaum etwas angerührt worden«, fügte er hinzu. »Das Zimmer ist durchgelüftet worden, aber davon abgesehen ist alles so, wie sie es hinterlassen hat. Sogar das Bett war gemacht. Sie war eine sehr ordentliche junge Frau, ganz im Gegensatz zu einigen meiner anderen Mieter.«

»Ich verstehe, was Sie mit den Büchern gemeint haben«, sagte Floyd. Die Dielen knarrten unter seinen Schritten, während er durchs Zimmer ging, um Susan Whites Sammlung zu begutachten. Bücher, Zeitschriften und Tageszeitungen bedeckten jede horizontale Fläche, eingeschlossen einen guten Teil des Bodens. Allerdings war alles ordentlich gestapelt und sortiert. Alles deutete auf eine systematische Anschaffung und Lagerung zum Zweck der Verschickung hin. Er dachte daran, wie Blanchard sie mit einem schwer beladenen Koffer auf dem Weg zur Métro-Station gesehen hatte, und gelangte zum Schluss, dass sie jede Woche Dutzende dieser Exkursionen gemacht haben musste, wenn die Sammlung sich so schnell verändert hatte, wie Blanchard behauptete.

»Vielleicht entdecken Sie darin ja irgendeine Logik, die mir entgeht«, sagte Blanchard, der noch immer zögernd in der Tür stand.

Floyd beugte sich vor, um sich einen Stapel Schallplatten anzusehen. »Gehören die hier auch zu dem Zeug, das sie gesammelt und verschickt hat?«

»Ja. Untersuchen Sie sie, wenn Sie möchten.«

Floyd blätterte durch den Stapel absolut neuwertiger Platten. Er hoffte auf irgendetwas, das ihm Aufschluss über die Denkweise dieser Frau geben würde, aber die Platten waren so unterschiedlicher Natur wie alles andere hier. Jazzplatten, von denen Floyd einige sogar selbst besaß, und eine Hand voll Aufnahmen klassischer Musik. Der Rest der Sammlung schien nach dem Zufallsprinzip zusammengestellt zu sein, ohne Rücksicht auf bestimmte Vorlieben.

»Sie mochte also Musik«, stellte er fest.

»Nur, dass sie nie auch nur eine dieser Platten abgespielt hat.«

Floyd betrachtete eine Platte genauer, studierte die Hülle und dann die Rillen mit kritisch zusammengekniffenen Augen. In letzter Zeit waren eine große Menge Raubkopien von geringer Qualität auf dem Schallplattenmarkt aufgetaucht. Für das ungeübte Ohr klangen sie akzeptabel, aber für jemanden, dem Musik wirklich etwas bedeutete, stellten sie geradezu eine Beleidigung dar. Man munkelte, dass die Fälscher irgendwo in der Gegend von Paris arbeiteten, wo sie die billigen Kopien in einem unterirdischen Presswerk herstellten. Nachdem Floyd selbst auf ein oder zwei dieser schlechten Kopien hereingefallen war, hatte er gelernt, sie zu erkennen. Wahrscheinlich waren mehr als ein paar Platten der Toten Raubkopien, aber wenn sie sie gar nicht anhörte, war sie selber schuld.

Floyd steckte die Schallplatte zurück in die Hülle und erhob sich. Dabei fiel ihm ein altes Kurbelgrammophon in einer Ecke auf, das neben einem moderneren drahtlosen Röhrenradio stand. »War das ihr Plattenspieler?«, erkundigte er sich.

»Nein. Der gehört zum Zimmer. Muss schon seit dreißig Jahren dastehen.«

»Und sie hat nie eine dieser Schallplatten darauf abgespielt?«

»Ich habe niemals Musik aus ihrem Zimmer gehört. Die wenigen Male, als ich hier vorbeigekommen bin oder in der Wohnung unter dieser war, habe ich nur Radiogeräusche gehört.«

»Was für Radiogeräusche?«

»Ich konnte nichts Genaues verstehen. Sie hatte das Radio immer sehr leise gestellt.«

Floyd strich mit dem Finger durch den Staub auf dem Radio. »Haben Sie das Gerät seit ihrem Tod benutzt?«

»Wie ich schon sagte, das Zimmer ist durchgelüftet worden. Das war alles.«

»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich nachsehe, was sie gehört hat?«

»Sie arbeiten jetzt für mich, Monsieur Floyd. Ich erlaube Ihnen, alles zu tun, was Sie für angemessen halten.«

»Ich überprüfe den Balkon«, sagte Custine. »Mal sehen, ob man leicht herunterfallen kann.«

Floyd glättete den ausgetretenen und welligen Teppich und ging neben dem Radio in die Hocke. Es war ein zwanzig Jahre altes Philips-Gerät mit Gehäuse aus Walnussholz. Während seiner ersten fünf Jahre in Paris hatte Floyd ein ganz ähnliches Modell sein Eigen genannt. Er schaltete es ein und hörte das Brummen warmlaufender Röhren und ein Knistern aus dem Lautsprecher. Es funktionierte noch.

Er spürte einen leichten Luftzug im Nacken, als Custine die Doppeltür zum Balkon öffnete. Entfernte Verkehrsgeräusche drangen in den Raum und störten die Stille wie ein unhöflicher Gast. Floyds Hand bewegte sich instinktiv zum Abstimmknopf, um den kleinen Pfeil über die erleuchtete horizontale Skala zu bewegen, auf der die Frequenzen und Radiosender aufgedruckt waren. Er kannte alle Sender, die noch die Sorte Musik spielten, die er und Custine gerne hörten und machten. Es gab jedes Jahr weniger von ihnen. In letzter Zeit schien es fast, als gäbe es jeden Monat weniger.

Floyd ließ das Rad so eingestellt, wie Susan White es zurückgelassen hatte, und drehte die Lautstärke hoch. Er hörte lediglich statisches Rauschen.

»Es ist kein Sender eingestellt«, sagte Floyd. »Entweder das, oder wer einmal auf dieser Frequenz gesendet hat, tut es jetzt nicht mehr.« Er holte sein Notizbuch hervor, blätterte zur ersten leeren Seite und notierte sich die Position des Zeigers. Dann drehte er am Abstimmknopf, bewegte den Pfeil von einem Ende der Skala zum anderen. Das Radio zischte und knackte, aber nirgends empfing Floyd ein erkennbares Signal.

»Und?«, fragte Blanchard.

»Mit dem Radio stimmt etwas nicht. Mittlerweile hätte ich irgendetwas empfangen müssen.«

»Das Radio hat tadellos funktioniert, bevor Mademoiselle White hier eingezogen ist.«

»Und vielleicht hat es auch funktioniert, während sie hier war. Aber jetzt ist es tot, es sei denn, alle Radiosender Frankreichs haben plötzlich den Betrieb eingestellt.« Floyd drehte den Abstimmknopf etwa auf die Position zurück, auf der er gestanden hatte, bevor sie gekommen waren, dann schaltete er das Radio aus. »Nicht weiter wichtig. Ich hatte nur gehofft, dass wir einen Hinweis auf ihren geistigen Zustand bekommen würden, wenn wir wissen, was sie zuletzt gehört hat.«

Custine kehrte vom Balkon zurück und schloss die Doppeltür hinter sich. »Der ist sicher«, erklärte er. Dann hielt er sich eine Hand an die Hüfte. »Das Geländer geht mir bis hier. Wie groß war sie, Monsieur?«

»Etwa so groß wie Sie.«

»Dann könnte ich mir vorstellen, dass sie gestolpert und dagegengeprallt ist, wenn sie großes Pech hatte«, bemerkte Custine. »Aber sie kann unmöglich darübergefallen sein, wenn sie sich nur ans Geländer gelehnt hat.«

»Dann schließen Sie diese Hypothese aus«, sagte der Vermieter. »Ziehen Sie stattdessen die Möglichkeit in Betracht, dass sie gestoßen wurde.«

»Oder gesprungen ist«, sagte Floyd. Mit einem Schnappen schloss er das Notizbuch. »Na schön, ich denke, wir haben hier fürs Erste genug gesehen. Können Sie dieses Zimmer bis auf weiteres so belassen?«

»Bis der Fall gelöst ist«, versicherte Blanchard ihm.

Floyd klopfte Custine auf den Rücken. »Komm, lass uns mit den anderen Hausbewohnern reden. Mal sehen, was die zu berichten haben.«

Custine beugte sich vor und nahm die Keksdose, die Floyd neben dem Radio abgestellt hatte. »Was ist mit der Wohnungstür?«, wandte er sich an Blanchard. »War sie verschlossen, als man sie gefunden hat?«

»Nein, sie war offen.«

»Dann könnte sie ermordet worden sein«, stellte Custine fest.

»Oder sie hat die Tür nicht abgeschlossen, weil sie mit den Gedanken woanders war«, sagte Floyd. »Das beweist gar nichts. Was ist mit der Haustür – war die auch offen?«

»Nein«, antwortete Blanchard. »Sie war zu. Aber sie fällt von allein ins Schloss. Der Mörder hätte sie beim Verlassen des Hauses nur hinter sich zuziehen müssen. Dafür hätte er keinen Schlüssel gebraucht.«

»Und Ihnen ist nicht aufgefallen, ob hier vielleicht etwas fehlt?«

»Wenn dem so wäre, hätte ich es Ihnen gesagt.«

Custine klopfte auf die Dose. »Vielleicht hat man das hier gesucht und nichts gefunden, weil es bereits an Monsieur Blanchard übergeben worden war.«

»Hat irgendetwas in dieser Dose danach ausgesehen, als wäre es einen Mord wert?«, fragte Floyd.

»Nein«, antwortete Custine. »Aber als ich beim Quai war, habe ich gesehen, wie Leute für ein Stück Brot ermordet wurden.«

Floyd wandte sich dem Vermieter zu. »Ich rufe Sie morgen an, sollte es Neuigkeiten geben. Andernfalls setzte ich die Ermittlungen fort, bis ich etwas Berichtenswertes habe.«

»Ich möchte gerne tägliche Rückmeldungen von Ihnen, unabhängig davon, was Sie entdecken.«

Floyd hob die Schultern. »Wenn Sie es wünschen.«

»Sie können mich abends anrufen. Am Ende jeder Woche erwarte ich einen getippten Bericht über den Fortgang der Ermittlungen und eine Aufschlüsselung der laufenden Kosten.«

»Die Sache ist Ihnen sehr ernst, nicht wahr?«

»Etwas Schreckliches ist hier geschehen«, erwiderte Blanchard. »Ich kann es spüren, auch wenn Sie es vielleicht nicht können. Mademoiselle White hatte Angst, und sie war weit weg von zu Hause. Jemand ist gekommen und hat sie getötet, und das ist nicht richtig.«

»Ich verstehe«, sagte Floyd.

Sie waren fast an der Wohnungstür, als Blanchard fortfuhr: »Da wäre noch etwas, das ich zu erwähnen vergaß. Vielleicht hat es nichts zu bedeuten, aber Mademoiselle White hatte eine elektrische Schreibmaschine in ihrem Zimmer.« Er legte die Hand auf ein Holzschränkchen, das auf einem kleinen Tisch mit geschwungenen Beinen stand. »Es war ein deutsches Modell – ich glaube, die Herstellerfirma hieß Heimsoeth und Rinke. Sie war sehr schwer. Sie befand sich in dieser Kiste.«

»Für eine Touristin ist das ziemlich ungewöhnliches Gepäck«, bemerkte Floyd.

»Ich habe sie danach gefragt, und sie hat erklärt, dass sie damit regelmäßig blind schreibt, damit sie nicht aus der Übung kommt, solange sie nicht zu Hause ist.«

»Gut, dass Sie das noch erwähnt haben«, sagte Floyd. »Wahrscheinlich ist es nicht weiter wichtig, aber jede Kleinigkeit kann hilfreich sein.«

»Vielleicht sollten wir einen Blick auf die Schreibmaschine werfen«, schlug Custine vor.

»Das ist es ja«, erklärte Blanchard. »Sie existiert nicht mehr. Man fand die Schreibmaschine in tausend Teile zersprungen auf dem Bürgersteig, direkt neben Mademoiselle White.«