Achtundzwanzig
Sie waren nun seit sechs Stunden unterwegs. Das Leitsystem war in der ersten Stunde zwei- oder dreimal ausgefallen, aber danach war der Flug einschläfernd ruhig verlaufen. Seitdem hatte sich Floyds Magen nur auf gelegentliche Schwenk- und Scherbewegungen einstellen müssen. Sie hatten eine leichte Mahlzeit aus abgepackten Rationen zu sich genommen (das Essen befand sich in durchsichtigen Plastiktüten, die sich zu Floyds Erstaunen und Entzücken automatisch erwärmten, wenn man sie öffnete). Danach hatte Floyd den intimen Mikrokosmos der Toilette erkundet und die entmutigenden Methoden zur Sammlung körperlicher Ausscheidungen unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit bewundert. Auger hatte ihn gefragt, ob ihm übel war, und er hatte wahrheitsgemäß verneint.
»Gut«, sagte sie und schluckte eine dunkle Pille. »Das könnte daran liegen, dass du so viel Zeit auf See verbracht hast. Ein gutes Training für eine Reise durch ein Wurmloch, auch wenn du damals wahrscheinlich nicht im Traum an so etwas gedacht hast.«
»Hast du Schwierigkeiten?«
»Abgesehen von der Tatsache, dass in meinem Körper eine Kugel steckt, die mich töten könnte? Nein. Ich habe mich nie besser gefühlt.«
»Ich meinte die Pille.«
»Das ist UR«, antwortete sie, als wäre damit alles erklärt. Als Floyd sie nur anstarrte, fuhr sie fort: »Universal-Restaurativ. Ein Allzweckmedikament. Es heilt alles und hilft gegen jede Krankheit. Damit könnte man sich sogar ewig am Leben erhalten.«
»Dann bist du also unsterblich?«, sagte er.
»Nein, natürlich nicht«, sagte Auger, als wäre ihr die bloße Vorstellung peinlich. »Wenn ich jeden Tag eine von diesen Pillen nehmen würde – oder jede Woche oder wie oft man sie sonst nehmen müsste –, dann wäre ich es vielleicht. Zumindest so lange, bis der Vorrat aufgebraucht ist. Oder ich bekomme irgendwann eine so faszinierend exotische Krankheit, dass nicht einmal UR etwas dagegen machen kann. Aber in diesem System gibt es nicht genug UR, um es die ganze Zeit nehmen zu können. Außerdem sind meine Leute nicht damit einverstanden.«
»Ihr lehnt ein Medikament ab, das euch unsterblich machen könnte?«, fragte er, erstaunt über ihre Aussage.
»Das ist noch nicht die ganze Geschichte. Meine Leute – die VENS, die Stoker oder wie immer du uns nennen möchtest – verfügen nicht über die Mittel, um UR herzustellen. Das bisschen UR, das uns zur Verfügung steht, wird uns in sehr kleinen, teuren und kontrollierten Mengen von unseren moderaten Verbündeten in den Kommunitäten zugeteilt.«
»Habt ihr nie versucht, es selber zu produzieren?«
Sie nahm eine weitere Pille aus dem zylindrischen Behälter und zeigte sie Floyd. Sie sah nicht beeindruckender aus als ein verlorener Knopf oder ein Klecks aus dunklem Lehm. »Wir könnten sie nicht einmal produzieren, wenn wir das Rezept kennen würden. Wir haben uns entschieden, die Technologie, die in dieser Pille steckt, abzulehnen.« Mit betonter Vorsicht steckte sie die Pille wieder in den Behälter. »Natürlich mit Ausnahme der Fälle, in denen wir sie dringend brauchen, zum Beispiel bei hochriskanten Einsätzen wie diesem. Wenn du möchtest, kannst du uns Scheinheiligkeit vorwerfen und schauen, ob uns das in Gewissenskonflikte stürzt.«
»Was ist so gefährlich an einer Technologie zur Herstellung von Pillen?«
»Die Technologie hat eine viel breitere Palette von Anwendungsmöglichkeiten«, sagte Auger. »Das ist alles andere als eine gewöhnliche Pille. Es ist eine geballte Masse aus Milliarden winziger Maschinen. So winzig, dass man sie nicht einmal unter dem Mikroskop sehen könnte. Aber sie sind real, und sie sind das Gefährlichste, was es gibt.«
»Trotzdem können sie dich heilen?«
»Sie bewegen sich durch den ganzen Körper, nachdem man sie geschluckt hat. Sie sind so intelligent, dass sie feststellen können, was einem fehlt, und sie sind in der Lage, es wieder zu richten. In den Körpern der Slasher wimmelt es vor winzigen unsterblichen Maschinen. Sie brauchen so etwas wie UR gar nicht mehr, weil sie einfach niemals krank werden.«
»Könntet ihr nicht genauso sein?«
»Wenn wir es wollten, ja. Aber vor langer Zeit geschah etwas, wodurch wir überzeugt wurden, dass die Slasher einen falschen Weg gehen. Zumindest halten wir es für viel zu riskant, uns dieser Technik so bedingungslos hinzugeben. Es war nicht nur …« Dann sagte sie etwas, das fast wie »Bananen-Technologie« klang, doch Floyd hoffte inständig, dass er sich verhört hatte.
»Nicht nur das«, fuhr sie fort. »Es ging auch um virtuelle Realität, radikale Genmanipulation, neurale Umstrukturierung und digitale Datenfälschung. All das haben wir abgelehnt. Wir haben sogar eine hohe quasistaatliche Behörde eingerichtet – die Schwellentechnologische Ordnungskommission –, um uns davor zu bewahren, tödliches Spielzeug dieser Art zu entwickeln, und sei es nur aus Versehen. Wir wollten an der Schwelle, an der Grenze zu diesen Technologien, stehen bleiben und sie auf keinen Fall überschreiten. Die Slasher haben von der Abkürzung STOK das Schimpfwort ›Stoker‹ abgeleitet, aber wir fanden den Begriff sehr passend und benutzen ihn selber.«
»Diese schlimme Sache«, sagte Floyd. »Was genau ist geschehen?«
»Wir haben die Erde zerstört«, antwortete Auger.
»Das ist allerdings ein Grund.«
»Die Sache ist so, Floyd, dass es nicht dazu hätte kommen müssen. Wenn wir zulassen würden, dass sich eure Welt von der Gegenwart aus weiterentwickelt, kommt es vielleicht nie zur Situation, die zu den Ereignissen von 2077 geführt hat … womit heute alles ganz anders wäre. Nicht zwangsläufig besser, aber anders.«
»Ich glaube, ich kann dir nicht mehr folgen.«
»Wir beide haben nicht die gleiche Vergangenheit, Floyd. 1940 haben sich unsere Welten voneinander getrennt und nichts mehr gemeinsam.«
»Was ist 1940 geschehen?«
»In diesem Jahr haben die Deutschen versucht, Frankreich zu erobern. Auf deiner Zeitlinie wurden die Invasionstruppen in den Ardennen gestoppt. Sie steckten im Matsch fest und warteten nur noch darauf, von den Flugzeugen der Alliierten in Grund und Boden gebombt zu werden. Am Ende des Jahres war der Krieg schon wieder vorbei.«
»Und auf deiner Zeitlinie?«
»Die Invasion verlief erfolgreich. Ende 1940 gab es nur noch wenige Regionen in Europa und Nordafrika, die nicht von deutschen Truppen besetzt waren. Ende 1941 hatten sich die Japaner mit den Nazis verbündet. Sie starteten einen Überraschungsangriff gegen die USA, wodurch die Sache zu einem globalen Konflikt ausartete. Die Kriegsführung wurde in einem Ausmaß technisiert, wie es die Welt nie zuvor erlebt hatte. Deshalb sprechen wir vom Zweiten Weltkrieg.«
»Was du nicht sagst.«
»Er dauerte bis 1945. Die Alliierten gewannen den Krieg, aber zu einem verdammt hohen Preis. Danach hatte sich die Welt grundlegend verändert. Wir hatten zu viele Geister aus der Flasche gelassen.«
»Zum Beispiel?«
»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«, sagte Auger. »Die Deutschen entwickelten weitreichende Raketen, mit denen sie London bombardierten. Wenige Jahrzehnte später wurde die gleiche Technik benutzt, um Menschen auf den Mond zu bringen. Die Amerikaner bauten Atombomben, mit denen japanische Städte auf einen Schlag ausradiert wurden. Nach mehreren Jahren hatten diese Bomben genügend Sprengkraft, um die Menschheit mehrfach auszurotten, und es wäre schneller gegangen, als sich einen Kaffee zu kochen. Dann kamen die Computer. Du hast die Enigma-Maschinen gesehen, die im Krieg eine wichtige Rolle bei der Verschlüsselung von geheimen Informationen spielten. Doch die Alliierten bauten größere und schnellere Rechner, mit denen die Enigma-Botschaften geknackt werden konnten. Diese Maschinen waren so groß wie ein Wohnzimmer und verbrauchten genauso viel Strom wie ein ganzer Bürokomplex. Aber danach wurden sie kleiner und schneller – viel kleiner und viel schneller. Sie schrumpften immer mehr, bis man sie kaum noch mit bloßem Auge sehen konnte. Aus Röhren wurden Transistoren, aus Transistoren wurden integrierte Schaltkreise, aus integrierten Schaltkreisen wurden Mikroprozessoren, und aus Mikroprozessoren wurden optische Quantenprozessoren … und es ging immer weiter. Nach wenigen Jahrzehnten gab es keinen Lebensbereich mehr, der nicht von Computern beeinflusst wurde. Sie waren überall, sie waren so allgegenwärtig, dass man sie überhaupt nicht mehr bewusst wahrnahm. Sie steckten in unseren Häusern, in unseren Tieren, in unserem Geld, selbst in unseren Körpern. Und selbst das war nur der Anfang. Denn zu Beginn des nächsten Jahrhunderts gab es Menschen, die sich nicht damit begnügen wollten, dass sehr kleine Maschinen sehr schnell große Datenmengen verarbeiten konnten. Sie wollten sehr kleine Maschinen haben, die Materie verarbeiten und bewegen konnten. Die Materie sollte auf mikroskopischem Niveau neu organisiert werden.«
»Wieso habe ich den Eindruck, dass das nicht unbedingt etwas Gutes war?«, fragte Floyd.
»Weil es das nicht war. Die Grundidee war gar nicht so schlecht, und die winzigen Maschinen haben in vielen Bereichen des menschlichen Lebens tatsächlich Gutes bewirkt. UR steht zum Beispiel auf der positiven Seite der Gleichung. Das Problem ist nur, wenn man mit Dingen herumspielt, die letztlich eine ganz neue Art von Leben darstellen, darf man sich nicht mehr allzu viele Fehler erlauben.«
»Und in Anbetracht der Natur des Menschen …«
»Es war Ende Juli 2077«, sagte Auger. »In den Jahren davor waren wir eifrig damit beschäftigt, unsere winzigen Maschinen in die Umwelt zu entlassen, um das Klima wieder in Ordnung zu bringen. Der Planet hatte sich während des vergangenen Jahrhunderts immer stärker erwärmt, weil wir zu viel Abgase in die Atmosphäre geblasen haben. Die Ozeane waren aus dem Gleichgewicht geraten. Der Meeresspiegel stieg an, und Landstriche und Städte an den Küsten wurden überflutet. Die Stürme wurden immer heftiger. An manchen Stellen wurde es kälter, an anderen heißer. Und in einigen Regionen wurde es einfach nur … seltsamer. Wirklich seltsam. Das war der Moment, als irgendeine Koalition von Knallköpfen auf die Idee kam, wir sollten das Klima kontrollierbarer machen. Sie nannten es ›Intelligentes Wetter‹.«
»Intelligentes Wetter«, wiederholte Floyd und schüttelte ungläubig den Kopf. »Was für eine Idee!«
»Eine ziemlich dumme Idee. Damit sollten all unsere Probleme gelöst werden. Das Wetter konnte ein- und ausgeschaltet werden, es konnte nach Belieben herumkommandiert werden. Wir impften die Meere und die höheren Atmosphärenschichten mit winzigen schwebenden Maschinen – für das bloße Auge unsichtbar, für Menschen völlig unschädlich, in unvorstellbarer Zahl. Sie vermehrten sich von selbst, sie koordinierten sich von selbst, sie entwickelten sich von selbst weiter. Hier reflektierten sie Strahlung, dort absorbierten sie welche. Hier kühlten sie eine Region ab, dort wärmten sie eine auf. Sie ließen Wolken erblühen und sich in geometrischen Mustern verteilen, die wie Teile von Dali-Gemälden aussahen. Sie ließen Meeresströmungen im rechten Winkel abknicken oder sich ungehindert kreuzen, die Wassermoleküle wurden wie Autos im dicksten Berufsverkehr gelenkt. Damit konnte man sogar Geld machen, indem man mit Phytoplankton tausend Kilometer durchmessende Firmenlogos auf den Pazifik malte. Man konnte auf speziellen Sichtachsen die Farben des Sonnenuntergangs verstärken, wenn man es auf seiner Privatinsel etwas netter haben wollte. Hätten Sie heute gerne etwas mehr Grün, mein Herr? Kein Problem. Und das Seltsame ist, eine Zeitlang hat es sogar funktioniert. Das Klima stabilisierte sich und war fast wieder wie in früheren Zeiten. Die Eiskappen an den Polen wurden wieder größer. Die Wüsten zogen sich langsam zurück. Die Extreme wurden geringer. Die Menschen kehrten sogar schon in die Städte zurück, die sie zwanzig Jahre zuvor verlassen hatten.«
»Ich möchte mich nicht als notorischer Pessimist verdächtig machen«, sagte Floyd, »aber irgendwie spüre ich, dass gleich ein ›aber‹ hinterherkommt.«
»Es konnte einfach nicht funktionieren. Ende 2076 gab es Gerüchte – unbestätigte Meldungen –, dass sich einige Wettersysteme weigerten, den Befehlen Folge zu leisten. Bestimmte Meeresströmungen ließen sich nicht mehr steuern. Es gab Wolkenformationen, die sich nicht auflösen wollten, ganz gleich, was man mit ihnen anstellte. Zum Beispiel ein obszönes Symbol in der Bucht von Biskaya, das sich so hartnäckig hielt, dass es nachträglich auf jeder Satellitenaufnahme unkenntlich gemacht werden musste. Es war klar – auch wenn es niemand zugeben wollte –, dass sich einige der Maschinen etwas zu weit entwickelt hatten. Sie waren mehr an ihrer Selbsterhaltung interessiert, als Befehlen zur kontrollierten Abschaltung und Auflösung Folge zu leisten. Kannst du dir vorstellen, welche Idee die Koalition der Knallköpfe daraufhin ausbrütete?«
»Du wirst es mir sicher gleich sagen.«
»Sie dachten sich noch intelligentere und gerissenere Maschinen aus, die die erste Welle eliminieren sollten. Also erhielten sie die Genehmigung, auch sie auf die Umwelt loszulassen. Das Problem war allerdings, dass damit alles nur noch schlimmer wurde. Das seien nur Kinderkrankheiten, sagten sie. In der Zwischenzeit gerieten die immer verrückteren Wetteranomalien zunehmend aus dem Ruder. Es wurde viel schlimmer als alles, was wir bis dahin erlebt hatten. Jetzt war das Wetter vollständig mechanisiert. Mitte 2077 hatte man bereits die achte Staffel in die Schlacht geworfen, und nichts hatte sich verbessert. Doch dann gab es ein Zeichen der Hoffnung. Anfang Juli hatte sich das obszöne Symbol in der Bucht von Biskaya aufgelöst. Alle waren sehr aufgeregt und sagten, dass es nun anders werden musste, dass die Maschinen jetzt wieder taten, was die Menschen ihnen befahlen. Alle stießen einen großen kollektiven Seufzer der Erleichterung aus.«
»Doch ich vermute, dass man sich zu früh gefreut hat.«
»Die Blüte des Phytoplanktons, die das obszöne Symbol gebildet hatte, war aus einem ganz bestimmten Grund verschwunden. Die Maschinen hatten das Plankton gefressen. Sie waren darauf gekommen, lebende Organismen als Energiequelle zu nutzen. Das verstieß gegen fundamentale Prinzipien ihrer Programmierung – es war ihnen kategorisch verboten, Lebewesen zu schädigen –, aber sie taten es trotzdem. Dann wurde es sehr schnell viel schlimmer. Nach dem Plankton arbeiteten sie sich immer weiter die marine Nahrungskette hinauf. Um Mitte Juli war im Atlantischen Ozean kaum noch etwas am Leben – abgesehen von den Maschinen. Am zwanzigsten des Monats begannen sie, landlebende Organismen anzugreifen. Ein paar Tage dachten die Zauberlehrlinge noch, dass sie die Sache in den Griff bekommen würden. Sie erzielten sogar ein paar kleine Erfolge, aber es genügte nicht, um wirklich etwas auszurichten. Am siebenundzwanzigsten wurden die Menschen von den Maschinen gefressen. Es ging sehr schnell. So schnell, dass es fast wieder komisch war. Es war, als hätte Buster Keaton den Schwarzen Tod verfilmt. Am achtundzwanzigsten gab es auf der ganzen Erde nichts Lebendiges mehr – abgesehen von ein paar an extreme Bedingungen angepassten Bakterien tief im Untergrund.«
»Aber zumindest ein paar Menschen scheinen überlebt zu haben«, sagte Floyd. »Sonst könntest du mir diese Geschichte jetzt nicht erzählen.«
»Ein paar haben es überstanden«, sagte Auger. »Und zwar diejenigen, die die Oberfläche der Erde verlassen hatten, die in Weltraumhabitaten und Kolonien lebten. Primitive, wacklige Behausungen, die sich kaum aus eigener Kraft erhalten konnten, aber es genügte, um am Leben zu bleiben, während man den Verlust der Erde zu verkraften versuchte. Nicht zu vergessen das lähmende psychische Trauma, mit dem die Überlebenden zu kämpfen hatten. Ungefähr zu dieser Zeit spalteten wir uns in zwei politische Gruppierungen auf. Meine Leute, die Stoker, sagten, dass etwas in dieser Art nie wieder geschehen durfte, und deshalb verdammten wir die Nanotechnologie, die zur Entwicklung der Maschinen – und vieler anderer Dinge – geführt hatte. Die Slasher dagegen waren der Ansicht, dass man mit Rückschlägen leben muss und dass es keinen Sinn hat, sich aus unangebrachten Reuegefühlen einzuschränken.«
Floyd schwieg eine Weile, während er versuchte, alles zu verarbeiten, was Auger ihm erzählt hatte. »Aber du hast mir gesagt, dass du aus dem Jahr zweitausendzweihundertirgendwas kommst«, sagte er schließlich. »Wenn das alles im 21. Jahrhundert passiert ist, scheint es noch eine Menge Geschichte zu geben, von der du bisher nichts erwähnt hast.«
»Zweihundert Jahre«, sagte Auger, »aber ich werde dir die Einzelheiten ersparen. Es ist wirklich nicht allzu viel passiert. Die zwei politischen Fraktionen existieren immer noch. Wir kontrollieren den Zugang zur Erde, und die Slasher kontrollieren den Zugang zum Rest der Galaxis. Die meiste Zeit geht die Sache einigermaßen friedlich ab.«
»Die meiste Zeit?«
»Es gab ständig kleine … Meinungsverschiedenheiten. Die Slasher versuchen immer wieder, die Erde zu reparieren, ob mit oder ohne unser Einverständnis. Bisher haben sie alles nur noch schlimmer gemacht. Da unten gibt es jetzt ein komplettes maschinelles Ökosystem. Als sie es das letzte Mal versucht haben – das ist jetzt dreiundzwanzig Jahre her – führte das zu einem kleinen Krieg um die Zugangsrechte. Daraus entwickelte sich eine ziemliche Schweinerei, eine richtig große Schweinerei, aber anschließend konnten wir die Sache wieder hinbiegen. Aber es ist eine Schande, was mit dem Mars geschehen ist.«
»Schön, dass Kriege immer noch nicht aus der Mode gekommen sind«, sagte Floyd.
Auger nickte traurig. »In den letzten paar Monaten ist die Lage jedoch wieder kritisch geworden. Deshalb war ich nicht gerade begeistert, als ich feststellen musste, dass sich die Slasher in deinem Paris breit gemacht haben. Das kann nur bedeuten, dass sie etwas im Schilde führen, und das macht mir Sorgen. Ich fürchte, dass das keine guten Neuigkeiten sind.«
»Warte mal«, sagte Floyd. »Etwas würde ich gerne klarstellen. Vor ein paar Stunden hast du mir gesagt, dass du keine Zeitreisende bist.«
»Richtig«, sagte Auger und kniff die Lippen zusammen.
»Aber du erzählst mir ständig Geschichten aus der Zukunft, dass du im Jahr zweitausendsowieso geboren bist und so weiter. Du hast mir sogar eine Zusammenfassung aller Ereignisse zwischen meiner und deiner Gegenwart gegeben. Wie das Wetter durchdreht … wie die Maschinen durchdrehen … wie Menschen im Weltraum leben …«
»Ja«, sagte Auger und zog erwartungsvoll eine Augenbraue hoch.
»Dann musst du von der Zukunft in die Gegenwart gereist sein. Warum behauptest du etwas anderes? Dieses Schiff scheint deine Zeitmaschine zu sein oder wie man so etwas nennen will. Bringst du mich jetzt in die Zukunft?«
Sie sah ihm in die Augen. »Welches Jahr haben wir, Floyd?«
»1959«, sagte er.
»Nein«, sagte sie. »Das stimmt nicht. Wir haben das Jahr 2266 – über dreihundert Jahre nach dem Zeitpunkt, den du für deine Gegenwart hältst.«
»Du meinst, dieses Jahr werden wir haben, wenn wir am anderen Ende von diesem Ding herauskommen. Oder befinden wir uns jetzt schon irgendwie in dieser Zukunft.«
»Nein«, sagte sie mit grenzenloser und besorgniserregender Geduld. »Jetzt ist nicht 1959. Gestern war auch nicht 1959, und es war auch nicht 1959, als wir uns letzte Woche begegnet sind.«
»Jetzt verstehe ich dich noch weniger als sonst.«
»Ich will damit sagen, dass deine gesamte Existenz …« Sie suchte nach Worten, mit denen er etwas anfangen konnte. »Sie ist anders, als du denkst. In gewisser Weise lässt sich nicht einmal behaupten, dass du Wendell Floyd bist.«
»Vielleicht hätte dieser Roboter dich doch operieren sollen. Du scheinst im Fieberwahn zu reden.«
»Ich wünschte mir, es wäre ein Delirium. Das würde allen Betroffenen das Leben einfacher machen.«
»Nicht unbedingt für mich.« Floyd kratzte sich am Kopfverband und fragte sich, ob er derjenige war, der unter Wahnvorstellungen litt. Sein Arm schwebte haltlos in der Luft, leicht wie ein Luftballon. Es war, als würden sie fallen, wie in einem Traum. Gleich würde er in seinem Zimmer an der Rue du Dragon aufwachen und bei schlechtem Kaffee und verbranntem Toast all dies mit lautem Gelächter abschütteln. Ein Schlag gegen den Kopf – das war sein einziges Problem.
Aber er wachte einfach nicht auf.
»Also fangen wir mit mir an«, schlug er vor. »Fangen wir mit dem armen Schlucker namens Wendell Floyd an. Erklär mir, warum ich vielleicht nicht der bin, der ich zu sein glaube.«
»Wendell Floyd ist tot«, sagte Auger. »Er ist vor ein paar hundert Jahren gestorben.«
In diesem Moment ging irgendwo in der Kabine ein Alarm los. Floyds Hand zuckte zum Joystick, bereit, das Schiff wieder auf Kurs zu bringen. Aber Auger schüttelte den Kopf und hob warnend drei Finger. »Das ist etwas anderes«, sagte sie. »Das Leitsystem ist immer noch online.«
»Und was ist nun das Problem?«
»Ich bin mir nicht sicher. Ich habe nur die Idiotenversion der Flugausbildung für dieses Ding bekommen.« Auger betätigte mehrere Schalter und bewirkte, dass andere Zahlen und Diagramme auf den Leuchtschirmen erschienen. Mit ihren Bemühungen erreichte sie nicht, dass der Alarm verstummte.
»Irgendeine Idee?«, fragte Floyd.
»Ich glaube nicht, dass etwas mit dem Schiff nicht stimmt«, sagte sie. »Alle Werte sehen gut aus – oder zumindest akzeptabel. Es gibt keinen Hinweis darauf, als hätte es etwas mit der Tunnelgeometrie zu tun.«
»Was könnte es dann sein?«
Sie drückte weitere Schalter und tippte mit dem Nagel des Zeigefingers gegen einen Bildschirm. Stirnrunzelnd betrachtete sie die Lawine aus Ziffern und Buchstaben, mit denen er sich füllte. »Das ist nicht gut«, sagte sie. »Das ist gar nicht gut.«
»Sag es mir einfach«, forderte Floyd sie mit hörbarer Frustration in der Stimme auf.
»Etwas befindet sich hinter uns, und es kommt näher. Das will uns das Alarmsignal mitteilen. Die Nahortung empfängt so etwas wie ein rückwärtiges Echo. Ich kann die Zahlen nicht gut genug einschätzen, um sagen zu können, was es ist, aber vielleicht ist es ein anderes Schiff.«
»Wie kann es hier ein anderes Schiff geben?«
»Ich weiß es nicht. Glaub mir, ich würde es selber sehr gerne wissen. Am Pariser Ende ist der Tunnel vakuumversiegelt. Selbst wenn es irgendwie möglich wäre, zwei Schiffe gleichzeitig hineinzuschießen – und ich bin mir gar nicht sicher, ob die Mathematik das überhaupt zulässt –, können wir diesen Fall sowieso ausschließen, weil es auf E2 kein zweites Schiff in der Eintrittssphäre gibt. Wir müssten die einzige Ratte im Abflussrohr sein.«
»Also etwas ganz anderes? Eine andere Maschine und nicht zwangsläufig ein Schiff?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht fliegen irgendwelche Trümmer hinter uns her. Bei der Penetration wurden wir heftig durchgeschüttelt, sodass vielleicht etwas von der Schiffshülle abgerissen wurde. Das Zeug könnte uns folgen, in unserem Fahrwasser mitgerissen werden. Falls es hier so etwas wie Fahrwasser gibt.«
»Wenn das so ist, warum haben wir dann vorher nichts davon bemerkt?«
»Das ist eine berechtigte Frage«, sagte sie flüsternd, als wäre er jemand, der auf gar keinen Fall die Antwort darauf erfahren sollte.