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Am Dienstagmorgen hängt Isa schon am Telefon, als ich aufstehe. Sie sagt so oft »Ich denke an dich«, »Keine Angst« und »Du wirst es schaffen«, dass ich bald überzeugt bin, etwas Schreckliches muss geschehen sein. Doch als ich beim Frühstück mitleidsvoll nachfrage, lächelt Isa stolz. »Nichts ist passiert. Aber Tom hat heute seine letzte Prüfung, seine Verteidigung. Ihr könntet auch mal ein bisschen Daumen drücken!«

»Tom hat doch sicher keine Angst«, wundert sich Jenny. »Er lernt seit Wochen! Warum war denn so viel Ermutigung und Aufmunterung notwendig?«

Isa sieht zerknirscht aus. »Weil ICH so viel Angst habe«, gibt sie zu. »Das ist die wichtigste und schwierigste Prüfung seines Lebens!«

Jenny grinst. »Ich hoffe, du hast ihm das oft genug gesagt, damit er jetzt richtig schön Herzflattern hat!« Daraufhin springt Isa natürlich auf und greift ein drittes Mal zum Telefon, um Tom zu versichern, dass er es selbstverständlich großartig meistern wird.

»Diese beiden machen sich vollkommen verrückt«, sagt Jenny mit hochgezogenen Augenbrauen, sobald wir allein sind. Aber ich finde Isa und Tom einfach hinreißend; seit sie auf komplizierten Umwegen zueinandergefunden haben, sind sie unzertrennlich und nur damit beschäftigt, für den anderen der Lebensmittelpunkt zu sein. Ich, momentan liebesmäßig angeschlagen, bin aber vielleicht kein Maßstab; mir erscheint ihr bedingungsloses Umeinanderkreisen natürlich weitaus erstrebenswerter als der freiheitsliebenden Jenny. »Ich schwör’s: Bei mir war er nicht so. Aber ich hatte die ganze Zeit schon das Gefühl, dass er die Anlage zu Partner-Jogginganzügen hat.« Diese winzige Gemeinheit kann sich Jenny nicht verkneifen. Offiziell ist zwar längst vergessen, dass Tom ihr abgelegter Ex ist – aber manchmal kann sie dem dringenden Bedürfnis nicht widerstehen, ihre eigene Art, Beziehungen zu führen, deutlich von Isas abzugrenzen. Doch »Partner-Jogginganzüge« ist eine fiese Übertreibung, ich kommentiere sie mit meinem strafendsten Blick. Jenny grinst und entschuldigt sich, indem sie Isa gleich darauf vorschlägt, heute Abend eine kleine Feier für Tom zu geben. Isa ist überrascht und erklärt zögerlich, sie wollte eigentlich Essen gehen oder bei Tom …

»Quatsch!« Jenny winkt ab. »Wir machen das Essen hier! Und wenn du die ganze Woche spülst, koche ich mein legendäres indisches Vindaloo.« Das ist ein Angebot, das man nicht ausschlagen sollte, selbst wenn es einen Monat Abwaschen kostet. Jenny kocht fantastisch – wenn sie denn Lust hat. Isa ist kurz unentschlossen, ob sie die großzügige Geste annehmen soll; klar hat sie immer noch Hemmungen, ihren Geliebten allzu oft mit seiner schönen, sprühenden Exfreundin zusammenzubringen. Aber Jenny strahlt begeistert und wer sie kennt, kann sich denken, dass es ihr jetzt schon nicht mehr darum geht, Tom eine Freude zu machen: Jenny liebt einfach Partys und ergreift jede Gelegenheit. Wahrscheinlich hat sie im Kopf schon die Deko fertig und die Liste, welche ihrer verrückten Freunde sie einladen wird.

»Aber nur wir, ja? Höchstens 2, 3 andere Leute, es soll schon noch um Tom gehen …« Aha. Isa kennt Jenny auch gut genug.

Jenny lacht. »Aber für Lena und mich darf ich ja wohl ein paar gut aussehende Herren dazu laden. Ich verspreche auch, dass sie keine Diplome haben!« Hm. Das bringt mein Gedankenkarussell natürlich gleich wieder auf Dr. Thalheim. Erstens darauf, dass ich ihn dann nicht einladen könnte, weil er mindestens einen Doktortitel hat, zweitens, dass ich ihn sowieso nicht einladen könnte, weil niemand weniger an unserer WG-Tafel vorstellbar ist, als ein wortkarger, auf Professionalität bedachter, 10 Jahre älterer Oberarzt … und drittens darauf, dass ich ihn vielleicht schon in einer Stunde wiedersehe. Ich schnappe meine Tasche. »Mädels, wir müssen los!«

Der Vormittag vergeht schnell in dem angenehmen Gefühl, bei den alltäglichen Stationsaufgaben bereits Profi zu sein. Wir bekommen Patientenzimmer und die typischen Wagen zugeteilt und drehen unsere Runden auf den zugewiesenen Flurabschnitten. Ich lege Infusionen und nehme Blut ab – und es ist einfach toll, sich endlich nicht mehr nur darauf zu konzentrieren, ob man alles richtig macht. Ich fühle mich inzwischen so versiert, dass ich mich auf meiner Runde tatsächlich mit den Patienten unterhalten kann. Klar, im letzten Tertial habe ich auch mit ihnen gesprochen, aber mehr, um sie abzulenken, damit ich mich auf die Punktionen konzentrieren konnte. Heute kann ich an der Unterhaltung teilnehmen und weiß hinterher noch, was gesagt wurde, während die Punktionen wie von selbst laufen. Ja, es ist albern, auf so etwas stolz zu sein. Ich bin es trotzdem. Wer nicht mehr über Punktionen nachdenken muss, ist auf jeden Fall keine Anfängerin mehr und kann den frei gewordenen Hirnraum nun für komplizierte Operationen nutzen. Hoffentlich teilt mich die strenge Dr. Thiersch auch bald ein. Ich erlaube mir ein wenig Träumerei und überlege, wen von den heute Vormittag besuchten Patienten ich gerne operieren würde. (Verzeihung, Dr. Thiersch! ASSISTENZoperieren.) Die Bauchspeicheldrüse ist vergeben, die Galle auch. Aber der Leistenbruch …?

Auf Zimmer 4 liegt Frau Jahn mit dem Meniskusriss, eine Dame um die vierzig, die das teuerste und eleganteste Krankenhausnachthemd trägt, das ich je gesehen habe. Auf ihrem Nachttisch hat sie stapelweise Bücher und einen Block, in den sie sich eben Notizen macht, als ich zur Blutdruckkontrolle komme. Der Blutdruck ist ziemlich hoch; noch nicht besorgniserregend, aber doch höher als bei Bettruhe und Kliniklangeweile zu erwarten wäre. Ich werfe einen Blick ins Krankenblatt. Frau Jahn bekommt bereits blutdrucksenkende Mittel. Habe ich mich getäuscht und die so gelassen wirkende Dame hat doch Angst vor der OP? Ich sprech es mal sensibel an, immerhin bin ich inzwischen fast Profi. Doch als ich ihr beruhigend die Gefahrlosigkeit einer Arthroskopie erkläre, zieht Frau Jahn die Augenbrauen bis zum Haaransatz und schüttelt den Kopf: »Keine Sorge, ich habe nicht mehr Angst vor der OP als Sie.«

Hmpf. Da sie offenbar nicht weiß, dass ich eine Anfängerin ohne jede OP-Erfahrung bin, funktioniert ihr Gleichnis nicht GANZ so gut. Oder gerade.

»Ihr Blutdruck ist ziemlich hoch«, erkläre ich. »Haben Sie sonst irgendwie Stress?«

Frau Jahn schüttelt den Kopf. »Was soll einen denn HIER stressen?!« Stimmt. Du bist ja nur Patientin, musst dich nicht vor der ganzen Station beweisen und bist nicht in einen Oberarzt verliebt, der sich ausgesprochen unberechenbar verhält. Also wenn du keine OP-Angst und vollstes Vertrauen in eine wie mich hast … Ihr Stift zuckt nervös über dem Block. »Ist sonst noch was?« Will sie mich los sein? Ich gönne ihr nur ein halbes Lächeln und wende meinen Wagen, als mir einfällt, woher ich den Gesichtsausdruck kenne. Von Isa. Wenn meine strebsame Mitbewohnerin so aussieht, steht irgendeine Prüfung an. Isa würde uns nie um Ruhe oder Rücksicht bitten; doch wenn sie mich mit so einem Blick ansieht, drehe ich automatisch die Musik leiser oder die Stimmlautstärke herunter, denn der Blick sagt »Bitte, bitte, bitte, ich habe die wichtigste weltrettungsentscheidende Arbeit zu erledigen und es läuft gerade GAR NICHT GUT!« Die Kombination aus fühlbarer Nervosität, Schreibblock und zitterndem Stift macht mich misstrauisch. Schreibt sie ihr Testament? Hat sie gerade eine Aufstellung ihrer Schulden vor sich? (Immer diese teuren Nachthemden – hat der Schönheitswahn sie ruiniert?)

»Was schreiben Sie denn da?«, frage ich Frau Jahn, die ihren Fineliner verstimmt um die feinmanikürten Finger kreisen lässt. Wenn es physisch möglich wäre, würden die Augenbrauen bei diesem empörten Blick in ihrer Frisur verschwinden.

»Ich mache mir Notizen zu meiner Nachttisch-Literatur. Sehr interessante Bücher.« Natürlich. So was tun gebildete Menschen. Typisch Lena, erst mal zur Inquisition zu schreiten. Der »Ich schaff meine Arbeit nicht«-Blick kann genauso gut »Eine Möchtegern-Ärztin stört meine spannende Lektüre« heißen. Der Blutdruck-Wert kann von allem Möglichen kommen. Salzhaltiges Essen, Harndrang, Wetterfühligkeit. Ich werde ihn später noch einmal kontrollieren. Ich entschuldige mich, wünsche weiterhin spannende Lektüre und schiebe den Wagen ins nächste Zimmer.

Als die Mittagspause heranrückt, habe ich das Gefühl, schon völlig auf der Chirurgiestation angekommen zu sein; ich bringe meinen Wagen zum Schwesternzimmer zurück und melde der Pflegedienstleiterin, dass ich bestens zurechtgekommen bin. Schwester Jana erklärt gutmütig, sie habe nichts anderes erwartet, nennt mich Mäuschen und ihr Lächeln lässt die Punktwertung für die Chirurgie in meinem inneren Stationen-Ranking bis ans Ende der Skala schnipsen. (Kategorie Pflegepersonal: Innere 0 – Chirurgie 100.) Kein Vergleich mit der mürrischen, ärztehassenden Schwester Karla, der es nur darum ging, uns Anfängerinnen bloßzustellen. Schwester Jana hat so was nicht nötig. Schmunzelnd erklärt sie, dass sie mich heute nicht an der Essensausgabe beteiligen darf – offenbar hat Dr. Gode auch bei ihr die strikte Trennung von Arzt- und Schwesternaufgaben angemahnt –, ich aber dafür vorzeitig in die Mittagspause gehen könnte. »Und falls es Pudding gibt … Ich komme sicher erst in einer Stunde zum Essen.« Ich verspreche, bei Ruben die Zurückhaltung einer Puddingportion durchzusetzen und gehe nach unten.

Ein Spiegel im Fahrstuhl wäre schön. Ich weiß, für die Passagiere eines Klinikaufzugs ist kaum ein Fahrt-Anlass denkbar, bei dem man sich gerne spiegeln möchte. Aber ich könnte einen brauchen. Immerhin steht mir (hoffentlich!) gleich eine Begegnung bevor, für die es hilfreich sein könnte, zu wissen, ob die Frisur gerade hinterhältig entgleist ist oder die Wimperntusche sich im Eifer des Gefechts unter den Augen festgefressen hat. In Lübeck habe ich Make-up als Bonus betrachtet und nur zur Selbstbewusstseinsaufwertung oder zu Partys getragen. In Berlin habe ich mir ein Arbeits-Grund-Make-up angewöhnt. Ich weiß nicht, ob das von Jenny abgefärbt hat, die sich ungeschminkt gar nicht als vollständig empfindet, oder ob ich als Neuberlinerin immer noch Bedarf an künstlicher Selbstwerterhöhung habe. Woran ich mich allerdings noch nicht gewöhnt habe, ist, dass man sich als geschminkte Frau nicht mehr sorglos im Gesicht rumfuhrwerken sollte. Ich kann nicht zählen, wie oft ich mir nachdenklich oder müde die Augen reibe und erst hinterher daran denke, dass ich mir jetzt einen schönen schwarzen Krümelrand unter die Augen gewischt habe. (Komisch, Jenny passiert das nie!) Dann jedes Mal in den Spiegel zu schauen, provoziert ein Tussenimage, das ich nicht haben will – aber das Mäuslein mit der verschmierten Tusche zu sein, ist ja keineswegs besser. Ich kann jedenfalls nicht garantieren, dass ich mir heute NICHT unbewusst die Augen gewischt habe und würde gern einen Kontrollblick in eine spiegelnde Fläche werfen … als der Aufzug plingt und ich im unteren Gang stehe. 30 Meter bis zur Cafeteria. Wird er da sein? Oder ist die vorzeitige Mittagspause überhaupt kein Segen, weil er noch gar nicht mit mir rechnet? Und: Hast Du es echt nötig, jetzt noch mal im Waschraum dein Erscheinungsbild zu überprüfen? Ich beschließe, dass ich ja nicht explizit für Dr. Tobias Thalheim hübsch sein möchte, sondern eine junge Ärztin generell einen gepflegten Eindruck machen sollte. Und stelle im altbekannten Waschraum fest, dass alles in Ordnung und die junge Ärztin im Bestzustand ist. Etwas rot im Gesicht, aber dagegen kann man jetzt nichts mehr tun. Als ich die Waschraumtür öffne, zittern meine Hände. Echt, Lena? So schlimm ist es? Pah! Du MUSST ja nicht in die Cafeteria gehen … Bleib doch hier und verbummel die Mittagspause im Damenklo, nur in Gesellschaft deiner zitternden Hände und deiner pubertären Albernheit! Das hilft, ich gehe.

In der Cafeteria ist noch wenig Betrieb. Ich geselle mich an den Tresen zu Ruben, meinem blauhaarigen, holländischen Koch-Freund. »ER« ist noch nicht da. Umso besser. Wenn man nicht weiß, welche Haltung dem anderen für eine anstehende Begegnung vorschwebt, ist es auf jeden Fall günstig, als Erster da zu sein und ebenjenen anderen auf sich zukommen zu lassen. Ich stelle mich also locker an den Tresen. Ruben hat Zeit zum Quatschen und zu seinen blauen Haaren eine gelbe Krawatte um, die auch gleich ein unverfängliches Gesprächsthema bietet. Ruben hat nämlich die beängstigende Fähigkeit, zielgenau zu erspüren, was einen beschäftigt – und was man gerade gar nicht besprechen möchte … Trotzdem (oder eben deswegen?) habe ich Ruben schrecklich gern.

»Schöne Farbkombination«, grinse ich also, um das Gespräch gleich in ungefährliche Bahnen zu lenken, und schnappe mir einen Apfel aus dem Körbchen auf seinem Tresen. »Liberal geworden?«

»Ich lass mich doch nicht von Politik in meiner modischen Entfaltung beschränken!«, grinst Ruben abfällig. »Außerdem ignorierst du meine weiße Schürze – diese Dreier-Farbkombination ist natürlich eine Anspielung auf die Flagge der Provinz Limburg.« Aha, na klar. »Und du?«, grinst er. »Wartest du auf ihn?«

Oh, Mann, warum habe ich es nicht gewusst? »Auf WEN?«, frage ich unschuldig – aber einen Moment zu spät.

Er lacht. »Findest du nicht, dass es besser für alle Seiten wäre, wenn du nicht dauernd versuchst, mir was vorzumachen? Wir könnten schneller zum Wesentlichen kommen – und dich interessiert es doch wohl auch viel mehr, über IHN zu sprechen.«

Ich seufze und gebe mich geschlagen. »Woher weißt du es?«

Ruben verzieht mitfühlend das Gesicht. »Um ehrlich zu sein: von dir. Dein Abgang gestern wirkte so melodramatisch enttäuscht, dass in meinem inneren iPod sofort ein Tori-Amos-Song anlief.«

Mir bleibt kurz der Apfel im Hals stecken. Schneewittchen lässt grüßen. (Bolusinkarzeration, Verklemmen eines Fremdkörpers in der Speiseröhre. Tobias Thalheim trägt mich in den Funktionsraum 2 zur Endoskopie, unterwegs löst sich das Apfelstück in meiner Kehle, ich spucke es anmutig auf den Fußboden und wir küssen uns. Leider ist Tobias noch nicht hier, an den kleinen Cafeteriatischchen sitzen nur Zwerge.) Ich huste und komme zurück zum Wesentlichen: »Hat man es so deutlich gemerkt?«

»Ich schon«, nickt Ruben. »Aber die meisten hier sind ja blind und taub auf ihren Liebessensoren.«

Sehr tröstlich. »Du darfst es keinem Menschen sagen!«, flehe ich.

Ruben erklärt empört, er habe noch nie auch nur ein winziges Geheimnis verraten. »Wenn du wüsstest …« An jedem anderen Tag hätte es mich brennend interessiert, was er noch so für Klinik-Geheimnisse kennt. Heute kann ich an nichts anderes denken als meinen gestrigen Auftritt und seine angebliche Deutlichkeit.

»Sag mir, wenn ich falschliege, Lena, aber … Dr. Thalheim und eine Kollegenaffäre?! Ich wette, er versucht so peinlich, jede Aufmerksamkeit zu vermeiden, dass es kaum auffälliger geht!«

Ich muss grinsen. Schön wäre das. Bisher sind wir ja noch längst nicht in dem Stadium, in dem es um Aufmerksamkeitsvermeidung geht – und es ist noch nicht mal raus, ob wir jemals dahin kommen werden! Aber klar, ich weiß, was Ruben meint. Und wie schön, dass ausgerechnet er einmal etwas nicht weiß. »Ach, na ja«, lächle ich erwachsen, »wir vermeiden es natürlich, uns öffentlich abzuknutschen. Aber wir machen uns jetzt auch nicht verrückt mit der Geheimhaltung …«

Ruben grinst mich an. »Ich wette, ihr hattet noch nicht ein einziges richtiges Date!«

Eine halbe Stunde sitze ich in der Cafeteria. Kein Thalheim. Ich sehe dauernd zur Uhr und beruhige mich damit, dass es immer noch nichts bedeutet, dass er noch nicht da ist – es ist schlicht zu früh. Er kann noch gar nicht mit mir rechnen. Ruben hat zum Glück zu tun, er teilt Suppe, Pasta und Pudding aus und begnügt sich damit, mir immer wieder einen amüsierten Blick zuzuwerfen. Ach ja, der Pudding für Schwester Jana. Aber wenn ich jetzt noch mal zum Tresen gehe, fange ich mir garantiert einen Spruch ein. Endlich kommen meine Freundinnen. »Und?«, fragt Jenny aufgeregt und wie immer eine Spur zu laut. »Ist er schon aufgekreuzt?«

»Psst!« Isa ist zu meiner Erleichterung etwas mehr auf Formwahrung bedacht. »Wenn auffliegt, dass da etwas läuft, können sie sich überhaupt nicht mehr hier treffen!« Schlimmer, Isa: Wenn auffliegt, dass ich hier auf ihn warte, wird er vielleicht überhaupt nicht mehr herkommen! Meine Freundinnen wirken ebenso glücklich über die neue Station wie ich – mit noch mehr Grund, schließlich haben sie schon eigene Patienten (Jenny), die erste OP in Aussicht (Isa) und niemanden, dessen täglichen Umgang sie vermissen. Isa hat ein wenig Angst vor der morgigen OP-Assistenz. Und, wie sie nach einer Weile zugibt, auch vor der Party am Abend.

»Ich habe noch nie eine Party für jemanden gegeben«, sagt sie zaghaft lächelnd.

»Es kommen drei Leute zum Essen und ICH koche – wo ist das eine Party?«, mosert Jenny.

Isa ist nicht überzeugt. »Aber was, wenn Tom das übertrieben findet?«

»Schätzchen, hast du schon jemals gehört, dass du in irgendeiner Sache übertrieben hast?«, fragt Jenny. Isa ist beruhigt. »Ich hätte eher Angst, dass gar keiner merkt, dass das eine Party sein soll!«, flüstert Jenny, als Isa für mich Schwester Janas Pudding sichern geht. »Ich wünschte, ich könnte die Party selbst geben. Immerhin kommen auch Leute, die ICH beeindrucken will.«

Davon hatte ich, ehrlich gesagt, keine Ahnung. »Tja«, sage ich schäbig, »dann hättest du den armen Tom wohl behalten müssen.«

Jenny schüttelt schnell den Kopf. »Das ist wohl keine Party wert«, grinst sie.

In diesem Moment kommt Isa zurück. Sie stellt Janas Pudding auf den Tisch und flüstert: »Ich soll dir sagen, er ist bei einem Notfall und Ruben glaubt nicht, dass er noch kommt.« Okay, dann gehen wir eben. Ich habe die Pause ohnehin schon unmäßig überzogen. Schade. Aber irgendwie ist es auch okay, dass wir uns nach dem gestrigen Abend nicht hier vor allen treffen. Denn wenn ich ganz ehrlich bin, glaube nicht mal ich, dass er heute NICHT bedächtig an mir vorbeigehen würde.

»Nach Feierabend spazierst du in sein Büro und fragst, was Sache ist!«, entrüstet sich Jenny im Aufzug. »Er kann dich doch nicht einfach knutschen und sich dann verstecken!«

»Er versteckt sich nicht, er ist bei einem Notfall«, halte ich dagegen. Nicht nur für Jenny – sondern am meisten für mich selbst.

Als wir auf die Station zurückkommen, ist eben die Bauchspeicheldrüsen-OP beendet. Die Chirurgen verlassen den OP-Bereich, müde und erschöpft. Nur Dr. Thiersch wirkt völlig unbeeindruckt. Sie stöckelt energisch auf den Flur, als wäre sie nur zum Händewaschen im OP-Trakt gewesen. (Ich frage mich wirklich, wie die Oberärztin es hinkriegt, dass ihr Haar einfach IMMER perfekt sitzt? Vielleicht ist ihre Frisur eine Art Helm? Ich stelle mir vor, wie sie morgens ihre Haarpracht auf einer Noppe oben auf ihrem Kopf festdrückt. Lego-Haare. Das ist die einzig mögliche Erklärung.)

Als Letzte kommt unsere PJ-Kollegin Sabrina aus dem OP. Sie seufzt kraftlos, wirkt aber zufrieden, offenbar ist es gut gelaufen für sie. Und siehe da – Dr. Thiersch bleibt kurz stehen, wartet auf die erschöpfte PJlerin und sagt fast freundlich: »Frau Schulte, wenn Sie sich weiterbilden möchten, leihe ich Ihnen zur Nachbereitung gern Literatur.« Klar, da kann niemand Nein sagen. Sabrina schüttelt die Ermattung ab, schließt eilig zur Oberärztin auf und nickt beflissen. »Es ist ja immer gut, sich einen kleinen Vorsprung zu verschaffen«, sagt Dr. Thiersch vage in Sabrinas Richtung und klingt fast nett – aber ich schätze, sie wäre nicht so freundlich, würden wir nicht hier auf dem Flur stehen und ihr Gelegenheit geben, gleichzeitig mit der Ermutigung an EINE PJlerin eine Demütigung an drei andere auszuteilen. Na klar. Die kommen aus dem OP – und hier stehe ich mit einem Pudding in der Hand. Dr. Thiersch sagt nichts dazu und zieht nur abfällig die Augenbrauen hoch; das aber genügt, damit ich schon wieder das Gefühl habe, durchgefallen zu sein. Dass der Pudding für Schwester Jana ist, kann man jetzt auch nicht mehr ohne Peinlichkeit erwähnen, denn sie hat mich ja nicht darauf angesprochen. Dr. Thiersch reißt ihre Bürotür auf, Sabrina folgt ihr stolz und ich frage mich, warum sie die einzige PJlerin bevorzugt, die wirklich schon dicht dran ist an der offenbar von Dr. Thiersch vehement gegen weibliche Konkurrenz verteidigten Chirurgen-Festung.

»Warum wird die so bemuttert?«, fragt Jenny leise. »Sabrina wird doch viel schneller Chirurgin als wir.« Aha, sie hat es auch gemerkt. Jennys Schlussfolgerung ist unbarmherzig. »Wahrscheinlich, weil sie dick ist.« Isa sieht sie entsetzt an. Jenny winkt ab. »Mach dir nichts vor, Isa! Eine wie Sabrina kann Dr. Thiersch guten Gewissens bevorzugen. Sie wird sie nie überholen! Selbst wenn Sabrina eine Spitzen-Ärztin wird, bevor sie dreißig ist, kann sie Dr. Thiersch doch nie GANZ das Wasser reichen, denn Thiersch hat zudem noch Kleidergröße 36!« Es gefällt mir nicht, aber ich fürchte, Jenny hat recht.

»So SIND Ärzte nicht!«, empört sich Isa.

Jenny lacht. »So sind FRAUEN!«

Die Visite läuft sehr gut, Dr. Gode scheint im Gegensatz zu Dr. Thiersch überhaupt kein Problem mit Frauen zu haben. Er befragt uns in Bestlaune und macht Komplimente für jede noch so vorhersehbare Antwort. Jenny hat Paula Schwab heute Morgen schon allein untersucht und rapportiert vorbildlich. Paula ist zwar auch heute nicht gewillt, Dr. Gode einen Blick zu schenken, aber der sonnige Arzt hat eingesehen, dass es hier auch mit noch so viel Charme nichts zu gewinnen gibt und lässt Jenny die Visite durchführen. Noch ein paar Voruntersuchungen, blutchemische Laboruntersuchung und Thromboseprophylaxe, dann wird Paula operiert.

»Ich zähle auf dich, Jenny«, sagt sie. »Du bist die Einzige, der ich meinen Magen echt gern spenden würde.«

Jenny strahlt. »Mal schauen«, sagt sie brav, »das entscheidet Dr. Thiersch.« Aber ich sehe ihr an, dass sie sofort in den OP marschieren und selbst Hand anlegen würde, so glücklich ist sie über Paulas exklusives Vertrauen.

Bei Frau Jahn in Zimmer 4 lässt Dr. Gode sich die Morgenbefunde zusammenfassen. Ich erwähne den erhöhten Blutdruck und er runzelt die Stirn und bittet mich um eine Kontrollmessung. Jetzt ist alles in Ordnung. Aber als ich vom Bett zurücktrete, fällt mein Blick zufällig auf Frau Jahns Nachttischlektüre. Sie liest Charlotte Link. Hätte ich ihr nicht zugetraut, sie sieht mehr wie der Hertha-Müller-Typ aus. Gut, ich bin die Letzte, die etwas gegen gemütliche Unterhaltungslektüre hat – aber Bluthochdruck durch Charlotte? Ich bin entschlossen, Frau Jahn ein wenig im Auge zu behalten. Ich glaube, sie hat mich vorhin schlicht beschwindelt. Oder wer macht sich Lesenotizen zu einem Charlotte-Link-Roman?

Bei Frau Schneider mit den Gallensteinen schiebt Dr. Gode Isa nach vorn. »Diese junge Dame schneidet Ihnen morgen ein bisschen den Bauch auf.«

Natürlich ist das eine denkbar schlechte Eröffnung für Isa, die mit solcher Art Nonchalance absolut nicht umgehen kann. Aber hier heißt es Souveränität zeigen, das weiß auch sie. Ziemlich taff für ihre Verhältnisse lächelt sie Frau Schneider an und sagt: »Keine Angst, ich assistiere nur. Aufschneiden werde ich wahrscheinlich noch lange nicht dürfen.«

Das war die absolut richtige Antwort, Frau Schneider erwidert das Lächeln und entgegnet: »Ich bin sicher, Sie assistieren hervorragend.«

Nach der Visite gesteht Isa uns, dass sie mehr Angst vor den Ärzten als vor den Patienten hat. »Ich glaube, wenn ich erst mal im OP bin und es darauf ankommt, zu helfen, werde ich mir überhaupt keine Sorgen mehr machen. Aber das OP-Vorgespräch bei Dr. Thiersch … ich wünschte, da könnte eine von euch für mich hingehen!«

»Wie kannst du heute schon an morgen denken?!«, fragt Jenny fröhlich. »In zwei Stunden ist Feierabend und du wirst deine erste Party geben!«

Gemein – aber es hilft: Mit dieser neuen Unsicherheit konfrontiert, stellt Isa ihre Sorgen um den nächsten Tag hintan. »Oh Mann, ich denke, es ist nur ein kleines Essen und DU kochst?!«, sagt sie zaghaft. Jenny grinst.

In den nächsten zwei Stunden ist Isa nicht die aufmerksamste Ärztin der Station; sie findet, dass sie auch etwas zu dem Essen beisteuern sollte und grübelt, welcher Nachtisch zu indischem Essen passt. Und soll sie dekorieren? Gibt sie Tom sein Geschenk vor allen anderen oder wäre ihm das peinlich? Finden WIR es blöd, dass sie Tom einen Füller schenkt? ICH finde es eigentlich süß, Jenny meint, es wäre auf jeden Fall passend. (Vielleicht wäre es nicht nötig gewesen, zu sagen, dass Tom sich sicher sehnlichst einen Füller wünscht, nachdem er sein ganzes Studium mit Buntstiften hantieren musste.) Als wir die Klinik verlassen, hat Isa jedenfalls beschlossen, ein Ersatzgeschenk zu besorgen und im Kopf eine endlose Einkaufsliste zusammengestellt. Wir warten vor dem Aufzug. Als er kommt, entscheide ich mich in einer Kurzschlusshandlung, nicht mitzufahren.

»Ich hab meinen Stift im Vorbereitungszimmer liegen lassen«, sage ich. »Ihr wisst doch, Glückskuli. Aber fahrt ruhig schon runter.« Meine Freundinnen schmunzeln. Und steigen ein. Ich versichere mich mit einem schnellen Griff, dass mein Glückskuli sicher in meiner Kitteltasche steckt – dann nehme ich die Treppe.

In der ersten Etage öffne ich die Zwischentür. Nur so, bloß mal gucken. Der Gang ist leer. Ich warte. Wenn ich es schaffe, bis hundert zu zählen, bevor hier jemand vorbeikommt, ist Thalheim noch in seinem Büro. Warum hundert, Lena? Fünfzig ist eine viel schönere Zahl! Ich zähle, so schnell ich kann. Siebenundvierz-achtundvierz-neunundvierz-fuffzig. Keiner da. Ich trete auf den Flur. Orakel haben immer recht. In seinem Büro brennt noch Licht.

Ich gehe langsam näher. Bestandsaufnahme, Lena! Ihr habt euch geküsst, es war traumhaft, er fand es nicht richtig, küsst aber noch mal. Daraus darf eine selbstbewusste Frau doch wohl schlussfolgern, dass sie eine unwiderstehliche Anziehungskraft haben muss! Und dass also jeder, den sie spontan zum Feierabend besucht, darüber sehr glücklich sein müsste. Trotzdem – da man schlecht mit »Ich schätze, du vermisst mich« in sein Büro spazieren kann (Nun ja: ICH kann es nicht), wäre es tausendmal besser, wenn er jetzt herauskäme … Bitte, bitte, komm! Du könntest fühlen, dass ich hier stehe! In Filmen klappt das so oft! Schritte. Mir wird eiskalt. Seine Tür öffnet sich. »Hallo!«

Wie habe ich seine Stimme vermisst, sein leicht spöttisches Lächeln, IHN! Klar, er weiß, dass ich hier nichts mehr zu suchen habe. Seinetwegen da bin. »Hallo!« Mehr fällt mir auch nicht ein.

Er kommt auf mich zu. »Was machst du hier?« Ich hole Luft. (Und jetzt? »Ich wollte dich sehen«? »Hab mich im Stockwerk vertan, haha, alte Gewohnheit«? Manno, hätte ich doch den Mut zu »Na, ich komme dich küssen!« Ähm … könntest du dich dann überhaupt mal zu einer Antwort entschließen, Lena? Sag was!)

Er sieht mich an. »Du kommst gerade zur richtigen Zeit.« Dann öffnet er die Tür eines Patientenzimmers und setzt ein beruhigendes Lächeln auf. Ein Lächeln, für das ich alles tun würde. Nein, ER braucht keine flotten Sprüche, kein sonniges Geplänkel. Er lächelt dich an und du hast das Gefühl, dass alles gut werden kann. Dass er alles gut werden lässt. Für dich.

Er tritt ans Bett der Patientin. »Ich habe doch versprochen, dass ich Sie noch mal besuche«, sagt er. »Und ich habe Ihnen jemanden mitgebracht.«

Das Mädchen im Bett ist jung. Ich kenne sie noch; sie war die letzte Patientin, die ich auf der Inneren aufgenommen habe. »Wie geht es Ihnen?«, frage ich und freue mich so, sie zu sehen. Glücklicher macht mich nur, dass er neben mir steht, mich so warm ansieht und diesen Moment mit mir teilt.

»Zwei Wochen absolute Bettruhe«, sagt er, »das ist natürlich schwer zu ertragen. Aber morgen darf sie endlich aufstehen.«

Er setzt sich ans Bett, die Patientin strahlt ihn an. »Setzen Sie sich«, sagt er. Ich nehme auf der anderen Seite des Bettes Platz.

»Wo waren Sie die ganze Zeit?«, fragt mich das Mädchen. Dr. Thalheim lächelt. »Fräulein Weissenbach musste weiterziehen, auf dem langen Weg zur Assistenzärztin. Unsere Station muss nun ohne sie auskommen.«

»Schade!«, sagt die Patientin. Er nickt. Und sieht mich dabei an.

Zehn Minuten sitzen wir am Patientenbett, das Mädchen erzählt von ihren Plänen; wenn sie endlich wieder aufstehen darf, will sie Tennis spielen lernen. Ich kann an nichts anderes denken, als daran, dass das hier wirklich ich bin. Die hier am Bett sitzt, neben ihm. Zwei Ärzte. Er lächelt mir zu, zwischendurch, ganz vertraut. Das ist, was ich mir immer gewünscht habe.

»Was machen Sie denn noch hier?« Dr. Thiersch steht in der offenen Tür.

Von allen Angestellten dieser Klinik muss ausgerechnet Dr. Thiersch ausgerechnet jetzt hier vorbeistöckeln! Sie kommt aus der Cafeteria, in der Hand einen Joghurt, na klar, vielbeschäftigte Chirurgen haben miese Essenszeiten. Die Lego-Frisur sitzt immer noch perfekt.

»Nichts. Ich …« Ich stammle.

»Eine alte Patientin von Fräulein Weissenbach«, sagt Thalheim gelassen. »Die beiden haben sich lange nicht gesehen.«

Dr. Thiersch nickt. Doch sie bleibt in der Tür stehen. »Ja«, sagt sie, »Patientenbesuche. Dafür hat man immer zu wenig Zeit.«

Ich stehe auf. Der Moment ist kaputt. Ich verabschiede mich von der Patientin, wünsche viel Glück. »Auf Wiedersehen« auch zu Dr. Thalheim. Was soll ich sonst sagen? Hoffentlich versteht er die Blick-Sprache! (Mit der ich »Danke« und »Du fehlst mir jetzt schon« sage.)

Er lächelt. »Einen schönen Abend!« Ich nicke ihm zu und gehe.

Meine Freundinnen stehen vor der Klinik und warten auf mich. Isa hängt schon wieder am Telefon. Als ich komme, hält sie mir aufgeregt den hochgestreckten Daumen entgegen. Offenbar ist bei Tom alles prima gelaufen. »Ich bin SO stolz auf dich!«, flüstert sie in den Hörer. Jenny zückt ebenfalls ihr Handy. »Dann werde ich mir auch mal einen netten Herrn einladen.« Ich nicke, sie wählt schon. Und ich? Hab keinen, den ich anrufen kann.