Dr. Dr. Kreuz hat sich nicht verändert. Wie im letzten Tertial schreitet er majestätisch voraus über die Flure, verbringt an jedem Krankenbett dieselbe Zeit, lässt sich Akten reichen und inquiriert. Ich habe schreckliche Kopfschmerzen und kann nur mit letzter Kraft beide Daumen drücken, dass ich nicht allzu eingehend befragt werde. Zur Beantwortung kniffliger Chefarztfragen ist heute wirklich nicht genug Hirnmasse verfügbar. (Die Gehirnzellen schlafen komatös ihren Rausch aus, ich glaube, sie haben sich eben noch mal umgedreht, um noch ein halbes Stündchen dranzuhängen.) Jenny und ich mogeln uns ans Ende der Reihe und ich sehe ihr an, dass die Stimmlautstärke des Chefarztes auch bei ihr heftiges Schädelbrummen verursacht.
Neu an der Chefvisite ist in diesem Tertial, dass er nicht mehr nur Diagnosen abfragt, sondern jeweils auch wissen möchte, wie die OP ablaufen wird oder bereits vor sich ging und welcher PJler assistieren durfte. Sabrina Schulte räumt mächtig ab, sie kann von uns allen die meisten OPs verbuchen und antwortet auf die Chefarztfragen in einem Tonfall, als unterhielten sich zwei Gleichgestellte. »Selbstverständlich müssen wir die Drainagen beobachten und ziehen, wenn sie nichts mehr fördern«, sagt sie lächelnd am Bett des immer noch sehr schwachen Herrn Reichelt, »aber die Klammern können ja dann ambulant entfernt werden, also kann der Patient nächste Woche bereits entlassen werden.«
Dr. Dr. Kreuz nickt. »Wer hat assistiert?« Sabrina lächelt bescheiden, als sei das keine Frage. Doch auch Jenny zeigt auf. So viel Körperbeherrschung ist schon noch verfügbar – und sie scheint sich für ihren Ausfall auch nicht zu genieren. Dr. Dr. Kreuz mustert die beiden unterschiedlichen Mädchen. »Und?«, fragt er dann fast schmunzelnd. »Wer von Ihnen hat schlappgemacht?«
Sabrina ist wenigstens so anständig, nicht gleich mit dem Finger auf Jenny zu zeigen. Das ist auch nicht notwendig, denn Jenny gibt es unumwunden zu. Und siehe da: Statt herablassend zu werden, schenkt ihr der Chef sogar die Andeutung eines Lächelns. »Nun«, sagt er bedächtig, »in einer Vier-Stunden-OP ist das kein Grund zum Schämen. Ich habe gestandene Chirurgen erlebt, die das Doppelte Ihres Kampfgewichtes hatten und trotzdem zusammengebrochen sind wie kleine Mädchen. Wann unternehmen Sie den nächsten Versuch?«
Jenny grinst. »Jederzeit.«
Dr. Kreuz nickt ihr zu. »Angenehm, dass Sie in diesem Tertial mal durch Einsatz auffallen wollen.« Jenny steckt diese Anspielung kommentarlos ein, der Freispruch des Chefarzts bedeutet ihr mehr – und wie schön, dass er die eifrige und stolze Sabrina gar nicht besonders lobt! Stattdessen dreht er sich zu Isa um … da ist er wieder, der allmächtige Chefarztfinger; er bleibt genau vor Isas Nase hängen, die erschrocken fast ein wenig zu schielen anfängt. »Und was können Sie mir über IHRE OP-Qualitäten sagen? Durften Sie Ihre Nerven schon auf die Probe stellen?«
Isa nickt. »Zweimal«, flüstert sie. Wer weiß, dass sie im letzten Tertial überhaupt nicht in der Lage war, mit dem Chefarzt zu sprechen, erlebt diese geflüsterte Antwort als einen großen Fortschritt. Dr. Gode aber, der nichts von Isas lang anhaltender Sprechhemmung ahnt, glaubt wohl, er müsse für sie in die Bresche springen. »Sie hat bereits zweimal assistiert und sich beim zweiten Einsatz wirklich gut bewährt«, sagt er eilig und laut. »Wir sind alle sehr stolz auf sie.«
Doch er erntet nicht den gewünschten Erfolg. Dr. Dr. Kreuz sieht ihn ein wenig missbilligend an und entgegnet: »Ich wäre stolzer gewesen, wenn sie mir das selbst mitgeteilt hätte.«
Ich weiß, dass Isa nur Mut gesammelt hat, um den Chef allein über ihre Erfolge aufzuklären, und ärgere mich. Durch Dr. Godes Eifer sieht es nun so aus, als sei Isa wieder angstgehemmt und der Stationsarzt müsse ihre Chefarzt-Panik kaschieren. Tatsächlich muss Isa in der Folge mindestens doppelt so viele Fragen beantworten wie wir anderen.
Bei Frau Schneider bin ich an der Reihe. Die Patientin erholt sich gut und tut mir auch noch den Gefallen, eine freundliche Bemerkung über mich und meine aufopfernde Bereitschaft zum Kaffeebring-Service zu machen – und da ich es schaffe, meine miese Verfassung kurz zu verdrängen, und Dr. Kreuz’ Fragen zur Wundheilung und Nachbehandlung umfassend beantworten kann, machen wir wohl einen recht guten Eindruck. Ebenso zufriedenstellend geraten meine Ausführungen bei Herrn Kohler und Frau Jahn. Offenbar sind mir heute alle Patienten wohlgesinnt – welche Erleichterung in meinem Zustand! – und Herr Kohler erwähnt sogar lobend mein Einfühlungsvermögen. Ich habe also das Gefühl, ziemlich gut abzuschneiden.
Bei Paula Schwab hält Jenny die Visite und sammelt noch einmal Pluspunkte. Denn Paula spricht auch bei der Chefarztvisite ausschließlich mit Jenny. Als Dr. Dr. Kreuz fragt, ob die Vorbereitungen abgeschlossen und die Patientin über die OP-Risiken aufgeklärt sei, zuckt sie die Schultern und entgegnet, dass sie ohnehin nichts ändern könne und Jenny ja wohl wisse, was sie tue. Es wird ganz deutlich, dass Jenny die Einzige ist, die Paulas Vertrauen besitzt. Ich bin froh, dass auch meine Freundinnen gut abschneiden – und überhaupt nicht gefasst auf das, was mich nach der Visite erwartet.
Als wir das letzte Zimmer verlassen, winkt Dr. Dr. Kreuz mich neben sich. »Was ist los mit Ihnen?«, fragt er. »Sie wirken müde und lustlos.« Ja, ich weiß. Pflaumenlikör und Liebeswirren. Es tut mir schrecklich leid. Ich würde natürlich niemals zugeben, welche Nachtaktivität für meinen schlechten Zustand verantwortlich ist, aber ich habe innerlich ja bereits heiß und heilig geschworen, beim nächsten Mal den frischesten und engagiertesten Eindruck der ganzen Gruppe zu machen!
Doch offenbar geht es dem Chef nicht um mein etwas müdes Schleichen und mein verringertes Stimmvolumen. »Sie haben mir drei Patienten vorgestellt, von denen Sie nicht einen in den OP begleitet haben«, nörgelt er. Ich falle aus allen Wolken, mein Kater ist vergessen. »Dass Sie die Patienten einfühlsam aufklären können, ist gut und schön. Sie wissen aber, dass Sie nicht nur dafür hier sind. Geschweige denn zum Kaffeeholen.«
Ach Mann! Frau Schneiders Anmerkung, dass ich eigenhändiges Kaffeebringen versprochen habe, sollte ein Lob sein! Aber es war ja fast klar, dass der Chefarzt das in den falschen Hals kriegt. Andererseits stimmt es, Lena, Du bist nicht dafür hier! Wie kommt es, dass die kleine Isa bereits zwei OPs verbuchen kann und Du es immer noch nicht weiter geschafft hast als einmal rein in den grünen Kittel – und dann wieder raus aus dem OP-Bereich?! Aber jetzt kann ich doch schlecht Dr. Thiersch anschwärzen! Dr. Dr. Kreuz geht schon weiter, er will wohl gar keine Antwort hören. »Ich erwarte, dass Sie bis zur nächsten Woche mindestens eine OP absolviert haben.« Dann ist er verschwunden. Wie aber soll ich das machen, lieber ungnädiger Chef?! Wenn mich die Eisprinzessin nun mal auf dem Kieker hat?! Wie oft werde ich denn überpünktlich erscheinen, dauernd aufzeigen und Dr. Thiersch um den gestärkten Kittel kriechen müssen, bevor sie mir vergeben wird?
Als die PJler nach der Chefarztvisite in alle Richtungen davoneilen, winkt mich der sonnige Dr. Gode in den Arztraum, wo er Kaffee ausschenkt und offenbar ein Nachgespräch in Gang bringen möchte. »Na?«, lächelt er kollegial. »Gefeiert?« Ich zucke die Schultern, nicht besonders interessiert daran, den Stationsarzt in unser Privatleben und unsere Abendunterhaltung einzubeziehen. Aber dann ergreife ich doch die Gelegenheit und erzähle von dem unerwarteten Chefarztangriff. Dr. Gode wiegt nachdenklich den Kopf. »Es ist wahr«, sagt er schließlich, »Sie müssen operieren.« Er überlegt, dann grinst er breit. »Können Sie nicht einfach ein bisschen weniger attraktiv sein, Frau Weissenbach? Den Hässlichen verzeiht unsere Chefin viel schneller.«
Ich weiß nicht, ob ich geschmeichelt oder gekränkt sein soll. Erstens gibt es auf dieser Station weit hübschere PJlerinnen, die bereits wenigstens einmal eingeteilt wurden, zweitens kann und möchte ich nicht glauben, dass die Klinikregeln wirklich von so blöden, profanen Eitelkeiten beeinflusst werden sollen und drittens ist es mehr als unangenehm, so zweifelhaften Komplimenten ausgesetzt zu sein.
»Jenny ist viel hübscher«, sage ich schließlich.
Na toll. Das ist die albernst-vorstellbare Entgegnung, denn nun klingt es, als hätte ich nicht nur Selbstzweifel und akzeptiere im Grunde die seltsame Attraktiv-wird-benachteiligt-Einstellung, sondern neide auch noch meiner Freundin den Erfolg. (Geh ins Bett, Lena! Das hier heute hast du eindeutig versaut.) Ich bringe wenigstens noch die Würde auf, dem lächelnden Sonnyboy zu erklären, dass ich die Verzeihung und Anerkennung der Oberärztin durch Einsatz und innere Werte zurückzuerobern trachte, dann eile ich wieder an meine Stationsaufgaben. Was für ein seltsames Gespräch!
Ich besuche Frau Jahn, injiziere ihr die postoperative Thromboseprophylaxe und gebe ein entzündungshemmendes Schmerzmittel. Am operierten Bein ist eine Schiene angebracht, die die Bewegung im Kniegelenk einschränkt, um den frisch genähten Meniskus zu entlasten. Während der OP wurde Frau Jahn eine Drainage ins Knie gelegt, die nun entfernt werden muss. Mit Fadenmesser und neuem Verbandmaterial bewaffnet, ziehe ich den dünnen Schlauch aus ihrem Knie. Sie beäugt mich misstrauisch. (Keine Angst, in allem, was NICHTS MIT OPERIEREN zu tun hat, bin ich erstklassig. Ich könnte dir nebenbei mit den Füßen Kaffee einschenken. Ich tue es nur nicht, weil solche Qualitäten hier nicht gefragt sind.) Frau Jahns Blick wandert zum Nachttisch. Irre ich mich, oder hat sie schon wieder in ihrem Büchlein gerechnet, als ich hereinkam?! Das kann doch nicht wahr sein. Einen Tag nach der OP! Die penetranten Büro-Anrufe gestern scheinen darauf hinzudeuten, dass sie, ebenso wie ich, einen unnachgiebigen Vorgesetzten hat. Setzt er sie unter Druck? Frau Jahn wirkt gehetzt. Denkbar schlechte Voraussetzungen für eine komplikationslose Wundheilung! Mein Brummschädel war so anständig, sich nach dem schlechten Arbeitsstart etwas zurückzuziehen; und da ich mich wieder zu einem konzentrierten Gespräch in der Lage fühle, ergreife ich die Gelegenheit, mit Frau Jahn über den Inhalt ihres Nachtkästchens zu sprechen.
»Die Wundheilung ist erst nach zwei bis vier Wochen abgeschlossen. Aber wenn die postoperative Schwellung abgeheilt und der Physiotherapeut mit Ihnen zufrieden ist, werden Sie schon entlassen«, beginne ich über einen Umweg. »Was haben Sie dann vor?«
Frau Jahn sieht mich irritiert an. »Arbeiten«, sagt sie stirnrunzelnd. »Was denn sonst?«
Das dachte ich mir. »Sie sind aber noch nicht wieder alltagstauglich«, mahne ich. »An Arbeit ist noch lange nicht zu denken …«
Sie bleibt kühl. »Ich arbeite, wann ich es für nötig halte. Immerhin hatte ich nur einen Meniskusschaden.«
Ich tippe wie beiläufig an ihren Nachttisch. »HIER arbeiten Sie aber nicht, oder? Das ist absolut verboten.«
Frau Jahn wirft einen hektischen Blick zu ihrer Schublade, schüttelt dann aber ganz unschuldig den Kopf. »Natürlich nicht.«
Ich weiß nicht, was die Zahlenkolonnen in ihrem Buch bedeuten, aber dass sie unmäßig gestresst ist, steht fest. »Die Ausheilung dauert bis zu vier Monate. Die Schiene tragen Sie mindestens noch 10 Wochen. So lange müssen Sie Ihr Knie entlasten und dürfen es nicht voll beugen. Außerdem bekommen Sie Unterarmgehstützen«, sage ich. »Die Muskeln müssen sich erst wieder kräftigen. Und so lange haben Sie auf jeden Fall noch Schonzeit.«
Frau Jahn schüttelt pikiert den Kopf. »Ich arbeite im Sitzen, das wird ja wohl gehen!« Ja, das habe ich gemerkt, liebe Frau. Du arbeitest sogar, wenn du im Krankenbett sitzt.
»Die Dauer der Krankschreibung richtet sich nach Ihrem Beruf«, erkläre ich. »Was machen Sie denn?«
Sie zieht die Augenbrauen hoch. »Ich habe eine Investmentfirma. Davon verstehen Sie sicher nichts.« Ach, arrogant kann ich auch. Und das, wovon ICH etwas verstehe, ist ja wohl im Moment wichtiger, oder?
»Wir werden Sie drei bis vier Wochen krankschreiben«, sage ich, als hätte ich die Beleidigung gar nicht wahrgenommen. »Aber die Beinschiene und die Gehstützen müssen Sie trotzdem benutzen. Es sei denn, Ihr Beruf belastet Sie auch körperlich. Dann sollte ich Sie für etwa drei Monate arbeitsunfähig schreiben.« Kann sie ja nicht wissen, dass ich das gar nicht ganz allein entscheiden darf.
Meine Strenge macht Eindruck. »Das geht auf keinen Fall!«, japst Frau Jahn nach Luft. Sie tut mir leid, trotz ihrer Arroganz.
»Machen Sie doch mal eine Pause«, sage ich freundlich. »Kein Mensch kann von Ihnen verlangen, dass Sie selbst von hier aus noch zur Verfügung stehen und damit Ihre Heilung gefährden.«
Frau Jahn schüttelt den Kopf, aber sie wirkt plötzlich gar nicht mehr überheblich. »Doch«, entgegnet sie leise, »ich.«
Eine halbe Stunde später sitze ich immer noch an Frau Jahns Bett. Als sie erst einmal angefangen hat, von ihrer Arbeit zu sprechen, gibt es kein Halten mehr. Sie leitet eine Firma, die offenbar nichts anderes tut, als Gelder in andere Unternehmen zu investieren. Frau Jahn verdient ihren Lebensunterhalt mit dem An- und Verkauf von Firmen, Wertpapieren und Rohstoffen. Und leider läuft es gerade ganz mies. Wenn ich es richtig verstanden habe, hat sie ziemlich schlecht eingekauft und zu viel Geld in Dinge investiert, die sie nicht wieder loswird. Und nun gehen ihr die Mittel aus, sie hat ein Aktienpaket nicht abstoßen können und ein Unternehmen, das sie schon fast sicher weitervermittelt hatte, ist plötzlich in Verruf geraten, weshalb ihr der Käufer abgesprungen ist. Zu diesem denkbar schlechten Zeitpunkt liegt sie nun ausgerechnet wegen eines albernen Meniskusschadens im Krankenhaus, während ihre Firma existenzbedrohende Verluste macht. Frau Jahn gibt zu, dass sie vom Krankenbett aus versucht hat, ihre Firma zu retten – und dass sie die Klinik erstens so schnell wie möglich verlassen muss und es sich zweitens nicht erlauben will, sich danach angemessen zu schonen. Sie wirkt zittrig, aber als sei es eine Befreiung, endlich über ihre Sorgen zu reden.
»Ich kann das sonst niemandem sagen …« Sie blättert mit bebenden Fingern im Notizbuch. »Nach außen muss man immer tun, als hätte man unbegrenzte Mittel, sonst springen einem die letzten Kunden auch noch ab.«
Ich versuche, ihr gut zuzureden; es wird schon alles in Ordnung kommen. Aber sie braucht Kraft – und sollte sich deswegen wenigstens noch zwei Tage vollkommen schonen. Ich ahne schon, dass sie widerspricht. Und als sie das tut, erkläre ich so autoritär ich kann, was für Komplikationen möglich sind, wenn sie sich zu schnell und unvernünftig wieder in den Arbeitsstress stürzt.
»Aber wenn ich nicht übermorgen wieder voll einsatzfähig bin, brauche ich gar nicht zurückzukommen«, flüstert sie. »Dann bin ich ruiniert und kann gleich für immer hier liegen bleiben!«
Ich nehme ihr das Büchlein aus der Hand und lege es in die Lade zurück. »Was wäre denn schlimmer?«, frage ich sanft. »Wenn die Firma ruiniert ist – oder Sie?«
Frau Jahn nickt ergeben, aber ich glaube nicht wirklich, dass sie einsichtig ist. »Heute hat auch schon keiner mehr angerufen …«, sagt sie schwach und wirft einen Blick auf das Telefon in der Schublade. Sie fährt hoch wie vom Schlag getroffen. »Es ist aus! Jemand hat mich abgeschaltet! Das ist ja schrecklich!«
Ich sage nicht, dass ich das war, und versuche, ihr das Handy wegzunehmen. Doch sie hat es schon eingeschaltet, tippt mit zitternder Hand den Code ein. Unheilvolles Piepsen setzt ein und zeigt, dass es nach dem Abschalten des Telefons noch mindestens zwanzig Anrufversuche gab. Frau Jahn ist den Tränen nah. »Oh mein Gott, ich muss mich melden!« Sie sieht mich bebend an. Na klar, ich soll gehen. Aber ich bleibe an ihrem Bett stehen und versuche, ruhig zu bleiben.
»Hier darf man nicht telefonieren«, sage ich beherrscht. Frau Jahn bettelt fast herzergreifend.
»Verstehen Sie nicht? Mein Beruf ist mein Leben. Ich stehe dafür gerade. Man tut alles dafür! Es ist einem egal, ob andere es richtig oder falsch finden.« Und damit hat sie recht. Ich nehme ihr das Telefon aus der Hand. Ganz ruhig, Lena. Du tust das Richtige – und jetzt sollte es DIR egal sein, wie falsch und schrecklich das Frau Jahn findet.
»Sie müssen sich ausruhen, Frau Jahn«, sage ich bestimmt. »Ich kann die Oberärztin hierherrufen und darum bitten, dass Sie sediert werden. Oder ich stecke jetzt das Handy ein – und Ihr Notizbuch gleich mit – und Sie ruhen sich so lange aus, bis ich es Ihnen wiedergebe.« Frau Jahn nickt. Ich drücke ihre Hand. »Es wird schon alles gut gehen«, sage ich leise. »Jetzt denken Sie erst mal nur an sich.«
Nachdem Frau Jahn sich erschöpft in die Kissen sinken ließ, suche ich Dr. Gode und bitte um die Erlaubnis, der Patientin ein Schlafmittel verordnen zu dürfen. Ich verpetze sie nicht, erkläre nur, dass sie private Sorgen hat, die sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Dr. Gode lobt mich und empfiehlt mir ein passendes, schonendes Medikament. Und als ich gehen will, hält er mich noch einmal auf. »Ich entschuldige mich, sollte ich Ihnen vorhin zu nahe getreten sein«, lächelt er. »Aber ich kenne eigentlich keine junge Frau, die wegen eines Kompliments an ihr Äußeres beleidigt ist.« Er grinst breit, was bitte erwartet er für eine Antwort?!
»Schon gut«, sage ich. »Komplimente sind okay. An manchen Tagen kann man sie gut brauchen. Nur heute war ich irgendwie …« Mies gelaunt? Verkatert? Generalaggressiv? Ich weiß, er hat es nur nett gemeint.
»Kein Problem, Frau Weissenbach.« Er lächelt immer noch. »Sagen Sie einfach Bescheid, wenn Sie ein Kompliment brauchen. Ich bin sicher, dass mir bei Bedarf immer eins einfallen wird.«
Sag mal, Lena, flirtet der mit dir?!
Ich mache mich eilig aus dem Staub, hole mir im Schwesternzimmer das passende Medikament und kehre zurück ins Zimmer 4. Ich gebe Frau Jahn ein Sedativum und hoffe, dass sie endlich für eine Weile zur Ruhe kommt. Meine eigenen Sorgen wirken plötzlich klein. Ich werde schon noch meine OP bekommen. Zur Not kann ich ja wirklich auf Jennys Lila-Haare-Plan zurückgreifen und mir eine so abstoßende Mähne färben, dass Dr. Thiersch aus Mitleid meinen ach-so-großen Zuspätkomm-Fauxpas verzeiht und mir zum Seelenaufbau gleich fünfzehn OPs zuteilt. Alles klar, Lena. Super Plan!
Wer hatte prophezeit, dass man in der Chirurgie dauernd die Mittagspausen verpasst? Damals, als mir das angedroht wurde, habe ich mir die Zusammenhänge irgendwie anders vorgestellt. Dass ich keine Zeit zum Essen haben werde, weil ich mit höchster Konzentration und stahlruhigen Händen lebensrettende OPs durchführen muss – und dann erschöpft, aber zufrieden in die Cafeteria wanke, um mich kurz an den Kaffeetropf anschließen zu lassen, damit ich gleich noch mehr Leben retten kann. Stattdessen hetze ich jetzt ohne Erfolgsmeldungen nach unten, um einen Schokoriegel zu erbetteln. Nicht ganz so eindrucksvoll.
Die Cafeteria ist fast leer. Ruben grinst mich an. »Fräulein Notfall – immer im Einsatz! Oder hast du die Pause nur aufgeschoben, um ihn zu sehen?« Ich muss kurz umschalten. Tobias. Ich erfahre, dass er auch noch nicht da war. Und das bringt meine Laune schlagartig wieder nach oben. Als sich die letzten Schwestern, die sich am Kaffeetischchen verquatscht hatten, endlich verabschieden, bleibe ich am Tresen stehen und tue, als könne ich mich nicht zwischen den Sandwiches entscheiden. Bitte, bitte, komm doch jetzt vorbei! Kannst du nicht spüren, dass ich hier bin und warte?! Ich schiebe mich am Tresen entlang, als könne ich Ruben etwas vormachen. Doch schon nach einer Minute hebt er die Sandwichplatte hinter dem Sichtschutz empor und stellt sie nach oben.
»Jetzt kannst du sie röntgen, das erleichtert vielleicht die Entscheidung?«, grinst er. »Und dann setz dich mit deinem Brot in die Ecke und warte sittsam und still, wie es sich für eine verliebte Jungfer gehört, statt mich hier verrückt zu machen!« Für mich hört sich diese Bezeichnung nicht so gut an, aber ich tue ihm wenigstens den Gefallen und lasse seine Brote in Ruhe. Stattdessen nehme ich einen Kaffee und beschließe, ihn so langsam wie möglich zu trinken – aber zu gehen, falls sich Tobias nicht blicken lässt, wenn ich den Tassenboden erreicht habe. Zehn Minuten später ist der Kaffee kalt und ich kann die Pause nicht mehr hinauszögern.
Ruben lehnt sich an den Tresen und sieht mich mitleidig an. »Ihr müsst so was verabreden, Lena! Oder willst du dir hier jeden Mittag die Beine in den Bauch stehen?« Nein, er hat recht. »Ich hätte es heute einfach gut brauchen können«, gebe ich zu. Ruben legt den Arm um mich. Woran liegt es, dass heute jeder Mann in meiner Umgebung bestrebt scheint, aufmerksam, liebenswürdig und mitfühlend zu mir zu sein – nur der eine nicht?!
»Wie läuft es denn?«, fragt Ruben neugierig. Ich zucke die Schultern; so gern ich ihn einweihen würde … »Ist es sehr kompliziert?«, fragt er leise und überraschend ernst. »Du wirkst so angespannt.«
»Nein«, antworte ich, so viel werde ich ja wohl preisgeben dürfen, »eigentlich ist alles gut. Nur die Geheimhaltung ist nicht so meins.«
Ruben lacht. »Du könntest dich ja bei mir ein bisschen aussprechen.« Sein Grinsen wirkt hintersinnig. Ich schüttle den Kopf. »Na gut.« Ruben greift nach meiner Kaffeetasse. »Das war ja nur mein Versuch, zu deiner Seelenerleichterung beizutragen. Ich weiß doch sowieso alles. In der Klinik schleicht ihr umeinander herum, als könntet ihr kein Wässerchen trüben – und jeden Abend tut er so, als ergäbe sich ganz zufällig eine Gelegenheit, dich nach Hause zu bringen.«
Ich erkläre erwachsen, dass die abendlichen Heimfahrten abgesprochen sind und einfach unser Kompromiss, gemeinsame Zeit zu haben, ohne uns im Krankenhaus offenbaren zu müssen. Und woher weiß er das überhaupt? Er zuckt die Schultern. »Vielleicht habe ich den Müll rausgebracht und euch gesehen. Oder ich habe Zugang zur Parkplatz-Überwachungskamera, wer weiß?«
Ist es so auffällig? Sollen wir uns jetzt auch noch die gemeinsame Autofahrt versagen? Ruben sieht mich nachdenklich an. »Liebe Lena, was meinst du, was passiert, wenn das rauskommt?« Ich weiß. Meine Karriere.
Ruben lächelt. »Du hast ein Spiderman-Problem, mein Schatz. Wenn du dich für die Liebe entscheidest, musst du vielleicht deine Aufgabe opfern … Ich wollte nur sichergehen, dass dir das ganz klar ist.«
Verdammt, Ruben, warum ist DIR immer alles so klar?!
Er nimmt einen Schluck von meinem Kaffee – und spuckt ihn in die Tasse zurück.
»Der ist kalt, Lena«, sagt er empört. »Ich dulde es nicht, dass jemand hier vor eiskaltem Kaffee sitzt.« Er nimmt mir die Tasse weg. »Du siehst ihn ja heute Abend. Falls du ihm nicht sagst, dass eure ›zufälligen‹ Parkplatztreffen nur noch auffälliger sein könnten, wenn er dabei durch eine zerschnittene Zeitung starrt. Denn ich fürchte, wenn er das wüsste, würde der korrekte Oberarzt euch wohl auch diese Geheimtreffen versagen. Und wahrscheinlich nicht zu Unrecht …«
Ich stehe auf und verlasse die Cafeteria – ein klein wenig angekratzt. Es tut nicht gut, zu hören, dass meine zarte Liebe so chancenlos sein soll.
Oben auf der Chirurgie herrscht Eile. Jemand fährt eine Trage herein, ein Mann liegt darauf, ich sehe ihn nur ganz kurz. Ein Arzt aus der Notaufnahme hastet an mir vorbei. »Mehrere Frakturen, Verletzungen im Brust- und Bauchbereich, Blutung im Bauchraum«, sagt er zu Dr. Thiersch.
»Team ist bereit«, entgegnet sie knapp, beide verschwinden im OP-Bereich.
»Not-OP«, sagt Schwester Jana, »Verkehrsunfall.« Dann eilt auch sie davon. Ich stehe wie erstarrt am Stationseingang. Meine eigenen Probleme wirken profan, so weit weg, so falsch.
Die Nachmittagsrunde ist anstrengend und ihr einziger Höhepunkt besteht darin, dass ich Frau Schneider endlich den ersehnten Kaffee bringen kann – und das nicht mal mit gutem Gefühl, weil in meinem Kopf die sonore Chefarztstimme sagt, dass ich nicht zum Kaffeebringen hier bin. Frau Schneiders Freude kann das nicht ganz aufwiegen. Außerdem bekomme ich das Unfallopfer nicht aus dem Kopf. Ich weiß, so etwas ist nichts Besonderes. Ein Drittel der Operationen sind Not-OPs. Die Chirurgen wissen, was sie tun. Trotzdem. Wie wird es sein, wenn du diejenige bist, die zu einem schwer verletzten Unfallopfer gerufen wird? Wirst du bis dahin so gelassen sein, wie es nötig ist? Im PJ wird das noch nicht vorkommen, bei Not-OPs werden wir nicht eingeteilt. Aber wenn ich mich für die Chirurgie entscheide, wird das auch mein tägliches Geschäft sein. Bis dahin muss ich die Angst aus meinem Kopf kriegen.
Kurz vor Dienstschluss besuche ich noch einmal Frau Jahn. Sie wirkt schwach und noch sehr müde.
»Sind Sie am Wochenende auch hier?«, fragt sie und ich muss verneinen. Sie deutet auf meine Kitteltasche. »Haben Sie mich verraten?« Ich schüttle den Kopf. Aber was mache ich jetzt mit ihrer Büroausstattung? Ich kann ihr doch nicht das ganze Wochenende ihr Eigentum entziehen! Schließlich öffne ich den Schrank neben der Tür und lege Telefon und Notizbuch hinein.
»Versprechen Sie mir, dass Sie es nicht benutzen?«, frage ich und sehe ihr direkt in die Augen. Sie nickt, wenn auch nicht ganz überzeugt. »Ich werde Schwester Jana sagen, dass Sie sich ausruhen müssen und gegebenenfalls noch mal ein Schlafmittel bekommen«, erkläre ich ehrlich. »Wenn Sie das Gefühl haben, dass Sie den Kopf nicht ausschalten können, bitten Sie sie darum. Aber versprechen Sie mir, dass Sie bis Montag nicht ans Geschäft denken!«
Sie lächelt leicht abfällig. »Mein Geschäft hat doch am Wochenende keine Pause!« Erst als ich sage, dass ich den Schrank auch abschließen kann und in meinem Wochenendtäschchen sehr wohl Platz für einen kleinen Schrankschlüssel ist, gibt sie nach. Ich greife nach dem Charlotte-Link-Roman oben auf ihrem Nachtkästchen und lege ihn auf die Bettdecke.
»Wenn Sie sich wirklich langweilen am Wochenende, dann lesen Sie doch endlich mal das hier!« Als ich sie verlasse, bin ich nicht ganz überzeugt, dass Frau Jahn meinen Abschalt-Anordnungen hundertprozentig gehorchen wird. Aber mehr, als Schwester Jana noch einmal darauf hinzuweisen, dass die Patientin sich schonen muss, kann ich wirklich nicht tun.
Auf dem Gang treffe ich auf Dr. Thiersch. »Wie ist es gelaufen?«, frage ich. Sie sieht mich barsch an. »Was?«
»Der Verkehrsunfall …« Wie kann sie nicht wissen, was ich meine?! Hör auf, Lena. Für sie ist so etwas vollkommen normal. Für mich nicht.
»Er liegt auf der ITS«, antwortet sie schroff. »Wird es schon schaffen.« Sie wirkt müde. Aber wie schafft sie es, so kühl zu bleiben? Ist das ihre einzige Chance? »Wenn Sie nichts mehr zu tun haben, stehen Sie nicht im Weg rum!«, fährt sie mich an und verschwindet im Büro. Ich weiß, ich bin gerade ihr Blitzableiter, sie lässt ihren Druck an mir ab. Vorhin habe ich sie noch gehasst. Doch jetzt macht es mir ein einziges Mal nichts aus, von ihr angeherrscht zu werden.
Ich beschließe, zum Feierabend noch einmal bei Ruben vorbeizugehen und mich für meinen leicht beleidigten Abgang zu entschuldigen. Es war nicht fair, ihn dafür büßen zu lassen, dass meine Liebesbeziehung irgendwie schwierig ist – und dass er nicht den sorg- und planlosen Optimismus teilt, den ich zur Liebesverteidigung bemühe.
Der Gang zur Cafeteria ist leer. Nur Tobias’ Tür steht offen. Wir stoßen beinahe zusammen, als er aus seinem Büro tritt. Er sieht mich und sein Gesicht beginnt zu leuchten. »Schön, dass du da bist«, sagt er. »Ich bin den ganzen Tag nur herumgerannt und hab schon befürchtet, dich überhaupt nicht mehr zu sehen.« Und ich vergesse, dass mich noch vor kurzer Zeit ein blauhaariger Koch fast dazu gebracht hätte, diese Heimlichkeiten trostlos zu finden.
Eine Sekunde später stehe ich in Tobias’ Büro und wir küssen uns. Alle Heimlichkeiten der Welt sind gerechtfertigt, wenn DIES auf der anderen Seite der Waagschale liegt. Ich WILL, dass es funktioniert!
»Musst du heim?«, fragt er und ich schüttle wie gebannt den Kopf. Die ganze Welt ist schlagartig vergessen. Ich muss nirgendwohin. Nur hier sein. Bei dir.
Eine halbe Stunde später sitzen wir immer noch eng zusammen. Wir trinken Kaffee, ich sitze auf der Lehne seines Sessels, er hält mich im Arm, wir reden. Ich erzähle von dem Unfallopfer und er beruhigt mich.
»Es ist alles gut gegangen«, sagt er entschieden. »Glaub mir, du wüsstest, wenn nicht.« Dann berichte ich ihm von der Chefarztbegegnung und der anschließenden Rüge. Er nickt bedächtig. »Du wirst dich überwinden müssen«, meint er schließlich, »und das Gespräch mit Dr. Thiersch suchen. Erklär ihr, dass du eine verantwortungsvolle Person bist und eine Chance verdient hast. Sie will die Alphafrau sein – na und? Was kümmert es dich.« Ich nicke. Was kümmert mich überhaupt gerade?!
Erst nach einer Stunde frage ich mich, was meine Freundinnen wohl denken. Es ist still geworden auf dem Flur; wir sitzen immer noch hier, aneinander gekuschelt. Ich habe von Isa und Jenny erzählt, von Tom und seinen Jobplänen. Dass sie mich jetzt vielleicht brauchen. Lasse ich Isa im Stich, weil ich immer noch hier sitze? Es ist inzwischen lange nach Dienstschluss und obwohl ich mich schwer trennen kann, erwähne ich irgendwann, dass ich mich allmählich auf den Heimweg machen sollte. Tobias greift nach seiner Jacke. »Ich fahr dich natürlich.« Und erst jetzt fällt mir auf, dass ich die ganze Zeit allein geredet habe. Er hat überhaupt nichts erzählt. Den ganzen Abend ging es nur um die Chirurgie, meine Freundinnen, meine eigenen Pläne und Sorgen. Gibt es im Leben eines Oberarztes denn gar nichts, was einer Mitteilung würdig ist? Oder habe ich ihn einfach nicht zu Wort kommen lassen?
Im Auto fahren wir schweigend, er lächelt ab und zu herüber; manchmal wirkt es, als sei er regelrecht verwundert darüber, dass ich hier neben ihm sitze. Erst jetzt wird mir klar, warum ich mich nicht von ihm lösen kann: Heute ist Freitag. Die ganze Zeit habe ich meine Gedanken auf das Morgen gerichtet, eine neue Begegnung, eine neue, gestohlene, gemeinsame halbe Stunde. Werden wir uns am Wochenende überhaupt sehen?
Er schaltet das Radio ein, sucht einen Sender, entscheidet sich für Pink Floyd. Die Musik trägt uns durch die Dunkelheit, verlangsamt alles ringsum. Ich wünsche mir wieder das riesige Nudelholz, das die Straßen streckt – oder dass wir einfach weiterfahren.
»Wo kämen wir hin, wenn wir jetzt immer weiter geradeaus fahren würden?«, frage ich leise.
Er lächelt. »Nach Polen. Möchtest du dahin?«
Ich überlege, muss grinsen. Ein perfektes Wochenende. »Die polnische Ostsee ist wunderschön, gerade im Herbst«, sagt er. »Wenn wir langsam fahren, könnten wir zum Sonnenaufgang ankommen.« Ich wünsche mir nichts mehr, als dass er dieser Laune einfach nachgibt. Doch im nächsten Moment biegt er in meine Straße ein. Ich bin ganz ungerecht enttäuscht.
»Warum eigentlich nicht?«, sage ich mutig. »Keiner würde merken, wo wir das Wochenende verbracht haben.«
Er sieht mich an. »Das wäre herrlich …« Los, komm schon, wir fahren einfach! Keine Konjunktive für uns!
»Aber ich habe Dienst«, setzt er hinzu.
Aha. Du verbringst das Wochenende in der Klinik – und ich? Tobias nimmt mein Gesicht in seine Hände, küsst mich zum Abschied. »Irgendwann machen wir das. Versprochen.« Wann IST irgendwann? Ich kann mich noch nicht trennen. Ich wünschte, er könnte wenigstens mit hochkommen, noch eine Weile in meiner Küche sitzen, so gut riechen, erzählen. Stattdessen steigt er nicht mal aus dem Auto aus. Klar, oben sind Isa und Jenny und ich weiß nicht, für wen es unangenehmer wäre, wenn ich daraus eine gemeinsame Tischrunde arrangieren wollte. Wird es denn nie normal sein?
»Du verstehst das, oder?«, fragt er lieb. »Wir machen mal wieder einen Ausflug.« Es ist November, Herr Oberarzt. Meinst du einen Skiausflug? Flucht nach vorn, Lena!
»Oder du zeigst mir deine Wohnung?«
Er lächelt. »Ein andermal.« Ein letzter Kuss, dann stehe ich wieder auf der Straße und sehe dem grünen Wagen nach.
Oben in der Wohnung ist der Küchentisch besetzt; Isa und Tom kochen Spaghetti und Tom plant sein neues Leben. Immer wieder sagt er Dinge wie: »Meine Küche nehme ich sicher nicht mit, der Nachmieter kann das alte Ding haben« oder »In einem Monat sind wir sicher schon Weißwurst-Experten.« Die arme Isa wird jedesmal einen Zentimeter kleiner. Merkt Tom das nicht?
Weil Jenny schon wieder unterwegs ist – diesmal mit dem schicken Björn –, bin ich die Einzige, die dem Paar beim Essen Gesellschaft leistet. Tom spricht weiter über München und grübelt, welchem Fußballverein er dann neben Hertha die Treue halten soll. Isa wird immer stiller. Tom scheint keine Sekunde drüber nachzudenken, wie seine Beziehung die sechs Bahnstunden Entfernung überstehen soll. Er hat offenbar nicht vor, sich wegen des Jobs von Isa zu trennen, spricht aber auch nicht darüber, wie das gemeinsame Leben eingerichtet werden soll, wenn sie Hunderte von Kilometern auseinanderwohnen.
»Wie denkt er sich das?«, frage ich, als Tom geht, um einem potenziellen Nachmieter seine Wohnung schmackhaft zu machen.
Isa zuckt die Schultern. »Das wird schon, sagt er immer. Ich weiß nur nicht, wie …«
Ich fordere vehement, dass Isa das Thema endlich anspricht – nur bitte nicht, solange ich danebensitze. Plötzlich sind wir beide irgendwie traurig. Wir bedauern uns gegenseitig für unsere Beziehungen mit Einschränkungen … und schaffen es, uns blitzschnell in das allertiefste Selbstmitleid hineinzusteigern.
»Eine Beziehung, in der man sich höchstens am Wochenende sieht – und das nicht mal regelmäßig – wie soll ich das aushalten?«, seufzt Isa.
»Was soll ich da sagen«, jammere ich zurück. »Ich habe eine – na ja – Affäre, bei der man sich jeden Tag sieht, ohne sich ansprechen zu dürfen, und nichts weiter hat als eine halbe Stunde im Auto!«
»Na und ich?!«, ertönt eine empörte Stimme von der Tür. Jenny. »Ich habe ZWEI Beziehungen, bei denen ich mich jeden Tag sehen lassen soll, und weiß bald nicht mehr, wo mir der Kopf steht.« Das trifft bei uns natürlich nicht auf Mitleid. Jenny isst die Spaghetti-Reste gleich aus dem Topf. »Seit ich zu Björn gesagt habe, dass ich auf meine Linie achten muss, bekomme ich bei seinen Dates kaum noch was zu essen«, klagt sie.
Isa und ich finden, dass das ein Grund ist, Björn in den Wind zu schießen. Nicht nur, weil er sie nicht richtig füttert, noch mehr, weil er glaubt, dass sie auf ihre Figur achten müsste. Aber Jenny hält nichts davon. Sie selbst hat nämlich die Diätkasteiung erfunden, weil sie am selben Abend noch mit Felix zum Essen verabredet war. Wir fragen kopfschüttelnd, warum Jenny sich dem Zwei-Freunde-Stress nicht langsam entzieht und sich von einem von beiden trennt.
»Das würde ich ja gern!«, entgegnet sie. »Sobald ich rausgefunden habe, wer der größere Gewinn ist. Aber sie ergänzen sich einfach ZU gut!« Na schön, dann kann man ihr nicht helfen. Aber Mitleid hat sie nicht verdient!
Ein Glas Sekt später hat Jenny, wie immer in Bausch und Bogen, einen ganz einfachen Vorschlag, wie WIR ALLE unsere Beziehungsunzufriedenheit loswerden könnten. »Du bekommst Björn«, nickt sie Isa zu. »Der hat Stil und Klasse und ist trotzdem nicht ZU aufregend. Und Lena kriegt Felix; der arbeitet auch im Krankenhaus, aber ohne störenden Vorgesetzten-Posten. Und ICH suche mir einfach zwei bis drei neue Freunde.«
Bis nach Mitternacht bleiben wir in unserer gemütlichen Küche sitzen und albern herum, was das Zeug hält. Was für ein gutes Gefühl! Auch wenn um uns herum gerade alles anders und neu und seltsam ist: Wir haben uns überhaupt nicht verändert.