Zu Hause ist es einfach wunderbar. In Lübeck hat sich nichts verändert. Hier ändert sich nie etwas, früher fand ich das manchmal grässlich, heute macht es mich glücklich. Meine Eltern holen mich vom Bahnhof ab, fahren mich durch die Stadt und ich bin augenblicklich wieder das kleine Mädchen. Na klar wollen alle alles wissen, meine Eltern, meine Freundinnen, die Nachbarn, von Berlin, der Arbeit, der Liebe. Ich erzähle den ganzen Tag – überall, wo ich hinkomme, immer wieder von vorn. Nur von der Liebe nicht.
»Aber etwas fürs Herz muss doch auch dabei sein«, sagt meine Mutter beim Weihnachtsessen. Ach, Mama, wenn du wüsstest! Laut frage ich nur, ob ich noch mal von der Nierenstein-OP erzählen soll, auf die ich so stolz bin. »Gern, Schatz«, sagt Mama, »aber NACH dem Essen.«
Die Feiertage sind herrlich, ich schlafe so lange, als könnte ich alle zu kurzen Nächte der letzten Monate nachholen. Ich rufe Tobias an und bedanke mich. Das Gespräch dauert fast eine halbe Stunde, aber die meiste Zeit rede ich. Er erzählt nicht viel, nur dass es wieder schneit in Berlin und dass er Nachtdienst hat. Tobias ist kein guter Telefonierer. Doch seine Stimme macht mich glücklich.
Erst am zweiten Feiertag fällt mir ein, dass ich im allgemeinen Trubel die Päckchen von meinen Freundinnen ganz vergessen habe. Isas Geschenk ist eine Karte mit einem Storch. Eine sichere Geburt, steht da. Ich kriege einen Riesenschreck. Isa ist schwanger, um Himmels willen, warum habe ich das nicht gemerkt? Quatsch, dann müsste ich doch IHR … Denkt sie, ICH bin? Bin ich doch wohl nicht! Bevor das Gedankenkarussell überschnappt, drehe ich die Karte um. Okay, alles in Ordnung. Die sichere Geburt ist für eine Frau in einem medizinisch unterversorgten Land, eine Spende, mit der die Betreuung einer Schwangeren finanziert wird. Ein schönes, durchdachtes Isa-Geschenk. Ich muss nur kurz durchatmen und den Schreck verdauen.
Im selben Moment klingelt das Telefon. Isa. Ich setze an, die Gedankenübertragung und ihr Geschenk zu loben, doch sie unterbricht mich. »In meinem Jenny-Paket war eine Handtasche«, japst sie, völlig außer sich. »Was soll ich denn jetzt machen?! Sie schenkt mir eine sündhaft teure Handtasche! Ich habe ihr nur ein Buch gekauft. Ist das ein Versehen? Sag mir, dass Jenny sich beim Einpacken vertan hat! Was hat sie dir geschenkt?« Ich versuche gleichzeitig, die Information zu verdauen, Isa zu beruhigen und Jennys Paket aufzureißen. Und dann erstarre ich und schnappe nach Luft. Schuhe. Hauchdünne Sandalen. Traumhaft schön. Viel zu teuer. Völlig drüber. In dem Päckchen, das ich für sie zu Hause versteckt habe, ist ein glitzer-lila Lippenstift. »Was machen wir jetzt?«, fragt Isa verzagt.
Ich verabschiede sie und rufe in Berlin an. Bei Jenny läuft laute Musik, sie schnattert sofort drauflos, bedankt sich für den Lippenstift und will meine Bedenken wegen der Schuhe nicht hören. »Lasst mich doch!«, sagt sie gelassen. »Ihr seid ja die Einzigen, an denen mein Herz hängt!« Als ich auflege, fühle ich mich komisch. Einerseits gerührt. Andererseits kommt es mir ganz falsch vor. War uns klar, dass wir der coolen Jenny so viel bedeuten?
Die Ferien sind viel zu kurz; kaum hat man sich daran gewöhnt, sind sie vorbei. Mama und Papa bringen mich zum Bahnhof und doppelt so schwer beladen wie auf der Hinreise trudele ich wieder in Berlin ein. Die Weihnachtsmärkte sind verschwunden, der Himmel hängt schwer und bleigrau ganz dicht über den Dächern.
Das Nachtrauern über die viel zu schnell vergangenen Feiertage ist schlagartig vergessen, als ich unsere Wohnung betrete. Isa ist schon wieder da, hat ebenfalls Unmengen Essbares von zu Hause mitgebracht und deckt auf dem Küchentisch gerade eine Tafel, für die sich kein Grandhotel schämen müsste. Ich werfe meine Taschen von mir, stapele Mamas Bratenreste und Überlebenskuchen dazu – und kurz darauf sitzen wir wieder alle drei in unserer Küche und plappern durcheinander.
Tom hat Isa zu Silvester in Tübingen besucht und sich ausgezeichnet mit ihren Eltern verstanden. Und er hat ihr einen Pullover geschenkt. Jenny und ich müssen uns eine Menge Mühe geben, um das Geschenk angemessen zu würdigen, denn der Pulli ist absolut Oma, aber Isa findet ihn wundervoll. An der Jobfront hat sich noch nichts ergeben, aber sie ist zuversichtlich. Neues Jahr, neues Glück. Danach bin ich an der Reihe, meine Ferien zu schildern, auch das dauert eine Weile – und erst dann fällt uns auf, dass Jenny noch gar nichts erzählt hat. Und warum ist die schrille Weihnachtsdeko eigentlich schon abgebaut? Hätte es nicht eher zu Jenny gepasst, sie bis in den Februar hängen zu lassen? Stimmt irgendwas nicht?
Ich leite von meinem Bericht über die missglückten Basteleien meines Vaters zu der Frage über, was Jennys Eltern ihr geschenkt haben. »Ach«, sagt Jenny, »ich krieg doch dauernd Geschenke.« Absolut keine normale Antwort. »Zeig!«, sage ich. Jenny steht auf, sehr langsam. Sie verschwindet in ihrem Zimmer, Isa und ich wechseln einen irritierten Blick. Wir stehen auf und gehen Jenny nach, beide mit einem seltsamen Gefühl.
Jenny steht vor ihrem Bett und packt einen Karton aus. »T-Shirts«, sagt sie, »und Kleider.« Sie nimmt Klamotten aus dem Karton und legt sie aufs Bett. »Ach, und eine Uhr …« Sie öffnet das Kistchen, legt die schmale, goldene Uhr an. Warum habe ich das Gefühl, dass sie die Sachen gerade zum ersten Mal auspackt? Und dann sehe ich es: Das ist kein Weihnachtsgeschenk-Karton. Sondern ein Postpaket. »Jenny«, frage ich leise, »was hast du zu Weihnachten gemacht?«
Jenny zuckt die Achseln. »Ferngesehen.« Mir schnürt sich die Kehle zu. »Du warst ganz allein?«, fragt Isa erschüttert.
»Bei uns ist das nicht so«, sagt Jenny und kippt das Weihnachtspaket aus. Ich könnte ihre Eltern umbringen.
»Schon gut«, wiegelt Jenny ab, als Isa sie umarmen will. »Ich war am 23. mit meinen Eltern essen.«
»Das ist nicht dasselbe«, sagt Isa leise.
»Was glaubt ihr denn«, fragt Jenny und tätschelt den Weihnachtselch, der mittlerweile neben ihrem Bett steht, »warum ich den ganzen Advent wie bescheuert vorgefeiert habe?!«
Ich fühle mich schrecklich. Man hätte Jenny einladen können. Oder am Weihnachtsabend wenigstens anrufen …
»Guckt mich nicht so an!«, sagt Jenny. »Zankt euch lieber, wer dieses entzückende Wollkleid bekommt!«
Als Jenny das letzte Mal die Klamottengeschenke ihrer Mutter an uns verteilt hat, waren wir Feuer und Flamme. Heute bringen wir das nicht fertig, auch wenn es Jenny vielleicht guttun würde. Ich kann nichts von den Sachen anrühren. Weil Jenny mir aber so vehement eine Kaschmir-Stola hinhält, nehme ich sie schließlich und ziehe sie dem Weihnachtselch über. Und das löst endlich die schreckliche Spannung. Isa und ich helfen dem Elch in alle Klamotten, die nur irgendwie überziehbar sind, bis er aussieht wie gemästet. Jenny sitzt auf dem Bett, futtert den Weihnachtsbraten meiner Mama auf, raucht dazu und sieht zufrieden unserer Elch-Anzugsorgie zu. Ihre Eltern sind am Weihnachtsmorgen in die Alpen gefahren. Spa und Ski, wie jedes Jahr. Jenny war noch nie mit. »Mir fehlt nichts, ehrlich«, sagt Jenny. »Zu Hause ist es doch am schönsten.«