Ist es normal, sich so auf die Arbeit zu freuen? Jenny findet das idiotisch, sie ist heute in miserabler Laune und lässt sich beinahe zur S-Bahn schieben. Ich aber kann es kaum erwarten, zurück in die Klinik zu kommen. Die Patienten, die Ärzte, Ruben, Tobias. Tobias.
Vorerst ist an Privatinteressen nicht zu denken. Die Station ist voll. Feiertagsunfälle. Sportverletzungen. Die Liste der OPs scheint endlos, Dr. Gode teilt uns die Assistenzen zu und findet kaum Zeit, uns wieder willkommen zu heißen, Dr. Thiersch ist im Vollstress und stöckelt über den Flur, ohne nach rechts und links zu sehen.
»Tut mir leid«, sagt Dr. Gode am Ende der Besprechung. »Ich habe sie Ihnen wieder zugeteilt …« Ich weiß gar nicht, was er meint. Er drückt mir die Akte in die Hand. Frau Jahn.
Sie sitzt in ihrem Zimmer auf dem Bett, heute Morgen aufgenommen. Sieht mich an, zuckt mit den Schultern. »Und es hat nicht mal was genutzt«, sagt sie leise.
Frau Jahn hat sich nicht geschont. Alle meine Warnungen waren umsonst. Sie hat die Rehamaßnahmen nicht abgeschlossen, sich nicht einen Tag ausgeruht. Bei dem vergeblichen Rettungsversuch für ihre Firma hat sie sich und ihren Körper viel zu schnell viel zu stark belastet. Das MRT ist eindeutig. Die Fixierungsnähte des Meniskus sind gerissen. Es kann sein, dass ein großer Teil entfernt werden muss.
»Ich musste mich entscheiden«, sagt Frau Jahn. »Ich habe alles versucht.« Ich kann nicht antworten, mir fällt absolut nichts ein, was sie trösten könnte.
Erst eine Stunde wieder an der Arbeit und ich fühle mich bleischwer. Ich fahre mit Frau Jahns Proben ins Labor – und stolpere in das nächste Drama. Felix sieht mich heute kaum an, reagiert nicht auf meinen Gruß, so abweisend habe ich ihn noch nie erlebt. Ich bin zu angeschlagen, um fröhlich darüber hinwegzugehen, vielleicht lasse ich auch meinen Frust über Frau Jahns Schicksalsschlag an ihm aus – jedenfalls stelle ich ihn zur Rede, harscher, als er es von mir kennt. »Nicht hier«, sagt er und zieht mich vor die Labortür.
Draußen zündet er sich eine Zigarette an und mustert mich abschätzig. »Sag nicht, du weißt von nichts!«, schnaubt er. Ich WEISS nichts! Felix lacht zynisch. »Willst du mir echt erzählen, dass ihr nicht alle Bescheid wusstet? Ich wette, ihr habt großartigen Spaß gehabt. Der Idiot vom Dienst! Kommt immer wieder brav angefahren und lässt sich jeden zweiten Tag erzählen, dass sie arbeitet!« Alles klar. Er weiß es.
Ich sage nichts, er würde mir sowieso nicht glauben. Doch einmal in Fahrt, redet Felix sich den ganzen Frust von der Seele, es ist, als ob er stellvertretend mich zur Rechenschaft zieht. »Warum ist sie denn dann so bescheuert, mich einzuladen?«, tobt er. »Hat sie es nicht mehr koordiniert gekriegt? Oder war es ihr scheißegal?«
Ich kann mir allmählich zusammenreimen, dass Jenny Felix zu Weihnachten zu sich eingeladen hat, er aber, als er ankam, seinem Rivalen über den Weg gelaufen ist. Ich verstehe nicht, wie Jenny so leichtsinnig sein konnte. Nein, ich habe auch kein Verständnis für ihre zweigleisige Affäre. Aber bisher schien sie immerhin gut organisiert. WOLLTE sie, dass die Sache auffliegt? »Das ist die Hölle«, sagt Felix und schleudert seine Zigarettenkippe ins Treppenhaus. »Da verliebt man sich einmal. Denkt, man hat die perfekte Frau gefunden. Und wird so brutal verarscht.«
Nun ist immerhin klar, warum Jenny sich heute geradezu gesträubt hat, zur Arbeit zu gehen. Ich finde sie kurz vor der Mittagspause, sie sitzt im Treppenhaus.
»Was machst du hier?«, frage ich.
Jenny zuckt die Achseln. »Ich warte, dass der Tag vergeht. Und dasselbe tue ich dann morgen und übermorgen, bis ich diese verdammte Klinik verlassen kann.«
»Wie konnte das passieren?«, frage ich und höre mich schon wieder an, als wäre die Doppelaffären-Praxis an sich kein so großes Problem wie ihr Auffliegen.
Jenny seufzt abgrundtief. »Ich weiß nicht. Es war Weihnachten …«
»Na, Felix bist du jedenfalls los«, sage ich leise. »Und weiß Björn auch Bescheid?«
»Wen interessiert denn Björn«, antwortet Jenny. Und da wird es mir klar. Jenny ist verliebt. In Felix. Nur in Felix. Den sie enttäuscht und verraten hat und der sie nie wieder sehen will …
Jenny schaut mich traurig an. »Ich weiß, ich denke dauernd, ich bin verliebt. Besonders, wenn ich jemanden nicht haben kann. Aber diesmal ist es was anderes, glaub mir.« Ja, ich glaube ihr. Wer kann sie dort sitzen sehen und ihr nicht glauben, dass sie zum ersten Mal im Leben verliebt ist?! Und dass es eine Katastrophe ist?
»Fängst du das neue Jahr schon wieder so an?«, fragt Ruben strafend – dabei sind von der Mittagspause noch zehn Minuten übrig, als ich hinuntergestürmt komme.
»Bitte, Ruben«, flehe ich ihn an, »ich brauche Unterstützung und was gegen Liebeskummer.«
»Und du willst dringend von Weihnachten im Zirkus hören, oder?«, lacht er. Ja, das würde ich gern. Nichts lieber als das. Aber oben sitzt meine schwer-herzverletzte, erstmalig-liebeskranke Freundin Jenny, ich muss in zehn Minuten wieder auf der Station sein und Tobias habe ich auch noch nicht gesehen. Ruben seufzt. »Weißt du, was man beim Zirkus sagen würde? Wer viele Kamele dressieren muss, sollte seinen Hund nicht hungern lassen.« Ich glaube nicht, dass diese Weisheit schon jemals in irgendeinem Zirkus zu hören war, aber was er meint, ist deutlich.
»Du kriegst einen riesigen Knochen«, versichere ich ihm eilig.
»Keine leeren Versprechen«, lacht er und stellt mir endlich doch ein Tablett für Jenny zusammen. Himbeer-Tee, eingelegte Tomaten und Ingwerkekse. »Sieh zu, dass sie das zusammen isst«, sagt er ernsthaft. »Am besten, sie legt die Tomaten AUF die Kekse.« Dass ich das nun wirklich für Schikane halte, erwähne ich nicht, um ihn nicht noch mal zu kränken. Dass Jenny bis auf einen Keks alles verächtlich stehen lässt, war irgendwie auch klar, werde ich Ruben aber ebenfalls nicht erzählen.
Ich sehe Tobias tatsächlich erst am Abend. Doch sobald ich ihm gegenüberstehe, ist alles wieder da. Das warme Gefühl, das Herzklopfen, die unnormale Aufregung. »Du hast mir gefehlt«, sage ich, einfach so. Und er hält mich fest und sagt: »Ich konnte nicht eine Nacht schlafen ohne dich.«
Ich bin glücklich. Mein Alltagsleben ist ganz weit weg. Darf man das – einfach alles ausblenden? Das Drama zwischen Jenny und Felix … Frau Jahn, die vielleicht nie wieder ganz gesund wird … Ich müsste bedrückt sein, mitfühlend. Und bin nur idiotisch glücklich, als Tobias und ich gemeinsam aus der Klinik schleichen. Wir müssen kichern wie die Teenager, weil direkt hinter uns der Chefarzt aus der Klinik stiefelt, gerade als wir die Autotüren geschlossen haben. Wir fahren durch die Stadt, Tobias schaltet das Radio ein. Pink Floyd. Ich muss an eine weit zurückliegende Autofahrt denken. An: »Wenn wir die Nacht durchfahren, sind wir zum Sonnenaufgang in Polen.« Jetzt ist es mir ganz egal, wo wir hinfahren. Wir sind zusammen, endlich ist alles klar und einfach. Wie schön, dass sie ausgerechnet jetzt noch einmal dieses Lied spielen. Unser Lied. Aber es ist kein Zufall. Tobias lächelt. »Ich hab mir die CD gekauft.«
Wir kochen und ich weiß, wo in seiner aufgeräumten Küche die Messer und die Gewürze zu finden sind. Er sagt: »Ich schätze, du willst am Feuer essen«, zündet den Kamin an und ich ziehe Tischdecke und Kerzen vom Tisch auf den Fußboden und fühle mich kein bisschen unsicher. Wir picknicken auf dem Boden vor dem Kamin, draußen wird es dunkel. Mein perfekter Abend.
Natürlich kommt die Ernsthaftigkeit doch noch. Ich kann weder Jenny noch Frau Jahn lange aus meinem Kopf aussperren. Tobias hält mich fest, hört mir zu. Er mutmaßt, dass Frau Jahn ein Implantat bekommen wird. Und versteht, wie ich mich fühle. »Du hast getan, was du konntest«, sagt er leise. »Wenn du deine Patienten entlassen hast, kannst du sie nicht mehr schützen. Nur hoffen, dass du das Beste für sie tun konntest. Und dass SIE jetzt tun, was du ihnen geraten hast … Es ist schlimm genug, dass man manchmal nicht mehr helfen kann. Aber das wirklich Unerträgliche ist, dass, selbst wenn man alles richtig gemacht hat, manche Patienten nach Hause gehen und sich umbringen.« Er schweigt einen Moment, dann sieht er weg, hinaus ins Dunkle. »Ich habe eine Patientin verloren, weil ich ihr nicht deutlich genug klargemacht habe, was passiert, wenn sie nicht auf mich hört. Noch jünger als du, ein richtiges Mädchen. Drogensüchtig. Ich habe sie in eine Therapie weitergeschickt. Nach einer Woche ist sie da abgehauen. Ich habe es aus der Zeitung erfahren. Und konnte fast einen Monat keinen meiner Patienten als Menschen betrachten.«
Wir sind still. Wie soll ich ihn trösten?
»Ich wünsche mir so, dass dir solche Erfahrungen erspart bleiben …«, sagt er.
Wir halten uns fest. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, seine Einsamkeit durchdringen zu können.
Irgendwann steht er auf, zieht mich hoch. »Du musst zu Jenny fahren«, sagt er.
Es tut mir leid, ihn jetzt verlassen zu müssen. Aber er hat recht. Seit zwei Stunden schon fühle ich mich zerrissen. »Wir sehen uns morgen«, flüstert er.
Vor meinem Haus ziehe ich seine CD aus dem Autoradio, um mich wenigstens bei ihm zu fühlen. »Soll ich mitkommen?«, fragt er. Zum ersten Mal. Doch ich weiß, dass er es für mich sagt. »Danke«, entgegne ich. »Aber das wäre vielleicht ein bisschen viel für sie. Wir sehen uns morgen.«
»Ich kann es kaum erwarten«, lächelt er.
Isa ist zu Hause, sitzt an Jennys Bett. Sie hat ihr all unsere Kopfkissen gebracht, Jenny thront auf einem Kissenberg und raucht im Bett – und dass Isa nicht einmal dagegen etwas sagt, zeigt mir, wie schlecht es um Jenny steht.
Ich lotse Isa in den Flur und entschuldige mich, dass ich so lange aus war. »Du kannst zu Tom fahren, ich kümmere mich jetzt um sie«, flüstere ich. Als hätten wir eine Kranke zu versorgen. Doch Isa schüttelt den Kopf. »Ich bleibe hier«, sagt sie entschieden, mehr nicht. Früher wollte sie jede freie Minute bei ihm sein. Ist das jetzt Treue-Freundinnen-Loyalität – oder stimmt zwischen Tom und Isa auch gerade irgendwas nicht?
Im Moment aber braucht Jenny unsere ganze Aufmerksamkeit. Sie spricht nicht, raucht kraftlos, kommuniziert nur durch Gesten, müdes Kopfschütteln. Sie zeigt matt auf die Heizung, die aufgedreht, die Vorhänge, die zugezogen werden sollen, und auf die CD in meiner Hand. Ich lege das Lied ein. Und wir sitzen schweigend und hören uns den Pink-Floyd-Song immer wieder von vorn an.
Jetzt ist es nicht mehr mein Lied, meine Tobias-Erinnerung. Es wird für alle Zeiten mit Jennys sprachloser Traurigkeit in einem zu warmen, verrauchten Zimmer verbunden sein. Aber wenn dies das Einzige ist, was ich ihr jetzt geben kann, tut es mir nicht leid. Tobias und ich werden ein neues Lied finden.
Am nächsten Morgen fällt es uns schwer, Jenny zur Arbeit fertig zu machen. Wie eine Kranke lässt sie es geschehen, dass wir ihr eine Kaffeetasse in die Hand drücken, die Jacke überziehen. Immer noch sagt sie nichts. Eine ganz andere Jenny, erwachsen, allein.
Isa macht sich Sorgen. Und ich fühle mich irgendwie gemein. Denn als wir uns dem Krankenhaus nähern, werden meine Schritte immer schneller. Ich kann es nicht erwarten, wieder bei Tobias zu sein. Schon der Vormittag, den ich überstehen muss, eh ich zu ihm darf, scheint mir endlos. Aber jetzt haben die Patienten Vorrang.
Frau Jahns Blutwerte sind in Ordnung, das EKG ebenfalls, sie wird morgen operiert. Das Vorgespräch, das Dr. Gode und ich mit ihr führen, ist kurz. Der Meniskus wird zu fast 80 Prozent entfernt werden müssen, Frau Jahn bekommt ein Implantat. Sie wirkt abgeklärt, fast desinteressiert. »Tanzen werde ich also nicht mehr«, sagt sie leise, als wir das Zimmer verlassen. Und wie zum Hohn hängt Schwester Jana, gerade als wir auf den Flur treten, ein Plakat am Schwarzen Brett auf: »16. St.-Anna-Ärzteball«.
In der Mittagspause haste ich nach unten. Endlich. Herzklopfen auf dem Flur. Ich komme ungesehen bis zu seinem Büro. Ich könnte überschnappen vor Glück. Gleich! Meine Hand greift nach der Türklinke. Und erstarrt. Drinnen spricht eine Bassstimme.
Oh Mann, Lena, um Himmels willen! Ich kann gerade noch zurückzucken. Beinahe wäre ich in sein Büro gestürmt – und drinnen sitzt der Chef!
Ich stehe auf dem Flur wie auf einem Minenfeld, von beiden Seiten kommen schwatzende Schwestern; die einen schlendern zum Essen, die anderen eilen zu ihren Stationen zurück, ich stehe viel zu nah und wie erstarrt vor einer Tür, vor der ich nichts zu suchen habe. Hastig und mit zitternden Knien verschwinde ich im Damenwaschraum.
Nicht auszudenken, wenn ich in die Chefbesprechung geplatzt wäre. Gerade ich, die NIE eine passende Ausrede parat hat, wenn eine gebraucht wird. Ich hätte so krebsrot und verdattert in der Tür gestanden, dass ich auch ein Transparent vor mir hätte hertragen können. (»Raten Sie mal, wer eine heimliche Beziehung mit dem Oberarzt führt«. Mit einem riesigen Pfeil auf die Trägerin.)
Seit zwischen Tobias und mir alles so klar scheint, seit ich das Gefühl habe, endlich an seiner Seite angekommen zu sein, habe ich keinen Gedanken mehr an das eigentliche Problem unserer Beziehung verschwendet. Ich bin auf sein Büro zugestürmt wie die sprichwörtliche Elefantenherde. Eine chefärztliche Sprechpause und ich hätte ahnungslos und liebesverrückt die Tür aufgerissen. Ich habe gerade noch mal Glück gehabt. Und brauche zehn Minuten, bis meine Knie wieder mitspielen.
Als ich auf die Chirurgie zurückkomme, hat der kleine Teufel in mir schon wieder die Oberhand. »Ist doch alles gut gegangen«, flüstert er und bringt mich dazu, einen Moment vor der Ankündigung des Ärzteballs stehen zu bleiben. Da gehen sicher alle hin. Und vielleicht … Ich habe noch nie mit Tobias getanzt. Ich könnte mir vorstellen, dass er von solchen Veranstaltungen nicht viel hält. »Aber was für ein Spaß wäre das?!«, raunt der Kopfteufel. »Zwischen all den Leuten, die nichts von euch ahnen …« Und weil ich ja heute offenbar das Glück gepachtet habe, beschließe ich, bei Tobias heute Abend ein bisschen zu betteln.
Den Nachmittag über versuche ich, mein mittägliches Glück zurückzuzahlen. Ich habe ein Auge auf Jenny, die teilnahmslos über die Station schleicht, und korrigiere unauffällig die Aufgaben, die sie nur halbherzig erledigt hat. Sie merkt es nicht, das ist gut so. Doch nicht allen entgeht, dass Jenny momentan nicht richtig funktioniert. Dr. Gode erwischt mich ausgerechnet, als ich Jennys Bericht überarbeite.
»Was ist passiert?«, fragt er. »Ihre Freundin ist heute noch niemandem auf den Schlips getreten und hat nicht einmal gelacht.«
Er sieht mich an, mitfühlend. Wirkt nett, offen, vertrauenswürdig. Doch ich weiß, was Jenny von der Einweihung Vorgesetzter in private Schwierigkeiten hält: Gar nichts! (Aber wenn ich jetzt »gefeiert« sage, weckt das vielleicht unangenehme Erinnerungen an eine gewisse Diskussion über Charakterfestigkeit. Und »krank« ist auch schlecht, immerhin arbeitet sie, das wäre ja vollends verantwortungslos.) »Schlechter Tag«, sage ich also nur knapp.
»Geben Sie mir Bescheid, wenn ich irgendwas tun kann«, lächelt Dr. Gode. Schade. Aber Jennys Liebeskummer könnte wohl nicht mal der Stations-Sonnyboy lindern.
Am Abend lasse ich Jenny in Isas Obhut nach Hause gehen und verspreche, bald nachzukommen, damit sie wenigstens heute noch zu Tom kann. Ich habe es wirklich fast unhörbar geflüstert. Aber Jenny macht zum ersten Mal seit 24 Stunden den Mund auf und sagt: »Geht zu euren Männern, ihr Grazien. Ich will sowieso keinen sehen. Wer vor zwölf nach Hause kommt, wird von mir wieder rausgeworfen.«
Ich umarme sie, sie lässt es geschehen. Und ich verspreche, es auf den Rausschmiss ankommen zu lassen und trotzdem um zehn daheim zu sein.
Den ganzen Weg in den unteren Flur plappert meine innere Stimme wie aufgezogen. Ich kann es kaum erwarten, Tobias von meinem Beinahe-Ausrutscher in der Mittagspause zu erzählen und die Innenstimme hat bereits alles in eine lustige, hochdramatische Geschichte formuliert, mit der ich uns gleich beide herrlich amüsieren werde. Das Geheimnis war noch nie so aufregend.
Ich klopfe, er öffnet, ich muss jetzt schon grinsen.
Ich will ihn umarmen, doch er tritt beiseite, wartet, bis ich in seinem Büro bin und schließt die Tür. Ja, natürlich. Uns könnte ja jemand sehen. (Hallo?! Es ist EINE MINUTE her, dass diese Gefahr der Höhepunkt einer lustigen Geschichte war!)
»Setz dich«, sagt er. Ich will mich nicht hinsetzen, ich will dich umarmen, merken, dass du mich vermisst hast, der Tag war so unerträglich lang ohne dich!
»Setz dich«, wiederholt er.
Ich lasse mich auf einer Sesselkante nieder. Der Raum wird kleiner, immer enger, die Wände kommen auf mich zu. Irgendwas stimmt nicht.
Er setzt sich mir gegenüber und hält den kleinen Tisch mit beiden Händen fest, als würde das blöde Möbel sonst davonfliegen. Oder im Boden versinken. So wie ich.
Alles, was dann kommt, rauscht an mir vorbei. Seine Worte verfliegen im Raum, hallen von den Wänden wider und stürzen sich auf mich. Ich weiß schon am Ende jedes Satzes nicht mehr, was er gerade gesagt hat. Dass es nicht geht. Dass es ihm nicht leichtfällt. Aber dass es nicht geht.
Ich bekomme keine Luft. Was tut er? Wieso?
»Es ist unverantwortlich«, sagt er. »Wir hätten es längst beenden sollen.«
Ich verstehe überhaupt nicht, was hier passiert.
Aber unser Geheimnis … Wir haben uns doch gerade erst gefunden … Niemand weiß es …
»Arzt zu sein ist eine Berufung«, sagt er. »Du darfst das nicht gefährden. Für nichts.«
Jemand in mir denkt plötzlich, dass es das wert ist. Dass ich es verkraften kann, keine Ärztin zu sein. Bin das noch ich?
»Ich würde es mir nie verzeihen, dir im Weg gestanden zu haben«, sagt er. Mir? Er will sich trennen, damit ICH Ärztin werden kann? Ich bin keine Ärztin, Tobias, ich bin gerade gar nichts mehr.
Er schüttelt den Kopf. »Es war verantwortungslos von mir. Die ganze Zeit das Gefühl, dass es schrecklich falsch ist. Ich muss jetzt endlich das Richtige tun. Eine klare Entscheidung.«
Irgendwann stehe ich einfach auf und gehe und ich glaube, er war mitten im Satz.
Sein Geschenk, die Zeilen in meinem Buch, unser letzter schöner Tag. Das alles war kein Neuanfang. Nur ein Ende.
Ich fahre nach Hause. Ich möchte nie wieder zur Arbeit gehen.