Schöne Beine.« Der Satz spukt mir seit Stunden im Kopf herum. »Schöne Beine« – ist das die Begrüßung, die man sich von einem Oberarzt erhofft? Am ersten Tag in einem neuen Job, an dem die Kehle ohnehin lebensbedrohlich zugeschnürt ist von banger Erwartung?!
Bis zu diesem Moment war alles nach Plan gelaufen – relativ. Wir drei Mädchen, angehende Medizinerinnen und seit gestern Wohngemeinschaftspartner, hatten abends enthusiastisch die Gläser auf die Zukunft der Ärztezunft erhoben und tapfer unser Fracksausen vor dem neuen Job mit Prosecco heruntergestürzt. Und heute Morgen standen wir bleich, aber entschlossen vor unserer neuen Wirkungsstätte – sprachlos vor Ehrfurcht und Respekt vor der eigenen Courage. Eine klapperdürre Oberschwester und eine blond gelockte Ärztin gaben unser Empfangskomitee – und ehe wir es uns versahen, waren wir eingewiesen, aufgeteilt und mit neuen Ausweisen und einer ersten Testaufgabe versehen. Was immer in dieser halben Stunde gesagt, gezeigt und angeordnet wurde … ich habe keine Ahnung. Mein Kopf war noch mit grundlegenderen Dingen beschäftigt als der Frage, wo die Kanülen liegen. Ich wurde überspült von einer Panikwelle. Werden sie mich akzeptieren – die Patienten, das Pflegepersonal, die Ärzte? Bin ich wirklich so gut vorbereitet, wie meine Noten es vortäuschen? Wann werde ich meinen ersten Fehler machen und wie schlimm wird er sein? Dass Ärzte Fehler machen, wurde an der Uni so oft betont, dass man fast ein eigenes Seminar daraus hätte machen können. Es wird passieren. Aber bitte, bitte: Nicht am ersten Tag! Warum wirken meine Leidensgenossinnen Isa und Jenny so gelassen?! Haben die gar keine Angst? Und ganz plötzlich war die Einführung vorbei und ich auf dem Weg zur ersten Aufgabe. Allein.
Und dann das. Im Aufzug hatte die optimistische Lena in mir gerade die Oberhand gewonnen. Meine Motivation kam (nicht ganz anständig) von einer kleinen Schwesternschülerin, die in der Halle von einem Versagensangst-Heulkrampf übermannt wurde. So bist du immerhin nicht, Lena, dachte ich charakterlos und fasste umgehend wieder Mut. Voll neuer Tatkraft betrat ich den Aufzug und überprüfte zum vierzehnten Mal mein Equipment: Ausweis, Block, Stift … Stift? Heute Morgen hatte ich doch extra den Examens-Glückskuli eingepackt. Hatte mein treuloser Kumpan mich schon vor der ersten Notiz verlassen, um mein sofortiges Versagen zu prophezeien? Unfassbar, wie abhängig-abergläubisch ich bin. Glückskuli – gute, wichtige Notizen. Kein Glückskuli – schlechter Tag, an dem ich eine ärztehassende selbstgefällige Stationsschwester um die Grundausstattung an Schreibmaterial bitten muss. Kein normaler Mensch kann die Erleichterung nachvollziehen, die ich verspürte, als ich meinen Glücksbringer-Stift auf dem Aufzugboden erspähte. Jeder, der meine Begabung für peinliche Situationen kennt, kann sich dagegen sofort denken, dass sich genau in dem Moment, in dem ich mich nach dem Stift bücke, hinter mir die Aufzugtür öffnet. Jemand sagt »schöne Beine«.
Ich fuhr herum – und musterte mit hochrotem Kopf den Mann, der hinter mir den Aufzug betreten hatte. Groß, attraktiv, strahlende Augen, ein zauberhaftes Lächeln. Und dann: »Dr. Tobias Thalheim, Oberarzt«. Das Schild an seinem Kittel erwürgte alle Wohlgedanken und Romantikfantasien, die beim Anblick des attraktiven Mitfahrers in mir aufgeblitzt waren. (Wie haben Sie sich kennengelernt? Oh, in einem Aufzug.) Stattdessen fieses Schamgefühl angesichts eines neuen Moments höchster Peinlichkeit. Und das Einzige, was ich dumme Nuss herausgebracht habe, war »Danke schön«. Das war also die erste Begegnung der angehenden Assistenzärztin mit dem gefürchteten Oberarzt. Beim nächsten Halt stürzte ich aus dem Aufzug, noch bevor sich die Türen richtig geöffnet hatten.
»Schöne Beine« tönt es seitdem in meinem Kopf. Anfangs klang die Bemerkung noch wie: »Sie sind die Sonne meines Tages – was immer Sie hier falsch machen werden, werde ich wohlwollend übersehen, denn Sie sind die Angelina Jolie meines Krankenhauses, auf deren Erscheinen ich jahrelang gewartet habe.« Inzwischen hat sich der Satz in meinem Kopf verwandelt. Jetzt bedeutet er: »Na WENIGSTENS haben Sie schöne Beine, wahrscheinlich haben Sie sonst gar nichts zu bieten, mittelmäßiges Examen, langweiliges Gesicht …« Mann, wenn ich doch wenigstens mit Isa oder Jenny sprechen könnte – ich brauche nur eine winzige Rückversicherung, dass ich spinne und vollkommen übertreibe. Aber die beiden lassen sich nicht blicken. DIE sind wahrscheinlich schon mit vollem Ehrgeiz und gänzlich unabgelenkt in die Arbeit eingestiegen und der Approbation durch bloße Geistesanwesenheit einen Riesenschritt näher gekommen. Und ich lasse mich von so einer blöden Bemerkung fertigmachen … Ging ich vor zwei Stunden noch hoch erhobenen Hauptes über die Flure meines neuen Reviers, so ist daraus jetzt ein Schleichen geworden; vom Grübeln niedergedrückt, versuche ich mich unsichtbar zu machen. Nicht die beste Voraussetzung für einen ersten Kliniktag. Mein Kopf sollte randvoll angefüllt sein mit den neuen Namen, den zu verinnerlichenden Arbeitsabläufen, den ersten Patientendaten. Stattdessen wiederholt eine warme Männerstimme in meinem Kopf immer wieder diese anzügliche Bemerkung. War es eine subtile Anspielung darauf, dass mein Kittel doch zu kurz ist? Niemand macht sich eine Vorstellung, wie schwierig die Entscheidung der Kittelgröße tatsächlich ist. Zu lang und man wirkt wie eine Litfaßsäule, denn die platten Gummischuhe verwandeln jede noch so schlanke Wade in unattraktive Elefantenstampfer. Zu kurz und man erweckt den Eindruck, man hätte lieber Krankenschwester werden wollen – in einer pornoverdorbenen Unterhemdträger-Fantasie.
Schluss jetzt, Lena! Ab sofort konzentrierst du dich ausschließlich und vorbildlich auf die neue Arbeit! Wie hieß jetzt der Patient, dem du eine Infusion legen sollst? Ritter, Manuel Ritter, na es geht doch. Und Infusionen kannst du geben, seit du deine Barbies mit der Stecknadel geimpft hast. Hat irgendjemand eine Vorstellung davon, wie schwer eine Injektion in so einen fließbandproduzierten Plastikarm ist?! Danach schreckt eine angehende Ärztin kein menschlicher Arm mehr und seien die Venen auch noch so winzig und unter noch so viel Lederhaut versteckt.
Also eine Infusion. Ermutigend lächle ich Herrn Ritter an. Wäre in meinem Gehirn heute noch Platz für Männer, würde ich vielleicht etwas weniger gute-Ärztin-lächeln und stattdessen schöne-Frau-strahlen. Herr Ritter sieht nämlich gar nicht schlecht aus und ist – im Gegensatz zu dem undurchschaubaren Oberarzt, der meinen Tag verdorben hat – sogar in meinem Alter. Fahrradunfall, Gehirnerschütterung. Also ein sportlicher Typ und Draufgänger – denn offenbar ist er ohne Helm gefahren. Stopp, Lena, du wolltest doch nicht mehr über Männer nachdenken! Außerdem kann das Fahren ohne Helm auch auf Eitelkeit schließen lassen, vielleicht wollte er nur seine braunen Locken nicht platt drücken. Dann wäre die Gehirnerschütterung eine gerechte Strafe. So. Staubinde anlegen, desinfizieren, Kanüle auspacken, noch einmal beruhigend lächeln, Haut straffziehen, Vene punktieren. Fertig. Wer sagt’s denn, Barbie sei Dank! Überhaupt ist das eine typische Anfänger-Beschäftigungstherapie, die eigentlich auch von den Schwestern erledigt werden könnte. Sogar sollte – die meisten Ärzte stechen nämlich schlechter.
»Das hat aber wehgetan!« Moment, hat DAS Herr Ritter gesagt? Zu MIR?! Ich funkle ihn an. Das Gute-Ärztin-Lächeln weicht einem Ich-kann-dir-auch-eine-Magenspiegelung-verordnen-Blick. Er lächelt und entschuldigt sich. Na also. Weichei. Herr Ritter ist durchgefallen, braune Locken hin oder her.
Ich klappe meine Mappe zu und will das Zimmer verlassen, da sagt der unverschämte Jüngling zu meiner Kittelrückseite: »Das haben Sie wohl zum ersten Mal gemacht, was?«
Mein lieber Mann, ich habe nicht nur Barbies gestochen – ich habe Injektionen in Schweinehaut und Leichenhaut, in optimistische Freiwillige und hilfsbereite Kommilitonen gedrückt! Ich fahre herum und setze zu einer gepfefferten Entgegnung an. Moment … Schlagfertige Antworten, wo seid ihr nur immer, wenn ich euch brauche?! Sprachlos starre ich den frech lächelnden Patienten an. »Wohl ohne Helm gefahren, was? Na, wenn wir da nicht den Schädel noch mal aufmachen müssen …«, sage ich schließlich erbarmungslos – und setze hinzu: »Das mache ich dann übrigens auch zum ersten Mal.« So, das MUSSTE ich einfach haben! Sehr gerade und ohne mich noch mal umzusehen, verlasse ich das Zimmer.
Auf dem Flur überkommt mich sofort bittere Reue. Niemals drohen, nie ängstigen! Oberstes Arztgebot. Selbst bei Patienten, die sich selbst medikamentieren, Symptome erfinden oder sich trotz halb amputierter Lunge zu Tode rauchen, darf man nur warnen – und immer ermutigen. Und was tue ich?! Aus dem Krankenzimmer hinter mir höre ich es klingeln. Na toll, jetzt ruft Herr Ritter nach einer Schwester, die nach dem Oberarzt schickt, damit der Patient sich beschweren kann. Dann erfährt der Chef, dass die Anfängerin, die ihm heute Morgen im Aufzug so aufdringlich präsentiert hat, was sie dem Krankenhaus zu bieten hat – nämlich nichts außer einem Paar schöner Beine –, soeben ihren ersten Patienten bedroht hat. Am besten, ich verlasse diesen Ort der Schande sofort und auf Nimmerwiederkehr. Schule ich eben um auf Verkäuferin, andere sind damit auch glücklich.
Eine kleine Omi reißt mich aus meinen Gedanken. Sie sitzt auf dem Flur in einem der gelblichen Schalenstühle, hustet fürchterlich und krümmt sich wie ein hilfloser Wurm um die Handtasche in ihrem Schoß. Ich spreche sie an. Hat sie Schmerzen? Die Omi nickt, wiegelt aber sofort wieder ab.
»Es wird sich bestimmt bald jemand um mich kümmern. Die Schwester hat gesagt, dass gleich ein Arzt kommt.« Gemeinsam spähen wir den tristen Krankenhausflur hinunter. Niemand ist zu sehen. Wie lange ist dieses Versprechen denn her? Die Omi lächelt ängstlich: »Höchstens eine halbe Stunde.« Und dann hustet sie wieder erbarmungswürdig. Eine halbe Stunde? Mit diesem Husten und den Schmerzen beim Atmen ist eine halbe Stunde Wartezeit eine probate Foltermethode für Schwerverbrecher. Mich beschleicht der Verdacht, dass man die Frau schlicht vergessen hat. Davon sage ich der Omi natürlich nichts – selbst ich kann aus Fehlern lernen, wenn sie nicht länger als 10 Minuten her sind!
Ich knie mich hin und fühle den rasenden Puls der armen Frau, die unter ihren Hustenanfällen entkräftet nach Luft schnappt. Wahrscheinlich hat sie hohes Fieber. Die Omi stöhnt auf. Sie hat starke Schmerzen. In meinem Hirn blättern Lehrbuchseiten auf. Eine typische Pneumonie äußert sich mit Husten, Brustschmerzen, Atemnot und Fieber. Alles klar. Meine erste Diagnose. Sicher und souverän gestellt – und im Handumdrehen. Ich hatte erwartet, diesen Moment mit Sekt und Plätzchen zu feiern – doch jetzt ist an stolze Selbstlob-Partylaune nicht zu denken. Die Frau braucht schleunigst Hilfe. In meinem Kopf rattert es. Sie braucht Antibiotika und sollte dringend in ein Bett; gerade ältere Patienten sind anfällig für fiese Folgekrankheiten. Und vor allem braucht die Frau ein Schmerzmittel, das ist ja nicht mit anzusehen. Am Ende des Ganges steht ein verwaister Rollstuhl. Ich verfrachte die röchelnde Frau hinein. In diesem Krankenhaus muss sich keine kleine Omi schmerzverzerrt auf einem Flur-Stühlchen krümmen, nur weil sie zu schüchtern ist, sich bemerkbar zu machen. Nicht, solange ICH da bin! Lena Weissenbach, die Ärztin mit Herz, Retterin aller gequälten, scheuen Omis. Ich weiß, eben noch wollte ich den ersten Arbeitstag unter »versagt« ablegen und Verkäuferin werden – aber vorher werde ich diese Frau retten.
Hinter mir klackern energische Schritte über den Gang. Ach, verdammt, Herr Ritter! Den hatte ich ja ganz vergessen. Bestimmt kündigt das Geräusch den Oberarzt an, der sich gebieterisch dem Tatort Krankenzimmer nähert, um von meiner unprofessionellen Entgleisung gegen den verängstigten Patienten zu erfahren. Ich kann gerade nicht gucken, denn die Transportsicherung der Omi im Rollstuhl fordert meine ganze Aufmerksamkeit. Ich hänge über dem Rollstuhl und hadere mit der Gurtschließe, als die Schritte hinter mir verstummen.
»Was tun Sie denn da?«
Na klar! Die sonore Stimme des Oberarztes, die sich mir seit heute Morgen so eingebrannt hat, dass sie die penetrante Melodie meines Weckers ersetzen könnte. Und was kriegt der Chef zu sehen, als er zum zweiten Mal an diesem Tag seiner neuen Anfängerin begegnet? Natürlich: meine schönen Beine.
»Was für ein reizendes Wiedersehen!«, sagt Dr. Thalheim. Zu meinem Hintern.