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Von wegen schönes Wochenende! In der WG herrscht konzentrierte Arbeitsstimmung, Jenny und Isa haben ihre Lehrbücher zwischen den Frühstücksresten ausgebreitet und den freien Morgen den Protokollen gewidmet. Ich lasse mich an den Küchentisch sinken, endlich daheim.

»Komm, Schätzchen, wach auf und fang an!« Jenny schiebt mir ihr Buch hin. »Je schneller wir das hinter uns bringen, umso mehr Wochenende ist übrig.«

Ich habe absolut keine Lust auf Protokollschreiben – muss ich ja auch nicht mehr. Ich will raus, bin fest entschlossen, ein wunderbares oberarztfreies Wochenende zu erleben. Mir fehlt nichts! Zum ersten und vielleicht einzigen Mal bin ich es, die die anderen von der Arbeit abhalten will.

»Gedulde dich, Liebes!«, lacht Jenny. »Erst die Arbeit. Ohne die Protokolle kannst du ja doch nicht abschalten.«

Meine Freundinnen sind entsetzt, dass ich mit meinen Berichten schon so weit bin. Allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Isa hat Angst, selbst nicht genug geleistet zu haben. Jenny dagegen fragt lachend, ob uns wirklich nichts Besseres in der wenigen gemeinsamen Zeit einfällt. Bei der Erinnerung an die vertraute, stille gemeinsame Arbeit werde ich fast sentimental. Isa versteht mich.

»Ich konnte auch bei Tom immer am besten lernen …«, sagt sie. Es bringt mich auf den Boden zurück, dass meine Freundin weit mehr Grund hat, unglücklich zu sein. Also berichte ich Isa und Jenny von meiner morgendlichen Enttäuschung und klinge dabei endlich so abgeklärt, wie ich vorhin schon wirken wollte. Verglichen mit Isas Schicksal ist es doch wohl lächerlich, über Tobias’ Distanziertheit betrübt zu sein. Isa sieht mich an, skeptisch.

»Findest du es wirklich schlimmer, wenn jemand sich von dir trennen MUSS und darunter leidet – als wenn jemand ohne dich sein WILL und kann?« Die Frage ist ernst gemeint. Ich muss schlucken.

»Ist ja nur fürs Wochenende«, halte ich kraftlos dagegen. »Wahrscheinlich würde ich mich sowieso schrecklich langweilen …« Nein, ich mache es hier gerade absolut nicht besser!

Jenny klappt mit einem lauten Knall ihr Buch zu. »Könnt ihr nicht mal für EINE STUNDE eure Männergeschichten ruhen lassen?!« Haha, das sagt die Richtige – da sind Isa und ich uns wieder einig!

Jenny schlägt vor, dass wir die Wohnung schmücken. Ja, es ist noch schrecklich lange hin bis Weihnachten. Aber sie behauptet, der Advent sei immer zu kurz und wer könne wissen, wann wir das nächste Mal ein gemeinsames freies Wochenende haben werden. Wenn Tom von seiner Wohnungssuche zurückkommt und Tobias mich an seinen Ärzteessen teilhaben lässt, würden wir sie doch gleich im Stich lassen … Sie schaut so mitleiderregend, dass wir sofort nachgeben. Warm eingepackt machen wir uns also auf den Weg, um Jennys Lieblingsramschläden nach verfrühter Weihnachtsdekoration abzuklappern.

Jenny kauft hemmungslos ein und belädt uns mit so vielen Weihnachtsutensilien, dass wir sie nicht nur nicht mehr tragen können – sie werden auch niemals alle in unsere Wohnung passen. Jenny winkt ab. »Eine richtige Weihnachtsdeko muss so dicht sein, dass man nichts anderes mehr sieht!«, belehrt sie uns. Ob wir wirklich Lust haben, schon von November an mit Rentier Rudolph und seinen Freunden auf Tuchfühlung zu leben, fragt sie nicht. Die Leute in der S-Bahn sehen uns an, als wären wir nicht gescheit. Wenn wir Glück haben, glauben sie nur, dass wir ein ganzes Kaufhaus dekorieren müssen.

Daheim laden wir japsend die unzähligen Tüten und Kisten ab – und jetzt schon ist vom Rest der Wohnung nichts mehr zu sehen. Jenny ist aber noch längst nicht fertig. Der große Karton, den sie aus ihrem Schrank wuchtet, enthält erst die wirklich wilden Weihnachtssachen – gegen die blinkenden Geweihe und singenden Wichtel, die sie hieraus zutage fördert, sind unsere Einkäufe Seniorenheimdeko.

»Das hätte doch völlig ausgereicht«, sagt Isa schwach. »Warum mussten wir noch so viel Kram dazukaufen?«

Jenny winkt ab. »Niemals, das füllt ja nicht mal EIN Zimmer. Aus blöder Fairness habe ich Tom damals die Hälfte der Weihnachtsausstattung überlassen.«

Ich glaube nicht, dass Tom seine Wohnung freiwillig derart grell schmücken würde, sicher verstaubt die andere Hälfte von Jennys kreischender Deko auf seinem Dachboden – aber Jenny sucht ja manchmal einfach Vorwände, um hemmungslos einzukaufen.

»Verdammt«, faucht sie plötzlich, »da muss was schiefgelaufen sein!« (Na davon bin ich schon seit einer Stunde überzeugt!) »Ich wette, Tom hat noch meinen Weihnachtselch.« Energisch zeigt sie auf Isa. »Wenn du ihn mir wiederbeschaffst, bringe ich dir eine Woche den Kaffee ans Bett!« Isa nickt erschrocken. Was kann ein Weihnachtselch hier noch schlimmer machen?

Jenny ist in Fahrt, verteilt mit großen Gesten den Weihnachtsklimbim in allen Zimmern, hängt falsche Gestecke auf, bindet Schleifen um alle Schranktüren und platziert bewegungsmeldergesteuerte singende Trolle. Isa und ich sehen sprachlos zu und vermeiden jede überflüssige Bewegung, um nicht mehr als einmal pro Minute den Trollgesang auszulösen. Ich verbiete den Übergriff auf mein Zimmer und suche mir nur ein einziges altes Bild aus, auf dem rotgesichtige Kinder Schlittschuh laufen. Das ist gerade genug für mich und zwischen all den Räuchermännern und funkelnden Engeln in Flur, Bad und Küche wäre es sicher untergegangen.

Nach einer Stunde bewegen wir uns fassungslos durch ein Disney-Winter-Wunderland. Jenny ist hoch zufrieden. »Endlich ein bisschen Stimmung in der Bude«, lacht sie. Ihre Untertreibungen waren nie verstörender. Einzig das Fehlen ihres Weihnachtselchs trübt Jennys Laune. »Wenn ihr ihn nur sehen könntet, ihr würdet heute Nacht mit mir in Toms Bude einbrechen, um ihn zurückzuerobern!« Wir erfahren, dass der Elch einen Meter hoch ist und einen echten handgestrickten Norwegerpullover trägt.

»Wenn du das Ungeheuer findest …«, raune ich Isa in einem unbeobachteten Moment zu, »ich erhöhe auf vier Wochen Kaffee-ans-Bett-bringen, wenn du ihn unterschlägst!« Isa nickt mir verschwörerisch zu.

Jennys Dekowut wird noch einmal unterbrochen, als Björn anruft. Wenn ich aus der einen Seite des Gesprächs, die ich mithören kann, richtig kombiniere, möchte er Jenny am Wochenende ausführen und vorher haarklein mit ihr absprechen, was es für Möglichkeiten gibt. Es klingt, als habe er für jede denkbare Jenny-Stimmung einen Plan vorbereitet und zähle sogar auf, was sie jeweils anziehen könnte.

»Björn, du machst mich rasend«, faucht Jenny ins Telefon. »Sei doch EINMAL spontan!« Dann legt sie auf. »Daran hat er eine Weile zu knabbern, schätze ich«, grinst sie uns gleich darauf an. »Hoffentlich bis morgen; heute treffe ich mich nämlich mit Felix.« Was ist sie doch für ein hartherzig-berechnendes Biest! Andere wären froh, wenn ihr Freund sich so engagieren würde. (Andere, die nämlich nicht mal genau wissen, ob sie das Wort »Freund« überhaupt benutzen dürfen!)

Als wir am Nachmittag erschöpft in unserem neuen Weihnachtsabenteuerland sitzen und Kakao trinken, grinst Jenny mich plötzlich schelmisch an. »Weißt du, wo das Essen stattfindet?« Klar. Wenigstens das konnte ich dem schweigsamen Oberarzt entlocken. »Warum?«

»Nun ja …« Jennys Grinsen verheißt nichts Gutes. »Was würde er denn tun, wenn da heute Abend ganz überraschend eine wunderschöne Frau auftaucht, die zufällig dasselbe Restaurant besucht?«

Oh nein, von solchen Tricks halte ich gar nichts! Ich werde doch nicht … Ist das nicht armselig?

»Ich leihe dir Björn«, lächelt Jenny. »Der ist parkettsicher und macht bestimmt Eindruck.«

Ich schüttle entschieden den Kopf. »Auf keinen Fall!«

Zwei Stunden später drehe ich mich in einem von Jennys besten Abendkleidern vor dem mit Schneeflocken beklebten Flurspiegel. Ich weiß nicht, wie sie mich dazu gebracht hat. Meine Selbstverteidigung – nichts spricht gegen ein schickes Kleid und vielleicht sieht er mich ja gar nicht – ist ziemlich fadenscheinig. Den Vorschlag, mir Björn auszuleihen, habe ich natürlich abgelehnt. Ich brächte es niemals fertig, im selben Raum – vielleicht sogar am Nebentisch! – zu sitzen, während Tobias sich mit seinen Freunden trifft. Wäre das nicht demütigend für uns beide?! Ganz abgesehen davon, dass er mich selbstverständlich durchschauen würde. Mein Plan ist kleiner – und würdevoller, hoffe ich. Ich werde ganz locker in meinem schönen Kleid am Restaurant vorbeikommen, wenn Tobias dort vorfährt. Im selben Areal liegen noch vier andere Restaurants; ich werde lächelnd erklären, in einem von ihnen mit meinen Freundinnen verabredet zu sein. Dabei sehe ich wahnsinnig gut und erwachsen und salonfähig aus. Eine schöne, gebildete Frau, mit der jeder klar denkende Mann den Abend verbringen möchte. Und wenn er dann doch versucht, mich umzustimmen und mich spontan zu seinem Essen dazubittet – meinetwegen gern. Wenn nicht, fahre ich wieder heim. Und weiß wenigstens Bescheid.

Jenny, die sich eben für ihre Felix-Verabredung aufmotzt, ist überzeugt von meinem Erfolg. Und Isa, die Vernünftigste von uns, ist zum Glück schon auf dem Weg zu Tom, um von seiner Wohnungssuche zu erfahren (und hoffentlich den Weihnachtselch verschwinden zu lassen). Deshalb lasse ich Jenny freie Hand an meiner Frisur und mich von ihr überzeugen, dass mein Vorhaben absolut nicht albern ist.

Mitten in unserer fröhlichen Vorbereitung klingelt es an der Tür. Ich drücke die Gegensprechanlage. Björn.

Jenny steht hinter mir und macht hektische Abwink-Gesten. Na klar, ich soll ihn loswerden, in wenigen Minuten muss Felix hier aufkreuzen!

»Jenny ist nicht da«, sage ich unhöflich, »und ich kann dich nicht reinbitten, weil ich …« (Hilfe! »Nackt bin«? »Besuch habe«?) »… gleich weg muss!« (Na bitte! Nicht immer sofort zum Äußersten greifen!)

»Wo ist sie denn?«, fragt Björn enttäuscht. Ich versuche, Jennys Gesten zu deuten. Offenbar richtig, denn als ich Björn erzähle, sie sei bei einer Freundin lernen, nickt Jenny zufrieden. Björn verabschiedet sich betrübt. Ich lege den Hörer der Sprechanlage auf, überprüfe noch zweimal, ob wirklich die Verbindung unterbrochen ist – und erkläre dann entschieden, dass ich so was nie nie wieder tun werde. Ich will in diese Sache nicht reingezogen werden! Björn tut mir leid.

Jenny ist unbeeindruckt. »Was fällt ihm denn auch ein?!«, fragt sie nur kess. »Einfach hier aufzukreuzen! Ist doch sonst nicht seine Art!« Ich erinnere daran, dass sie selbst ihm dringend geraten hat, spontaner zu werden – und er ihr offenbar sehr gern gefallen möchte. Jenny zuckt die Achseln. »Pech. Heute ist Felix dran.«

»Hast du ihm auch Verbesserungsvorschläge gemacht?«, frage ich bissig. »Kann es sein, dass er gleich mit Krawatte und Bügelfalte hier auftaucht?«

Jenny lacht und verneint. »Nicht nötig«, sagt sie. »Felix ist eigentlich ganz okay, so wie er ist.«

Hört, hört. Das ist ja wohl das höchste Lob für einen Typen, das ich jemals aus Jennys Mund gehört habe! »Also Felix?«, frage ich hoffnungsvoll. Doch so sehr will sich meine Freundin nicht festlegen lassen. »Im Vergleich mit Björn liegt er auf jeden Fall vorn«, ist das Einzige, was sie zugibt. »Nur wenn ich bloß noch ihn treffe, werde ich nie in einer Limo rumgefahren!« Dazu fällt mir nichts mehr ein.

»Jetzt komm!« Jenny zieht mich ins Bad zurück. »Was du dir da geschminkt hast, sieht aus wie Bluthochdruck.«

Ich will die Kritik beleidigt zurückweisen – dann aber fällt mein Blick in den Badspiegel. Ich sehe ganz falsch aus; unter der von Jenny kunstfertig arrangierten Frisur leuchtet mein Kopf solariumsrot. Jenny greift zu ihren Instrumenten. »Wenn man nicht alles selber macht«, murmelt sie, aber sie korrigiert meine falsche Farbe im Handumdrehen. Wenn ich sie nicht hätte. Ich wusste gar nicht, dass ich SO aufgeregt bin!

Eine Stunde später hält ein Taxi vor einem teuren Restaurant und eine wunderschöne Frau im Abendkleid steigt aus. Zugegeben, ihre Hände zittern. Nicht nur, weil sie keinen Mantel mithat, um das Kleid nicht zu entstellen – sie hat auch allmählich den leisen Verdacht, gerade eine ziemliche Dummheit zu begehen. Wenn das Taxi nicht schon wieder davongebraust wäre, würde ich jetzt doch wieder einsteigen und zurück nach Hause fahren. Doch zu spät. Hier stehe ich nun. Idiotisch! Ich blase den Plan ab. Was soll er denn denken? Meine Geschichte glaubt er mir niemals! Ich werde mir sofort ein Heimfahrtstaxi rufen.

Am Straßenrand parkt ein grüner Wagen ein. Na klar. Ausgerechnet jetzt, da ich eben zur Besinnung gekommen bin. Tobias steigt aus, noch hat er mich nicht gesehen. Ich mache mich klein, trete an die Straßenecke. Wie peinlich! Von der anderen Seite geht ein Paar an mir vorbei, ein älterer Herr und eine große Blondgelockte. Sie halten auf Tobias zu, begrüßen ihn. Aha. Zu dritt. Na, das muss ja eine tolle Verabredung sein, bei der er lieber das dritte Rad am Wagen ist, als mich mitzunehmen. Ich schaue konzentriert in die andere Richtung. Aber wenn er dich jetzt sieht, Lena … Trau dich doch! Er WIRD dich fragen. Sei locker, deine Geschichte steht! Ich drehe mich wieder um. Und genau jetzt steht er vor mir. Seine Miene ist erschrocken. Er sagt nichts. Die große Blondine lächelt mich an. »Lena, was machst du denn hier?!«

Nein, nein, nein! Sollte es nicht Instinkte geben, die einen vor solchen Situationen bewahren? Die Blonde ist mir schrecklich bekannt, warum habe ich es nicht gleich begriffen?! Die Ähnlichkeit mit Jenny war doch schon am Gang unverkennbar, das aufdringliche Parfum ist unverwechselbar! Jennys Mutter. Der Mann neben ihr muss Jennys Vater sein, der snobistische Professor, der sich mit Anerkennung so schwertut. Autsch.

Jennys Mutter küsst mich spitz auf beide Wangen, ich bin wie gelähmt. Sie stellt mich vor. »Jennys reizende Mitbewohnerin – mein Mann. Und Dr. Thalheim kennst du ja.« Nö, liebe Frau, nur ganz von Weitem. Sieh ihn doch an, seine Miene sagt so deutlich, dass wir uns überhaupt kein bisschen kennen. Dass er mich gerade überhaupt nicht kennen möchte. Dass er nicht fassen kann, dass ich ihm hier auflauere. Verdammt. Ich setze an, meine blöde Geschichte zu erzählen, unterbreche aber schnell, als mir aufgeht, dass mein Alibi so absolut nicht funktioniert. Wenn ich jetzt sage, dass ich gleich mit Jenny verabredet bin, werden sie vielleicht warten? Wäre doch eine nette Gelegenheit, mal die einzige Tochter auszuführen. Ich weiß, sie sind in der Regel nicht so herzlich. Aber wer sagt, dass sie nicht ausgerechnet heute damit anfangen?! Plötzlich traue ich mich auch nicht mehr, Isa als Alibi zu benutzen – voller Argwohn, dass sie dann vielleicht die andere Mitbewohnerin ihrer Tochter kennenlernen möchten. Die auch nicht hier ist. Hilfe! Und Tobias’ Blick würde ausreichen, um mich zu einem Eisblock zu gefrieren.

»Ich war mit Freunden essen«, sage ich schließlich nur. »Und jetzt muss ich dringend heim.«

Ganz klar: Er glaubt mir nicht richtig.

»Nehmen Sie doch einen Drink mit uns«, lächelt der Jenny-Vater. Tobias sieht weg. Ich beteuere eilig, ich müsse wirklich los.

Jennys Mutter befreit mich. »Ein junges Mädchen will doch den Samstagabend nicht mit ihrem Vorgesetzten verbringen.«

Danke. Ich verabschiede mich endlich. Denn wenn eins deutlich wurde, dann dass ein Vorgesetzter den Samstagabend nicht mit einem jungen Mädchen verbringen will.

Ich verkrieche mich in der Badewanne. Das ist das Einzige, was gegen dieses blöde Gefühl hilft. Und um zehn gehe ich ins Bett, begleitet von einem riesigen Lehrbuchstapel. Strafe muss sein. Von wegen schönes Wochenende!