Alles soll anders werden. Wir Mädels sammeln Endjahres-Pläne. Isa hat vor, Tom den München-Verzicht mit vollem Einsatz für seine Jobsuche zu entlohnen und überhaupt nie wieder Ansprüche an ihn zu stellen. (Süß: Als ich frage, welche Forderungen die sanftmütige, immer freundliche Isa denn genau in ihrer Beziehung gestellt hat, erwähnt sie ihre Bitte, sie regelmäßig anzurufen und an Vor-Arbeitstagen nach elf keinen Krach mehr zu machen!) Meine Veränderungswünsche sind ebenfalls privater Natur; ich hoffe, mit Tobias endlich einen Status zu erreichen, den ich getrost mit dem Wort »Beziehung« bezeichnen kann und ihn noch vor Weihnachten dazu zu bewegen, auf die Frage nach seinem Befinden EINMAL nicht nur »alles okay« zu antworten. Für Jenny schlagen wir vor, dass sie in ihrem Doppel-Beziehungs-Chaos aufräumt, sich spätestens zum neuen Jahr für einen ihrer Parallel-Verehrer entscheidet und den anderen erlöst. Jenny will davon nichts hören, aber vielleicht weckt unser Mitleid für die beiden Herren bei ihr wenigstens ein bisschen Sensibilität?
Isa kauft heute Morgen am Bahnhof vier Zeitungen und breitet sie in der S-Bahn vor sich aus. »Ich muss jedes Zeitfenster nutzen«, sagt sie etwas kläglich. Es stellt sich heraus, dass sie die Blätter nach Jobangeboten durchforstet. Für Tom natürlich. Er soll den besten und erfüllendsten Job Berlins bekommen. Hastig fährt Isa mit dem Finger über die spärlichen guten Angebote, nichts dabei, sie faltet eine Zeitung zu und eine andere auf. Wir sind gleich am Alex, sie hat keine Zeit mehr, die ganze Presse durchzusehen. Ich nehme ihr eine Zeitung ab, ihre rastlos-engagierte Suche rührt mich. Jenny behauptet, temporär-partielle Analphabetin zu sein – was bedeuten soll, dass sie zwischen zwei und acht Uhr morgens nicht lesen könne – und drückt sich. (Aber um sich solche Begriffe auszudenken, reicht die Energie!) Isa und ich ackern die Angebote durch, doch auch ich habe nach 17 Seiten nur zwei Annoncen vorzuweisen, ein Familienzentrum und einen Kinderladen, beides klingt nicht nach dem ultimativen München-Ersatz-Traumjob …
»Morgen«, sagt Isa entschieden. »Morgen finde ich was!« Ich hoffe, dass sich ihr hastig zusammengekratzter Optimismus bewährt.
Professor Dehmel geht es nicht gut. Er wirkt abwesend, spricht kaum. Vor der OP war er permanent mit Projekten beschäftigt, hat Pläne gemacht … Dabei stand ihm eine lebensgefährliche Operation bevor. Jetzt hat er sie überstanden – und all seine Lebensfreude ist verschwunden. Ich sitze an seinem Bett und bemühe mich, ihn zu unterhalten, abzulenken … vergeblich. Schließlich habe ich sogar das Gefühl, dass ihn meine Aufmunterungsversuche nerven. Vielleicht sollte er Besuch bekommen, bisher gab es nur Blumensendungen, kein Mensch hat sich leibhaftig blicken lassen. Ich schlage in der Akte nach; der Professor ist geschieden und kinderlos. Seine längst vergangenen Scherze über Exfrauen legen nicht unbedingt den Schluss nahe, dass er eine von ihnen gerne sehen würde. Als Kontaktperson hat er einen Anwalt angegeben. Ist das ein Freund? Ein Juristen-Freund? Oder wirklich nur sein Rechtsanwalt? Ein Mann in seinem Alter muss doch Freunde haben!
»Wollen wir mal Besuch einladen? Ihre Kontaktperson?«, frage ich – und dann, in der Hoffnung auf ein Lächeln: »Oder die am wenigsten schreckliche Ihrer Exfrauen? Oder alle gleichzeitig?«
Die Miene des Professors bleibt ausdruckslos. »Was sollen die denn hier?«, fragt er nur leise. Klar, seine deprimierte Stimmung ist kein Wunder. Hilflosigkeit, Stress, Zukunftssorgen. Und den ganzen Tag mit seinen Gedanken allein, keine Chance auf Ablenkung, einen Ausgleich. Nur eine Hilfsärztin, die ständig auf ihn einplaudert und glaubt, mit lahmen Scherzen seine Laune heben zu können. Aber ich gebe nicht auf. Wenn außer mir keiner für den alten Mann da ist, muss ich eben tun, was ich kann. Ich erzähle vom Schnee, vom nahenden Weihnachtsfest und (subtil, Lena!) warum sich auch einsame Menschen darauf freuen können. Ich bleibe so lange sitzen, dass ich fast das Vorbereitungsgespräch für die Kreuzbandriss-OP verpasse, zu der mich Dr. Thiersch heute eingeteilt hat.
Selbst am Abend vor Tobias’ Kamin verschwende ich nur wenige Worte an die OP. Klar, ich bin zufrieden, sie lief ausgezeichnet und ich bin nicht nur nicht umgefallen, sondern durfte sogar den Drainageschlauch annähen, der ins Kniegelenk gelegt wurde. Doch die drastische Persönlichkeitsveränderung meines früher so aufgeschlossenen Professors beschäftigt mich mehr. Wie kann ich ihm denn nur helfen? Tobias umarmt mich, schüttelt den Kopf. »Das ist eine typische Reaktion auf die körperliche Stresssituation der OP«, sagt er nüchtern. »Auch darum werden sie sich in der Rehaklinik kümmern, versprochen.«
Natürlich hat er recht. Und es ist schön, wenn jemand deine Sorgen mit sachlichen Argumenten entkräftet und dir liebevoll klarmacht, dass du mal wieder übertreibst. Aber ein ganz kleines bisschen wünsche ich mir, er würde mal etwas antworten wie »komm, wir entführen ihn aus dem Krankenhaus und fahren mit ihm nach Disneyland«. (Rekordverdächtig, Lena, gleich drei absolute Undenkbarkeiten in einem einzigen Gedankenblitz!) Bin ich ungerecht? Ist es nicht gerade seine abgeklärte Art, seine stille Überlegenheit, in die ich mich verliebt habe? Warum kann ich nicht einmal glücklich sein mit dem, was ich habe?! Halt! Ich BIN glücklich. Er hält mich fest, streicht mir die Haare aus dem Gesicht, lächelt, beruhigt mich. Gibt mir das Gefühl, nichts sei wichtiger als meine Sorgen – und er könne sie alle aus der Welt schaffen. Es gibt keine einzige Verbesserungsmöglichkeit für diesen Moment! Wir beide, das Feuer, Musik, sein Erwachsenengeruch, sein Kuss. Was WILLST du denn?!
Mitten in der Nacht Telefonschrillen. Ich fahre hoch, weiß überhaupt nicht, wo ich bin. Das Fenster ist auf der falschen Seite, die Nacht davor dunkel, wo ist meine Straßenlaterne? Tobias, ich bin bei Tobias, irgendwas ist passiert.
Er ist schon aufgestanden, eilt durch das Schlafzimmer, zieht seine Jacke über, küsst mich schnell. »Schlaf weiter!« Ich setze mich auf, er ist schon hinausgegangen, sieht noch einmal ins Zimmer, fertig angezogen und aufbruchbereit binnen einer Minute. »Ein Notfall, Lena, ich muss in die Klinik.« Ich schwinge die Beine aus dem Bett, meine Füße finden den Teppich, ich muss mich beeilen. Tobias legt einen Schlüssel auf das Bett. »Leg dich wieder hin«, sagt er und »schließ nachher ab«. Dann ist er gegangen, die Wohnungstür klappt, Schritte im Treppenhaus, unten startet ein Auto, ich bin allein.
Müde lasse ich mich wieder in die Kissen sinken. Okay. Er lässt mich hier allein, in seiner Wohnung, in seinem Bett, mit seinem Schlüssel. Als wär das ganz normal. Als ob ich hierhergehöre.
Komm schon, Lena, was wäre er für ein Typ, wenn er dich mitten in der Nacht aus der Wohnung schmeißen würde, nur weil er zu einem Notfall muss?! Trotzdem. Er könnte sagen: »Tut mir leid, wir müssen sofort los, ich mach es wieder gut«, mich an der S-Bahn absetzen oder mit ins Krankenhaus nehmen. Stattdessen sagt er »Schlaf weiter«, legt den Schlüssel auf den Nachttisch, als wäre es ohnehin meiner. Ich bin fassungslos vor Glück. Eine dunkle wohlige Wärme in meinem Bauch. Ich kuschle mich zurück in die Kissen und frage mich, ob ich schon mal glücklicher war.
Halb sechs kann ich nicht mehr schlafen. Wenn ich jetzt in die Bahn steige, bin ich zu Hause, eh meine Freundinnen aufstehen. Oder ich bleibe noch ein wenig und tue, als würde ich hier wohnen.
Ich koche mir Kaffee, streife durch seine Wohnung, dusche ausgiebig, sehe in ein riesiges Handtuch gehüllt vom Balkon in den dünnen Schnee hinaus. Das herrliche Hierhergehören mischt sich mit dem aufregenden Gefühl, ein fremdes Leben auszuprobieren. Ich sehe mir seine CDs an, nehme ein paar seiner Bücher in die Hand, ziehe sogar den Pullover über, der auf der Sofalehne liegt. Ich bin nicht nur in seiner Wohnung, ich bin in seinem Leben. Und irgendwo hier ist sogar ein Bild von mir.
Das Zeitungsfoto liegt nicht mehr auf dem Schreibtisch. Ich weiß nicht, warum ich die Schublade öffne. Noch weniger, warum ich nicht damit zufrieden bin, dass mein Foto obenauf in der Lade liegt. Sondern noch nachschauen muss, was die Fotos darunter zeigen. Ist es der Wunsch, alles von ihm zu wissen? Oder bloße Neugier?
Die ersten Bilder sind von einer Feier, Tobias trägt einen Anzug, doch sein leicht ironisches Lächeln ist das mir so vertraute. Das Foto darunter ist ein Hochzeitsbild. Hier sieht er ganz anders aus, er strahlt, ein anderer, ganz fremder Tobias. Er legt den Arm um eine Frau. Ihr Brautkleid ist das schönste, das ich je gesehen habe.
Erst in der S-Bahn komme ich wieder zu mir. Ich weiß nicht, was schrecklicher ist – dass er so anders aussah, so glücklich, wie ich ihn noch nie erlebt habe? Oder dass ich nichts davon wusste? Sicher, meine Ich-will-ihn-nie-wiedersehen-Reaktion mag übertrieben sein. Aber im Moment kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, wie ich ihm je wieder gegenübertreten soll. Alles fühlt sich kaputt an.
»Das ist sicher lange her«, gibt Isa zu bedenken. Meine Freundinnen haben Kakao gekocht, sind voller Mitgefühl (Isa) und voller Wut (Jenny). Ich bin immer noch sprachlos. »Das ist es nicht wert, Lena«, sagt Jenny entschieden. »Sieh dich doch an!« Sie haben beide recht. Ich weiß nicht, was ich tun soll.
Ich überstehe den Kliniktag wie in Trance, drehe meine Patientenrunde, gebe bei der Visite die richtigen Antworten. Zum Mittagessen habe ich immer noch nicht entschieden, wie ich mit dem neuen Wissen umgehen, was ich ihm sagen soll. Also drücke ich mich und sitze stattdessen an Professor Dehmels Bett. Heute bin ich nicht zu Aufmunterungsscherzen aufgelegt, wir schweigen. Er wirkt sehr weit weg, es macht mich noch trauriger.
Der Wohnungsschlüssel brennt in meiner Tasche. Ich muss ihn zurückgeben. Vielleicht fallen mir ja die richtigen Worte ein, wenn ich ihm gegenüberstehe? Oder meine Enttäuschung kommt mir plötzlich doch lächerlich und übertrieben vor? Ich muss es versuchen.
Tobias lächelt, als ich auf den Parkplatz komme, öffnet die Autotür. Ich kann es nicht. Ich gebe ihm den Schlüssel, sage, dass ich heute nicht mitkommen kann. Er versteht nicht, fragt aber nicht. »Vielleicht morgen«, sage ich fad.
»Ist alles in Ordnung?«, fragt er und sieht jetzt doch besorgt aus. Ich antworte nicht, nicke nur, verabschiede mich. Er steigt ein, sein Auto biegt vom Parkplatz, verschwindet in der Dunkelheit.
Schmerzhaft überfällt mich die Sehnsucht, sobald ich ihn nicht mehr sehen kann. Ich will bei ihm sein. Nichts hat sich geändert.