Am Morgen ist alles weiß. Jenny stürmt im Nachthemd in mein Zimmer und reißt die Vorhänge auf. Das Licht ist anders, ich springe aus dem Bett und zu ihr ans Fenster und wir bewundern ausgiebig die dünne Schneedecke, in der sich erst wenige Fußspuren abzeichnen. Es ist Anfang November, der Schnee wird vor dem Jahresende sicher noch einmal tauen, trotzdem habe ich plötzlich ein ganz heimeliges Vorweihnachtsgefühl.
Wir frühstücken heute ausnahmsweise in Jennys Zimmer, wo man vom Bett aus in die zaghaft beweißten Bäume sieht. Zu dritt sitzen wir mit unseren Kaffeetassen auf dem breiten Bett, so gemütlich und einträchtig, dass wir uns nicht trennen können, bis es allerhöchste Zeit ist, nach der S-Bahn zu rennen, wenn Jenny noch vor Dienstbeginn nach Paula sehen möchte. Noch gestern Abend waren wir alle drei in schrecklich gedrückter Laune. Jenny blieb zu Hause, um sich Vorwürfe zu machen und ließ die Anrufe ihrer beiden Verehrer unbeachtet ins Leere klingeln. Isa kam reichlich deprimiert von ihrer Verabredung mit Tom; ihre Entscheidung hat ihn schwer getroffen. Dass Isa nach Hause kam, statt bei ihm zu übernachten – da ihnen doch nur noch wenige gemeinsame Nächte bleiben –, wirkte wie ein schlechtes Zeichen. Und ich fühlte mich in der Pflicht, meinen Freundinnen beizustehen und hätte es ziemlich schäbig gefunden, mich zwischendurch zu einem telefonischen Oberarzt-Geplänkel zurückzuziehen. (Okay, irgendwie war ich mir auch nicht ganz sicher, was man da sagt …) Mitten in der Nacht fiel mir ein, dass eine SMS sowieso viel besser gewesen wäre – aber leider erst zu einer Zeit, zu der jede noch so locker formulierte Nachricht verzweifelt gewirkt hätte. Also allgemein unzufriedene bis unglückliche Stimmung; der Abend endete mit reihum verteilten Mitgefühlsbekundungen und verspäteten Schuldgefühlen wegen der ungeheuren Mengen Schokolade, die dabei vertilgt wurden.
Heute Morgen ist alles heller, freundlicher, zuversichtlicher. Nach dem schmutzigen Herbst ist die gnädige Schneedecke über Berlin eine wahre Wohltat, auch wenn sie noch so dünn ist. Wie die Kinder schnappen wir uns jede eine Handvoll Schnee – zu mehr reicht es noch nicht – und bewerfen uns damit. Ich schütze übertrieben aufmerksam eine Thermokaffeetasse vor Schneeballbewurf, die zurückzugeben ich gestern keine Gelegenheit hatte und die ich mir heute in einem Anfall von Verkitschung für den Arbeitsweg gefüllt habe. Heute ist es, als könnte uns niemand etwas anhaben. Jenny ist entschlossen, gleich der eisigen Oberärztin entgegenzutreten und sich für ihre Privatleben-Dienst-Vermischung untertänig zu entschuldigen. Und ich benutze endlich meine neue Kurzwahltaste. Ich tippe »Guten Morgen!« und »Geisel-Kaffeetassen-Austausch heute Abend?« – und schicke es schnell ab, bevor meine Unsicherheit zuschlagen und den Spontantext zu genau auf mögliche unbeabsichtigte Deutungsmöglichkeiten analysieren kann.
Als ich meine Tasche im Spind verstaue, samt der Thermotasse, die ich schon an der S-Bahn-Station sorgfältig in den Untiefen der überfüllten Handtasche verborgen habe, meldet mein Telefon eine neue Nachricht. »Übergabe ab 7, als Gegenleistung solltest du mindestens ein Essen verlangen.« Ich strahle so, dass meine Freundinnen behaupten, ich liefe Gefahr, die Sprinkleranlage auszulösen. Was soll heute schon schiefgehen?!
Wir begleiten Jenny auf die ITS, doch Paula ist noch nicht bei Bewusstsein. Die diensthabende Schwester ist sehr nett und verspricht, Jenny persönlich über jede Änderung im Zustand der Patientin zu informieren. Wir treten pünktlich auf unserer Station an, heute gibt sich die Eisprinzessin mal wieder selbst die Ehre. Jenny benimmt sich vorbildlich. Sie steht in unserer Mitte, nicht so weit hinten, dass sie eingeschüchtert und nicht so weit vorn, dass sie trotzig wirkt. Sie schafft es sogar, nicht beleidigt auszusehen, als Dr. Thiersch sie herablassend fragt, ob sie sich heute in der Lage fühle, ihren Dienst nach Vorschrift zu absolvieren. Jenny nickt nur.
»Wenn die Patientin Schwab aufwacht, würde ich gerne zu ihr gehen«, sagt sie sachlich. »Aber selbstverständlich werde ich den dadurch entstandenen Arbeitszeitausfall in der Mittagspause nacharbeiten.«
Irre ich mich – oder wirkt die kühle Oberärztin zum ersten Mal überrascht? Sie sieht auf die Uhr. »In spätestens einer Stunde. Ich lasse Sie holen«, sagt sie fast freundlich. »Aber rechnen Sie nicht damit, dass Sie dann schon mit ihr sprechen können.«
Damit scheint das Thema vorerst erledigt. Dr. Thiersch konsultiert ihre Liste und verteilt Assistenzen für die anstehenden Operationen. Eine Sprunggelenksprothese, die Ileozökalresektion einer Morbus-Crohn-Patientin und ein Patient mit Colitis ulcerosa. Dr. Thiersch schaut in die Runde, ihr Blick bleibt an Sabrina hängen. »Das könnten Sie übernehmen. Eine Proktokolektomie macht sich gut in Ihrer Bewerbung.« Sabrina lächelt stolz und Dr. Thiersch lässt es sich nicht nehmen, ihrer Lieblings-PJlerin noch ein Extrakompliment zu schenken. »Die Gastrektomie haben Sie sehr gut gemacht, da ist eine kleine Belohnung nur angebracht.«
Ach, na toll. Frau Schulte erbt Paulas OP, darf sich sonderprofilieren und bekommt dann zur Belohnung NOCH EINE OP? Und was kriege ich?! Nein wie schäbig, Lena, jetzt denkst du auch schon so? Ja, du willst operieren. Aber pass auf – von diesem Neidgefühl ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Niedertracht. Willst du vielleicht anfangen, deinen Konkurrenten Koffeintabletten im Nachmittagstee aufzulösen, damit sie einen zittrigen Eindruck machen und du ihre OPs abstaubst?! »Du wartest, bis du dran bist«, sagt die Vernunftstimme. »Auf dieses Niveau begibst du dich nicht hinunter.« Ich gebe ihr recht und bremse damit gerade noch den kleinen Teufel aus, der doch schon mal darüber nachdenkt, wie sich das mit den Koffeintabletten bewerkstelligen ließe. Stattdessen melde ich mich für die beiden anderen OPs. Leider bin ich nicht die Einzige, alle wollen zeigen, dass sie mit Sabrina mithalten können. Selbst Jenny hebt die Hand. An ihrer Stelle würde ich das wahrscheinlich nicht wagen; es ist doch klar, dass sie keineswegs ausgewählt wird, sondern sich höchstens noch einen Spruch einfängt.
Und richtig: Dr. Thiersch mustert Jenny von oben herab und fragt spitz: »Ihnen ist aber klar, dass Sie eine ganze Menge Einsatz beweisen müssen, bevor ich Sie wieder einteile?«
Jenny nimmt langsam die Hand herunter. »Aber ich kann ja schlecht Einsatz zeigen, wenn ich mich nicht mal um eine OP BEMÜHE, oder?«
Na, das war garantiert wieder zu frech für unsere Schneekönigin – war ja klar, dass Jenny die neue Demut nicht lange durchhält. Aber Dr. Thiersch ist nicht pikiert, stattdessen nickt sie knapp. »Das stimmt natürlich.« Ich bin nicht schlecht überrascht. Selbstverständlich wird Jenny nicht eingeteilt und ich will gar nicht wissen, wie oft sie sich noch vergebens bemühen muss, bevor ihr verziehen wird – trotzdem hat die Oberärztin in diesem Moment ein paar Punkte bei mir gutgemacht. Und ich? Wie oft muss ich mich noch melden? Auch meinen Finger übersieht Dr. Thiersch. Die Sprunggelenksprothese geht an Bert. Bei der Ileozökalresektion wandert Dr. Thierschs Blick ebenfalls uninteressiert über mich hinweg. Ich erwarte schon, dass sie auch dafür einen Mann einteilt und lasse doch noch einmal den kleinen Teufel zu Wort kommen, der mir den Koffeintabletten-Trick allmählich schmackhaft machen könnte. Doch die Eisprinzessin übergeht alle männlichen Finger und nickt Isa zu. »Sie. Beim letzten Mal hat es ja gut geklappt.« Isa strahlt mit roten Bäckchen und ich bin ein wenig versöhnt. Wenn ich es jemandem gönne, an mir vorbeizuziehen, dann doch wohl ihr. »Sehr nett, Lena«, sagt der Teufel. »Und wann wolltest DU noch mal Karriere machen?!« Aber diesmal lässt er sich leichter unterdrücken, ein Blick in das glückliche Gesicht meiner Freundin genügt.
Jenny und ich ziehen also mit unseren Wagen los und gönnen uns nur einen kleinen Augenblick des gegenseitigen Mitgefühls unter Benachteiligten. Ich überprüfe Frau Zietlers Blutwerte und lege fest, dass sie schon heute Mittag wieder feste Kost zu sich nehmen kann. Anna Zietler darf heute zum ersten Mal aufstehen und fragt, wie ich die Chancen einschätze, dass sie am Abend mit ihrem Mann einen kleinen Spaziergang unternehmen kann. Sie möchte so gern den ersten Schnee sehen. »Wissen Sie«, lächelt sie, »normalerweise unternehmen wir immer einen Ausflug zum Grunewald, wenn es zum ersten Mal schneit.« Sie schaut mich sehnsüchtig an. »Dort hat er mir nämlich den Heiratsantrag gemacht, im Grunewald, im Schnee …« Ich bin mädchenmäßig gerührt und verspreche spontan, dass sie ihren Spaziergang bekommen wird.
Als ich auf den Gang zurückkomme, eilt Jenny an mir vorbei. »Jetzt«, sagt sie hektisch, »drück mir die Daumen!« Vorne am Tresen steht unsere Eisprinzessin; sie wartet mit hochgezogenen Augenbrauen auf Jenny – aber sie wartet. »Erst sehe ich nach der Patientin, dabei kann ich Sie nicht brauchen«, sagt sie barsch, »aber danach dürfen Sie sie fünf Minuten besuchen.« Jenny nickt eilig, folgsam. Dr. Thiersch stiefelt los. »Ach …«, sie hält noch einmal inne und deutet auf mich, »Sie haben doch nichts zu tun, oder? Sie können schnell eine Aufnahme machen.« In der nächsten Sekunde ist sie verschwunden – vielleicht ganz gut, damit hat sie uns beiden eine patzige Antwort erspart. Ich eile in den Aufnahmebereich.
Ein freundlicher alter Herr begrüßt mich äußerst höflich; er steht auf und stellt sich vor. Seine formvollendeten Manieren kosten ihn Anstrengung, als er sich wieder setzt, atmet er schwer. Professor Dehmel ist 64 und hat eine Koronare Herzkrankheit. Den Professor entnehme ich übrigens nur der Akte, seinen Titel hat er bei der Vorstellung bescheiden weggelassen. Ich überprüfe seine Papiere. Ein wichtiges Herzkranzgefäß ist irreversibel verengt, Professor Dehmel steht eine Bypass-Operation bevor. Die stationäre Vorbereitung wird etwa vier Tage dauern, ich erkläre dem Professor, welche Voruntersuchungen noch durchgeführt werden müssen, Herzkatheter, Belastungs-EKG, Ultraschall der hirnversorgenden Arterien, Lungenfunktionstest, Thorax-Röntgen. Er nickt zu allem, wirkt sehr beherrscht. Aber ich merke, dass seine Hände zittern, als er mir die Unterlagen seines Hausarztes überreicht. Und es wirkt, als höre er mir bei der Aufklärung über die OP-Nachsorge gar nicht richtig zu.
»Haben Sie Angst?«, frage ich schließlich. »Kann ich noch irgendetwas für Sie tun?«
Er lächelt. »Ich habe nur gerade darüber nachgedacht, wie jung Sie sind …«, sagt er leise.
Natürlich. Er fühlt sich nicht ernst genommen. Glaubt er wirklich, dass dieses Krankenhaus eine blutige Anfängerin allein eine Bypass-OP vornehmen lässt?! Ich hole aus, um ihm zu erklären, dass ich hier außer der Anamnese gar nichts allein durchführe und dass die Chirurgen, die ihn operieren werden, zusammen sicherlich über 150 Jahre alt sind. Ich schwöre, es klingt nicht beleidigt, ich kann seine Sorge ja verstehen. Doch er schüttelt den Kopf, berührt meinen Arm – und ich verstumme unter seinem traurigen Blick.
»Das ist es nicht«, sagt er. »Ich dachte nur eben daran, wie hoch wohl die Wahrscheinlichkeit ist, dass Sie die letzte junge Frau sind, die ich kennenlerne …«
Ich starre ihn an, sprachlos. Verdammt! Warum muss das Leben so gemein sein?! Ich versuche ein zuversichtliches Lächeln. »Ich bin sicher, Sie kommen wieder auf die Beine«, sage ich, so beruhigend ich kann. Er nickt, nicht ganz überzeugt. »Und falls es Sie tröstet: Sie werden allein bei der OP-Vorbereitung noch mindestens zehn junge Damen kennenlernen.« Zu flapsig, Lena, was machst du, wenn er jetzt anfängt zu weinen?
Aber stattdessen erwidert er endlich mein bemühtes Lächeln. »Dann sollte ich mir ein neues Telefonbuch zulegen«, antwortet er. »Nur damit ich es meinem Testament beilegen kann. Meine Exgattinnen sollen doch nicht NUR Vergnügen haben auf meiner Nachlasseröffnung.«
»Legen Sie ein paar Fotos bei«, sage ich albern, »damit niemand auf die Idee kommt, Sie hätten die Namen erfunden.« Und plötzlich grinsen wir uns an und haben die schreckliche Wahrheit irgendwie ausgetrickst. »Sie machen das schon«, sagt er leise. Und ich nicke. »Sie schaffen das schon.«
Ich lasse ein Zimmer für Professor Dehmel richten und trage seine Akte zu Dr. Gode. Als er fragt, wie die Aufnahme gelaufen ist, erzähle ich ihm von dem seltsamen Gespräch. Ist es okay, mit einem Patienten, dessen Überlebenswahrscheinlichkeit so beschränkt ist, über die Aussichten für Frauenbekanntschaften herumzuflachsen? Dr. Gode grinst. »WIE Sie dem Patienten die Angst nehmen, ist doch Ihnen überlassen, Frau Weissenbach. Ich glaube, Sie haben es sehr gut gemacht!« Er überlegt. »Werden Sie sich um die Betreuung des Professors bewerben? Vielleicht passen Sie gut zusammen?« Ich gebe zu, dass ich darauf gehofft habe. Dr. Gode nickt. »Ich wäre ja dumm, Sie nicht einzuteilen.« Damit ist die Sache für ihn abgeschlossen. Professor Dehmel ist mein Patient.
Zur Mittagspause überkommt mich die typische neue Lena-Zerrissenheit. Ich möchte hinuntergehen und IHN sehen, wenigstens von Weitem, wenigstens für ein paar Minuten. Doch Jenny ist noch nicht wieder auf der Chirurgie angekommen und mein Freundinnenherz befiehlt eindeutig, mich erst mal um sie zu kümmern. Also gehe ich hinüber auf die Intensivstation. Paula schläft, immer noch von zu vielen Schläuchen umgeben. Jenny ist nicht da. Ich suche den Flur ab, am Ende des Ganges riecht es nach Rauch. Als ich die Tür zum Waschraum öffne, drückt meine Freundin hastig ihre Zigarette aus und wedelt den Rauch aus dem offenen Fenster. »Mann, Lena, erschrick mich doch nicht so!« Ich verkneife mir die Bemerkung, dass Rauchen auf der ITS zu den Kapitalverbrechen zählt und stelle mich neben sie.
»Konntest du mit Paula sprechen?«
Sie schüttelt den Kopf. »Ich konnte ZU ihr sprechen, sie redet aber nicht mit mir.«
»Sie ist schwach«, tröste ich. »Warte ein paar Tage!«
Jenny schnaubt. »Ich hab mal wieder alles verbockt, oder?«
»Geh heute Abend wieder hin«, ist alles, was mir einfällt. »Und rauch nicht auf der ITS, sonst schmeißen sie dich raus.«
Zurück auf der Chirurgie nimmt Jenny bedrückt ihre Patienten-Runde auf, sie hat ja versprochen, die Besuchszeit bei Paula von der Mittagspause abzuziehen. Isa ist ebenfalls hiergeblieben, sie bereitet sich auf die Ileozökalresektion am Nachmittag vor und ist schon wieder voll im Lerneifer. Ich erbiete mich großzügig, meinen Freundinnen eine Grundverpflegung aus der Cafeteria mitzubringen, doch beide lehnen ab. »Ich bin zu nervös, um zu essen«, sagt Isa. »Und ich bin zu schlecht gelaunt«, ergänzt Jenny. Ich gehe also allein.
Tobias ist nicht da, aber Ruben gibt sich alle Mühe, meinen Aufenthalt an seinem Tresen hinauszuzögern – er nimmt alle anderen vor mir dran, bis wir allein an seiner Theke sind. »Pass ein bisschen auf, Lena!«, sagt er leise, als er mir endlich ein Sandwich zurechtschneidet. »In letzter Zeit herrscht hier ein gesteigertes Interesse daran, wer wem zu tief in die Augen schaut …« Ich sehe ihn perplex an. Was habe ich denn getan?! »Du erscheinst jeden Tag mit einem Schäfchenblick – und ein gewisser Oberarzt, der vorher nur einmal im Monat Zeit zum Mittagessen fand, kommt plötzlich regelmäßig her und sitzt stundenlang herum. Glaubst du nicht, dass das auffällt?«
Ich beiße hastig in mein Sandwich, entschlossen, sofort wieder zu gehen. Ruben lächelt leicht. »Du willst beides, die Liebe und den Beruf. Aber sei vorsichtig, mein lieber Spiderman, wenn du versuchst, heimlich beides zu haben. Denn falls der Gnorm darauf kommt, wird er dich vernichten.« Bei Spiderman gibt es keinen Gnorm. Aber dieser Einwand prallt an Ruben ab.
»Wenn deine Sache rauskommt, wird es größere Konsequenzen haben als nur ein paar Tage OP-Sperre«, sagt er leise. »Und verlass dich drauf, wenn jemand DAS sieht, geht er nicht nur zu deiner Oberärztin, sondern gleich zum Chef.«
»Meinst du Jenny?«, frage ich überrascht. »Heißt das, es hat sie doch jemand verpetzt?«
Ruben lacht. »Deine Oberärztin ist doch nicht der Typ, der den PJlern nachspioniert. Und wenn sie selbst Jenny erwischt hätte, hätte sie gleich an Ort und Stelle ein Fass aufgemacht. Wahrscheinlich wäre es dann nicht mal so schlimm gewesen. Aber wer es ihr hinterhergetragen hat, hat wohl noch einiges dazuerfunden …«
»Aber WER?«, frage ich aufgebracht.
Ruben zuckt mit den Schultern. »Pass einfach auf.«
Bevor ich zur Inquisition schreiten kann – ich bin sicher, dass er einen konkreten Verdacht hat – kommt eine ganze Riege Schwestern an den Tresen. Ich verdrücke mich, meine Pause ist längst um. Auf dem Gang gehe ich so langsam wie nur möglich an Tobias’ Büro vorbei, doch die Tür ist geschlossen. Ich bleibe nur kurz stehen, dann wende ich mich entschlossen dem Aufzug zu. Erstens, weil wir ja bereits verabredet sind. Und zweitens, weil Rubens Warnung so nachdrücklich war, dass ich es mich einfach nicht traue, noch ein weiteres Mal über den Gang zu schleichen.
Kurz bevor sich die Fahrstuhltür schließt, springt Schwester Jana zu mir in den Aufzug. »Na, Mäuschen?«, lacht sie. »Ein fescher Kerl, dieser Koch, was?«
Und weil sie so neugierig dreinschaut und ich schon gestern Abend so ein komisches Gefühl hatte, erlaube ich dem kleinen Teufel in mir, zu antworten: »Triff dich nur ja nicht während der Dienstzeit mit ihm – nicht dass dich auch noch jemand verpetzt!«
Isa fehlt bei der Nachmittagsvisite, die OP der Morbus-Crohn-Patientin hat gerade angefangen. Sabrina hingegen nimmt noch an der Runde teil, aber sie erwähnt jetzt schon wichtig, dass sie eher verschwindet, weil sie ja heute Nachmittag zu einer 3-Stunden-OP eingeteilt ist. Bin ich gemein, wenn ich jetzt schon voraussage, wie sie sich nachher brüsten wird? Dr. Gode gesteht der Patientin Zietler den von mir versprochenen kurzen Spaziergang zu, ihre Augen leuchten. Professor Dehmel hat sich inzwischen in seinem Zimmer eingerichtet und der Stationsarzt erteilt mir bei der Visite gleich das Wort. »Ihr Patient«, sagt er und ich höre die anderen PJler tuscheln.
Ich versuche mich auf die Beschreibung der anstehenden vorbereitenden Untersuchungen zu konzentrieren. Warum sehen die sich so komisch an? Habe ich irgendetwas Falsches aufgezählt? Stimmte die Reihenfolge? Wenn mir ein Fehler unterlaufen wäre, würde Dr. Gode mich doch wohl darauf aufmerksam machen?! Aber er nickt nur und macht sich Notizen. Ich merke, dass ich ins Stottern gerate. Was ist denn nur los?!
Auch Dr. Gode scheint schließlich zu merken, dass die Aufmerksamkeit der PJler-Riege irgendwie abgelenkt ist. Er lässt den Stift sinken und sieht die anderen eindringlich an. »Frau Weissenbach ist eine äußerst engagierte und vielversprechende Kollegin.« Wie bitte? Worum geht es denn hier? Er bedeutet mir mit einer schnellen Handbewegung, fortzufahren. Ich bringe den Bericht, so gut ich kann, zu Ende und schaffe auch noch eine freundliche Verabschiedung von Professor Dehmel, doch die ganze Zeit kreiselt das Gedankenkarussell in meinem Kopf wie im Sturm. Was haben die denn?
Auf dem Flur vor dem Krankenzimmer versammelt Dr. Gode die PJler um sich. »Bevor wir weitergehen«, sagt er knapp in die Runde, »wäre es nett, wenn Sie Ihre Bedenken mit uns teilen würden.« Verlegenes Schweigen. Ich weiß immer noch nicht, worum es geht. »Na dann«, sagt Dr. Gode etwas geringschätzig, »melden sich doch jetzt mal alle, die NICHT versucht hätten, sich eine Bypass-OP zu schnappen!«
WAS?! Ich hab nicht … An die OP habe ich doch gar nicht gedacht! Das Schweigen ringsum macht deutlich, dass alle anderen sehr wohl daran gedacht haben. Keiner meldet sich, so anständig sind sie immerhin. Ich räuspere mich, ich MUSS etwas dazu sagen. »Ich habe Professor Dehmel aufgenommen und wir haben uns gut verstanden …«, beginne ich zaghaft. Aber, Moment, Lena, willst du dich jetzt etwa entschuldigen?! Warum so bescheiden? »Wer bei der OP assistieren darf, entscheidet am Ende sowieso Dr. Thiersch«, sage ich und hoffe, dass es sich nicht beleidigt anhört.
»Du musst schon entschuldigen«, sagt Sabrina und ihre verständnisheischende Stimme klingt falsch. »Aber es wirkt doch ein wenig wie übertriebener Ehrgeiz. Eine Bypass-OP, nachdem man schon bei einem Blinddarmeingriff ohnmächtig geworden ist …« Dr. Gode holt Luft – aber ich kann doch nicht zulassen, dass er jetzt für mich in die Bresche springt, das würde ja erst recht nach unverdienter Bevorteilung aussehen! Ich muss selbst auf diese Unverschämtheit antworten, bevor er es tut! Nur wie?
Wir kommen beide nicht zu Wort. Denn ehe ich eine Entgegnung zurechtformuliert habe, tritt Jenny nach vorn und funkelt Sabrina Furcht einflößend an. »Jetzt könnte noch mal aufzeigen, wen noch nie bei einer OP die Kraft oder die Nerven verlassen haben«, faucht sie in die Runde. Die anderen ziehen Gesichter, aber sie schweigen. Nur Ernie, immer etwas langsamer, hebt die Hand. »Verpfeif dich, du Lackaffe«, faucht Jenny. »Und ich wünsche dir, dass du bei den nächsten fünf OPs jedes Mal auf den Tisch kotzt.« Ernie starrt sie sprachlos an, aber er lässt die Hand sinken. Ja, das kann meine schöne Freundin hervorragend: Ihre Mischung aus engelsgleichem Erscheinungsbild und derbem Mundwerk hat schon ganz andere eingeschüchtert.
Endlich schreitet Dr. Gode ein. »Das reicht jetzt«, sagt er entschieden und winkt uns harsch zum nächsten Krankenzimmer. Ich bin immer noch ganz benommen. Sind wir so? Sollen wir so sein? Ich fühle mich grauenhaft.
Dr. Gode hält mich an der Zimmertür zurück. »Dass Sie sich nicht aus Profilierungssucht bewerben, ehrt Sie«, sagt er leise und ernsthaft. »Aber ich habe Ihnen den Patienten genau deshalb zugeteilt. Damit Sie sich beweisen können.« Ist es ein Wunder, dass ich dem Rest der Visite nicht mehr mit voller Konzentration folgen kann?!
Ich mache mir den Nachmittag über so viel wie möglich zu tun und übernehme ein paar Extraaufgaben. Lieber dem Hirn nicht allzu viel Auslauf lassen! Als Professor Dehmel das Belastungs-EKG und den Lungenfunktionstest überstanden hat und ich sogar noch einige Minuten mit Frau Zietlers Mann verbracht habe, um ihn über die Entlassungsaussichten seiner Frau aufzuklären, ist es immer noch nicht sieben. Schwester Jana fragt, warum ich nicht nach Hause gehe. Jenny muss sicher eine Weile nacharbeiten und Isas OP dauert wohl auch noch. »Geh doch schon mal vor, Mäuschen, und ruh dich aus«, sagt sie mütterlich. »Oder worauf wartest du?« Irgendwie traue ich ihr nicht mehr. Ich wünsche einen schönen Feierabend und verlasse die Station.
Im Treppenhaus lehnt ein großer blonder Junge an der Wand. Felix. »Na endlich«, seufzt er, »ich warte seit einer halben Stunde!« Leider muss ich ihm die Hoffnung nehmen, Jenny kommt frühestens in einer Stunde – und ist vielleicht nicht allzu begeistert, wenn er hier herumlungert. Felix lacht. »Nach Dienstschluss kann es doch allen schnurzegal sein, ob wir uns treffen! Ich finde eher, wir sollten jetzt gerade oft hier rumknutschen!« Ich muss lachen, eigentlich entspricht das wohl auch Jennys Haltung. »Ist es nicht entsetzlich ungerecht?!«, empört sich Felix. »Als wäre Jenny pflichtvergessen! Dabei sitzt sie jeden zweiten Abend daheim und lernt!«
Ups. Fast wäre mir ein ungläubiges »Wer sagt das denn?« entschlüpft, ich kann mich gerade noch bremsen. Denn natürlich sagt das Jenny. Und der Laborassistent sollte nicht erfahren, dass sie jeden zweiten Abend genauso ungehemmt ausgeht – nur mit Björn statt mit ihm. Bevor ich einen blöden Fehler mache, lasse ich ihn stehen. Aber es ist immer noch erst zwanzig vor sieben und draußen liegt Schnee. Ein Feierabendkaffee bei Ruben könnte die Zeit wie im Fluge vergehen lassen – und vielleicht finde ich dann auch raus, was er mir beim Mittagessen nicht verraten hat?
Auf dem Weg zur Cafeteria komme ich am Durchgang zur ITS vorbei. Schade um den Feierabendkaffee.
In Paulas Zimmer ist es still, aber sie ist wach. Ich setze mich zu ihr. Noch auf dem Gang waren alle Worte da, entschlossene Worte, absolut deutliche. Doch dieser schmalen Frau kann ich sie nicht entgegenschleudern, so verletzlich wirkt sie hier, so dünnhäutig.
»Jenny macht sich Vorwürfe«, beginne ich endlich.
Paula sieht mich an. »Ich hatte solche Angst … Jenny hat es geschafft …« Das Sprechen fällt ihr schrecklich schwer. Ich weiß, was sie sagen will. An Jennys Seite fühlt man sich irgendwie unbesiegbar. »Im Stich gelassen …«, sagt Paula. Und jetzt kommen doch all die zurechtgelegten Worte zurück.
»Jenny hat Sie gern«, sage ich laut, »ihr war nichts wichtiger, als bei Ihnen zu sein, für Sie da zu sein. Sie kann nichts dafür, dass sie von Ihrer OP abgezogen wurde! Hätte sie gewusst, dass das passieren kann …« Ich bin fast versucht, noch einmal Isas Bild von der Nonnenwerdung zu bemühen. »Es ist absolut nicht gerecht, dass Sie sie jetzt auch noch bestrafen. Als wäre es nicht Strafe genug, dass sie Ihnen nicht beistehen durfte. Und ich schwöre, sie war jeden Moment für Sie da, hat hier auf Sie gewartet. Anteilnehmender und mitfühlender hätte sie im OP auch nicht sein können.« Paula nickt endlich. »Wenn sie nachher zu Ihnen kommt, reden Sie mit ihr!«, verlange ich. »Sie ist nämlich die beste Freundin, die man haben kann.«
Irre ich mich oder lächelt Paula ein bisschen? Sie hebt die Hand einen Zentimeter und deutet auf das Schlauchgewirr. »Reden ist noch schlecht«, haucht sie.
Ich muss grinsen, schüttle den Kopf. »Für eine Entschuldigung wird es schon reichen.«
Eine Schwester steckt den Kopf zur Tür herein und sieht mich missbilligend an. »Sagen Sie mal, geht’s Ihnen noch gut?!«, meckert sie mich an. »Zicken Sie hier meine Patienten an? Die Frau muss sich schonen!« Ich sehe sie erschrocken an. Doch Paula hebt die Hand noch einen Zentimeter in Richtung Schwester und sagt: »Halten Sie doch die Klappe!« Die Schwester schließt empört die Tür, wahrscheinlich geht sie einen Arzt holen. Ich lächle Paula an. »Glückwunsch«, sage ich leise, aber ich muss lachen. »Der erste vollständige Satz – und gleich eine volle Breitseite! Sie sind garantiert schnell wieder ganz die Alte.« Paula sieht sehr zufrieden aus. Und ich verkrümele mich schnell, eh der Arzt kommt und mich völlig zu Recht runterputzt.
Inzwischen ist es schon fünf nach sieben, ich stürme in den Umkleideraum. Isa ist gerade fertig, sie wirkt erschöpft aber glücklich, hüllt sich ganz langsam in ihre Jacke. »Geschafft!«, haucht sie. »Über zwei Stunden! Aber ich habe es wieder ohne Zwischenfälle überstanden, obwohl alles drunter und drüber ging.« Stolz und immer noch außer Atem fasst sie in typischer Isa-Manier die OP zusammen; ich weiß, dass sie sich jetzt alles noch einmal aus dem Kopf reden muss und erwähne nicht, dass ich in romantischer Eile bin. Während der OP hat sich herausgestellt, dass eine Laparoskopie nicht durchführbar war; der Chirurg hatte bei der Schlüssellochtechnik zu schlechte Sicht, spontan wurde das Verfahren geändert und offen operiert. Isa durfte Haken halten, spülen und die Haut zunähen. »Supereklig«, gesteht sie. »Als wir das betroffene Stück rausgenommen und aufgeschnitten haben, um es zu untersuchen, dachte ich kurz, ich schaffe es nicht. Ich habe versucht, nur an das Schema zu denken und zwischendurch habe ich die Instrumente durchgezählt, als würde ich darin abgefragt. Dann ging es.« Sie ist immer noch ganz aufgeregt. Ich mache ihr die Freude, beeindruckt ihre Haltung zu loben, und erkläre, dass ich garantiert wieder in Ohnmacht gefallen wäre. Sie winkt ab. So viel Lob will sie dann doch nicht. »Weißt du, Lena, es gibt so viel Schwierigeres. Ich möchte lieber noch dreizehn solcher Resektionen überstehen, als selbst der Patient zu sein.« Ich nicke. »Oder mit Tom zu reden …«, fügt sie leise hinzu.
»Hast du ihn heute schon gesprochen?«
Isa schüttelt den Kopf. »Ich fahre gleich zu ihm. Wir haben doch nur noch so wenig Zeit … Wäre es nicht idiotisch, die mit Streit und Gerede zu vergeuden?!«
Ich gebe ihr recht. Und endlich kommt sie auf den Gedanken, dass auch ich keine Zeit zu verlieren habe. Sie sieht zur Uhr und packt mich am Arm. »Du bist wirklich eine wunderbare Freundin«, lacht sie. »Stehst hier rum und hörst dir meine Darmresektions-Geschichten an, während dein Tobias ungeduldig um sein Auto spaziert!« Endlich verlassen wir den Umkleideraum, es ist fast halb acht.
»Lena, wenn du das Gefühl hast, zu wenig Zeit mit deinen Freundinnen zu verbringen, verstehe ich das«, sagt Tobias, als wir durch die schneevermatschte Stadt fahren. »Ich möchte nicht, dass du dich einschränkst, nur weil ich mich nicht mit den beiden treffen kann.« Ich nicke. Aber so ist es doch! Wir können ja nichts zu viert unternehmen! Fehlt nur noch, dass er sagt, dass wir uns ja nicht jeden Abend sehen müssen. »Was möchtest du? Soll ich dich heimbringen?«, fragt er.
Ich bin hin- und hergerissen. Wir haben uns schon gestern nicht gesehen, er hat mir so gefehlt. Aber wird Isa mich nicht brauchen, wenn ihr Gespräch mit Tom wieder so schiefläuft? Wie geht es meiner Freundin Jenny, die immer für mich da ist?
»Ich weiß es nicht«, sage ich leise. Er lächelt mich an, nimmt meine Hand. »Schrecklich kompliziert, was?« Na, das ist ja noch milde ausgedrückt, Herr Oberarzt.
Das Auto biegt um die Ecke, wir passieren den kleinen Park hinter dem Krankenhaus. Zwei Menschen gehen ganz langsam nebeneinander her, er stützt sie, sie lehnt sich an ihn an. Anna Zietler und ihr Mann machen ihren Schneespaziergang. Morgen, Isa, gelobe ich stumm in den Abendhimmel, morgen, Jenny, versprochen. Jetzt aber, heute, möchte ich genau das.
Tobias kocht so gewissenhaft, wie er Medikamente verschreibt. Ich finde es wunderschön, kleine Dinge über ihn herauszufinden. Vielleicht liegt das daran, dass er so wenig Privates erzählt, dass mir gar nichts anderes übrig bleibt, als ihn zu beobachten. Ich sehe zu, wie er Tomaten ohne hinzusehen in genau gleich große Teile zerschneidet, und finde es bezaubernd. Er wirft Blätter in die Soße, probiert, runzelt die Stirn, wirft noch ein paar hinterher, kostet wieder und nickt. Ich habe ihn mit demselben Stirnrunzeln Patientenberichte lesen sehen, nachdenklich nicken, eine Medikamentendosis heraufsetzen. Ich darf ihm nicht helfen, also habe ich es mir an seinem Küchentresen gemütlich gemacht, er stellt mir ein Glas Wein hin und ich fühle mich beneidenswert erwachsen. Hier geht es nicht um Beeindrucken, Darstellen, Abschätzen, hier ist alles ganz vertraut.
»Erzähl ein bisschen!«, sagt er. Ich beginne bei Isa und Jenny, rede von meinen Patienten, der OP-Vergabe-Praxis, die wir alle nicht durchschauen, und meinem unbeabsichtigten neuen Biest-Ruf. Tobias glaubt mir, dass ich mir nie einen Patienten krallen würde, um eine besondere OP zu bekommen, aber er lächelt ein wenig und erklärt, was ich Anständigkeit nenne, könnte bei anderen als Naivität durchgehen. Ich überlege kurz, ob ich gekränkt sein sollte. Aber er sieht mich ernst an und sagt: »Lass dir das nicht wieder wegnehmen, Lena! Lass dir nicht einreden, jemand anders könnte es besser oder habe es mehr verdient. Du wirst keine gute Ärztin, wenn du zu bescheiden bist.« Der kleine beleidigte Teufel, der das Wort »Naivität« übel nehmen wollte, kriecht beschämt in seine Höhle zurück.
Das Essen ist richtig gut. Damit habe ich nicht gerechnet. Aber mein Kompliment winkt Tobias beiseite und behauptet, er könne genau dieses eine Gericht. War ihm das jetzt unangenehm? Irgendwie kenne ich mich doch immer noch nicht richtig aus bei ihm.
»Was möchtest du?«, fragt er nach dem Essen.
Ich weiß nicht, was sagt man denn da? Will er wissen, ob ich hier übernachte? Das weiß ich doch selbst noch nicht … Er wartet, ich überlege, und kurz bevor es seltsam wird, fragt jemand mit meiner Stimme: »Können wir den Kamin anmachen?«
Tobias lacht. »Ehrlich gesagt, der war noch nie an. Aber versuchen können wir’s.« Das kann ich ja wohl nicht glauben! Hat einen riesigen Kamin im Wohnzimmer und ihn noch nie benutzt?!
»Seit wann wohnst du hier?«, frage ich. Er zuckt die Achseln. »Vier Jahre?«
»Du spinnst, Herr Oberarzt!«, antworte ich fassungslos.
Es gibt selbstverständlich kein Feuerholz in dieser Wohnung und Tobias’ Bereitschaft, noch einmal loszufahren, hält sich – ebenfalls verständlich – ziemlich in Grenzen. Aber ich wünsche mir das Feuer einfach dreist als Gegenleistung für die Rückgabe der Thermotasse, die immer noch in meiner Handtasche vergraben ist.
»Dir werde ich wohl nie wieder etwas leihen können!«, seufzt Tobias, aber er zieht seine Jacke wieder an. Und der gemeinsame Spaziergang durch den Restschneematsch zur Tankstelle ist fast ebenso schön wie das Feuer, das wir später in mehreren Anläufen und mit heftiger Rauchentwicklung in Gang setzen. Als es endlich brennt, ist das Zimmer ziemlich verqualmt, aber ich will nicht klein beigeben und bin entschlossen, das Feuer schön zu finden und zu verteidigen, bis ich blau anlaufe.
»Deine Tapferkeit ist entzückend, Lena«, sagt Tobias irgendwann, »aber so geht es nicht. Ich will dich nicht grau und japsend hier raustragen müssen.« Er öffnet das Fenster, ich bin enttäuscht.
»Da will man einmal im Leben romantisch am Feuer sitzen …«, jammere ich bemüht kläglich vor mich hin.
Tobias sieht mich an und seufzt. »Na gut, du trauriges Entlein«, sagt er lieb und verschwindet im Schlafzimmer – um kurz darauf sein gesamtes schickgraues Bettzeug auf dem Boden vor dem Kamin auszubreiten. Den Rest des Abends sitzen wir in dem Deckenberg vor dem offenen Feuer, während die kalte Schneeluft zum Fenster hereinströmt. Eine seltsame Mischung aus Dekadenz und Lagerfeuerromantik, wundervoll. Die ganze Stadt ist im Laufe des Tages grau und vermatscht geworden, doch auf dem Balkon vor unserem Lager strahlt der Schnee noch unberührt weiß.