Am Samstag erwache ich mit einer unfassbaren Sehnsucht. Die Aussicht, Tobias zwei Tage nicht zu sehen, nimmt mir jede Lust darauf, aufzustehen und den Tag zu beginnen. Ich sehe auf meinen kleinen Wecker, es ist erst sechs Uhr. Weil ich deprimierte Gefühle immer am besten loswerde, indem ich mich in Aktionen stürze, beschließe ich, aufzustehen und für meine Freundinnen ein riesiges Frühstück zu zaubern. Das könnte mich bis zehn beschäftigen. Wenn ich dann noch großzügig das Aufräumen übernehme, ist der halbe Samstag überstanden. Dann lerne ich einfach durch bis Sonntagabend, das hat noch keinem geschadet und nutzt vielleicht bei der Überwindung meines Dr.-Thiersch-Problems. Erst als ich den Plan fertig habe, meldet sich der Kopf-Teufel und fragt, ob ich spinne. Ich werde mir doch das sauer verdiente Wochenende nicht mit Arbeit und Beschäftigungstherapien füllen, nur weil ich IHN nicht sehen kann. Da kannst du dich ja gleich vor seinem Büro anketten, Lena! Den kurzen Tagtraum darüber, dass das gar nicht SO SCHLIMM wäre, weil ich ihn dann zweimal am Tag sehen und jederzeit mit ihm sprechen könnte, kickt der Teufel mit einem harschen Fußtritt beiseite. »Jetzt genießt du dein Wochenende und trauerst ihm nicht hinterher!«, befiehlt er. »Es gibt andere, tausendmal bessere Wege, ein Wochenende schnell und ohne Sehnsucht hinter sich zu bringen.« Und weil ich den Teufel ohnehin höchstens am Wochenende zu Wort kommen lasse, beschließe ich, ihm seinen Willen zu lassen und wenigstens den Aufräumplan zu canceln. Aber ein Luxusfrühstück haben sich meine Freundinnen doch wohl trotzdem verdient.
In der Küche brennt bereits Licht. Tom ist schon auf, er hat sich Kaffee gekocht und liest eine Zeitung. Die Süddeutsche, na klar! Da sind wir wieder.
Tom ist jemand, vor dem man sich in keinem Schlafanzug der Welt genieren muss, deshalb setze ich mich einfach zu ihm. (Wahrscheinlich bemerkt er nicht mal, dass ich noch nicht richtig angezogen bin.) Er schenkt mir Kaffee ein, plötzlich herrscht eine heimelige, vertraute Früh-Morgen-Stimmung. Ich verdränge das Sehnsuchtsmädchen, das kurz davon träumen möchte, wie es wäre, wenn ein anderer Mann mir jetzt eine silberne Kaffeetasse hinstellen würde. Vielleicht auch, weil es in meinem Kopf kein Bild dafür gibt, wie wohl Tobias im Schlafoutfit aussehen könnte. Ob ich das irgendwann rausfinde? Schluss, Lena! Stattdessen ergreife ich die Gelegenheit, mit Tom über seine Pläne zu sprechen. Er zeigt mir die Wohnungen, die er im Immobilienteil angekreuzt hat, und will meine Meinung dazu hören, welcher Münchener Stadtteil wohl erschwinglich und trotzdem cool ist. Mich aber interessiert eine andere Frage weit mehr: »Was wird mit Isa?« Tom sieht mich irritiert an. Und dann antwortet er, als sei es das Natürlichste von der Welt: »Na, ich nehme sie mit.«
Nein! Keiner nimmt mir meine süße Isa weg, das kommt absolut niemals infrage! Tom benimmt sich, als sei es eine Selbstverständlichkeit, dass Isa sein neues Leben teilt. Was wird aus uns, was wird aus Isas PJ, hat er sie wirklich gefragt, ob sie schon ein halbes Jahr nach ihrem Umzug nach Berlin wieder in einer anderen Stadt neu anfangen möchte?
Tom lächelt und setzt noch einen drauf. »Ist doch klar, dass wir zusammenbleiben. Meinst du, ich sollte sie einfach jetzt schon heiraten?« Und nicht mal das ist als Scherz gemeint! Mann, warum habe ich keinen Freund wie Tom, einen, für den alles so klar ist? Aber, Manno: Ist das sein Ernst, dass er uns Isa entführen will?!
Ich bringe nicht viel mehr heraus, als dass er dringend mit Isa über seine Pläne sprechen sollte, und er verspricht mir, das Wochenende dafür zu nutzen. Doch beim Frühstück sitze ich Isa gegenüber und denke bei jedem Lächeln und jedem ihrer kleinen umsichtigen Handgriffe, wie es wohl sein wird, wenn sie nicht mehr hier ist, sich ein bisschen für ihr Nachthemd schämt und uns zwischen zwei Nutellabrotbissen über ihre Anatomie-Lernfortschritte aufklärt. Vielleicht bin ich heute einfach generalsentimental.
»Ist irgendwas Blödes passiert?«, fragt sie lieb, als sie mir Kaffee nachschenkt.
Nein, Isa, es werden nur großartige Dinge passieren. Du wirst mit dem Mann zusammenziehen, den du liebst, ihr werdet gemeinsam ein tolles Abenteuer erleben und eine neue Stadt erobern. Du wirst vielleicht sogar heiraten. Nur ich werde dich schrecklich vermissen. Leider weißt du von all dem noch nichts und ich werde den Teufel tun und dir deinen Heiratsantrag versauen, indem ich ihn hier vor allen herausposaune, bevor Tom überhaupt einen Ring ausgesucht hat. Ich schüttle also nur den Kopf. »Alles in Ordnung.« Und Isa schmiert mir ein Nutellabrot und sagt: »Du siehst ihn ja übermorgen.«
Am Samstagabend führt Tom Isa zum Essen aus – und da ich weiß, was er besprechen möchte, fällt es mir sehr schwer, nichts zu sagen, als Isa mir ihr Kleid vorführt und fragt, ob es nicht zu schick ist. Ich reiße mich zusammen und entgegne nur, dass für ein romantisches Essen NICHTS übertrieben ist. Zumindest nichts, was sich in Isas Kleiderschrank finden könnte.
»Du hast recht«, lächelt sie traurig, »in Zukunft haben wir wohl wenig Gelegenheiten, gemeinsam auszugehen. Also soll er sich doch so schön an mich erinnern, wie es nur geht, bevor all die schicken Münchnerinnen über ihn herfallen.« Ach, Isa, bald bist du vielleicht selbst eine schicke Münchnerin!
Jenny verschwindet im Bad, um sich für einen Abend mit Björn aufzustylen, und über mir schwappt das Selbstmitleid zusammen. Vielleicht starte ich doch mein Lernprogramm. Oder habe ich nicht irgendwas in der Klinik vergessen, das ich GANZ DRINGEND brauche? Wäre es zu erbärmlich, mit dem Buch, das man unbedingt zum Lernen braucht, zur Klinik zu fahren, es dort für eine Sekunde in den Spind zu legen und dann wieder mitzunehmen – nur, um einen Vorwand zu haben, einmal über den Gang zu gehen? Bevor ich mich zu dieser Sehnsuchts-Ausrede hinreißen lasse, öffnet Jenny die Badtür und schreit: »Zieh dir einen Fummel an, Liebes, wir werden sicher fotografiert wie nicht gescheit!«
Ach, wenn ich Jenny nicht hätte! Überzeugt davon, dass NIEMAND am Samstagabend daheim sitzen sollte, solange in dieser Stadt auch nur ein Puppentheater geboten wird, hat sie mich kurz entschlossen und ungefragt in ihre Abendgestaltung eingebunden. Björn nimmt Jenny auf einen eleganten Empfang mit und sie hat bestimmt, dass auch mein Name auf der Gästeliste stehen muss. Ich habe kurz Skrupel; will ich wirklich der Dritte in einer Paarunternehmung sein? Und was zur Hölle meint Jenny mit »wir werden fotografiert wie nicht gescheit«?
»Du wirst doch wohl nicht hier sitzen bleiben, nur weil ein gewisser Oberarzt nicht verfügbar ist! Amüsier dich, Mädchen!«, sagt Jenny und trifft genau den Tonfall meines Kopfteufelchens. Ihrer von der Make-up-Perfektionierung etwas abgelenkten Kurzzusammenfassung entnehme ich, dass es sich um das Jubiläum einer exklusiven Zeitschrift handelt. Alles, was Rang und Namen hat, wird sich blicken lassen – und sei es nur, um am roten Teppich fotografiert zu werden und ein paar Häppchen abzugreifen. Was Björn mit der Zeitschrift zu tun hat oder wen er in diesem Umfeld berät oder als Kunden gewinnen möchte, ist Jenny nicht klar, interessiert sie aber auch nicht. »Hauptsache, es gibt Musik und Champagner«, lacht sie, »und ich darf mit. Wir werden es uns schon schön machen.«
»Ich kenne die Zeitung gar nicht, ich kann überhaupt nichts dazu sagen«, wende ich ein. Jenny grinst. »Na und? Sekt trinken können wir dafür umso besser!«
Also füge ich mich und lasse mir mal wieder ein Styling verpassen, das in Lübeck mindestens für eine Opernpremiere genügt hätte (gäbe es denn eine Oper in Lübeck), in Berlin aber – glaubt man Jenny – gerade so ausreicht.
Eine halbe Stunde später verlassen wir in Jennys neusten und schicksten Kleidern das Haus. Björn holt uns mit dem Taxi ab und wenn es ihm ungelegen kam, dass ich aus dem Pärchenabend eine Triangel mache, so lässt er es sich nicht anmerken.
In der Nähe des Potsdamer Platzes fahren wir an einem roten Teppich vor. Schon aus dem Fenster sehe ich, wie sich Fotografen in Stellung bringen. Ach du meine Güte, so was habe ich noch nie gemacht!
»Keine Sorge!« Björn hat meine Aufregung gespürt. »Wenn sie merken, dass es nur wir sind, gehen die ganz schnell wieder weg.«
Jenny wirft die Haare zurück. »Nicht, wenn ICH aussteige!«
Ich habe ein bisschen Angst, dass sie wieder eine große Show abziehen wird, in die ich unfreiwillig mit hineingezogen werde, doch nun ist es auch zu spät. Björn öffnet uns die Tür und Jenny entsteigt dem Wagen wie eine Meerjungfrau. Sie lächelt in die Runde, dreht sich ein bisschen – und das Blitzlichtgewitter richtet sich auf sie. Klar, wenn ich hier Fotograf wäre, würde ich wohl auch eher glauben, dass meine Societybildung gerade versagt, als dass diese Frau nicht der Mittelpunkt des Abends sein müsste. Sie knipsen wie verrückt drauflos. Das wird eine schöne Enttäuschung, wenn sie heute Nacht feststellen, dass sie eine halbe Festplatte an Bilder von einer Frau verschwendet haben, die überhaupt niemand kennt. Jennys großer Auftritt gibt mir jedenfalls Gelegenheit, in ihrem Rücken relativ unbemerkt aus dem Taxi zu klettern. Björn bietet mir seinen Arm an, sieht lächelnd zu Jenny und sagt: »Lass uns schon mal vorgehen, Lena. Bis sie hier fertig ist, können wir das halbe Buffet verdrückt haben.« Er lotst mich an den Fotografen vorbei in das Gebäude, wo ein riesiger Sicherheitsmann unsere Namen mit einer Liste abgleicht. Auch er ist nur halbherzig bei der Sache, denn gleichzeitig beobachtet er meine Freundin, die sich vor den Kameras dreht. Sein Kollege wirft ihm ein Stirnrunzeln zu – aha, er weiß auch nicht, wer das ist. Mich zwickt das Teufelchen und ich sage mit Verschwörerstimme zu ihm: »Wenn Sie sich ein Autogramm geben lassen, können Sie sich bei eBay einen ordentlichen Zuschuss verdienen.«
Björn führt mich nach drinnen, alles ist sehr elegant, Cover der mir unbekannten Zeitschrift schmücken in enormer Vergrößerung die Wände und mindestens zehn superhübsche Hostessen stürzen sich auf uns, um uns die Mäntel abzunehmen und Gläser in die Hand zu drücken. Ich werfe einen letzten Blick nach draußen und bereue ein bisschen, dass ich nicht Jennys Dreistigkeit besitze. Denn es ist ja eher unwahrscheinlich, dass irgendwann in meinem Leben der Moment kommt, in dem ich zu Recht ein solches Blitzlichtgewitter auslöse – und da wäre es vielleicht schön gewesen, das Erlebnis mitzunehmen, wenn es sich nun mal so anbietet.
Jenny kommt eine Minute später zu uns; sie strahlt mit roten Ohren und berichtet kichernd, dass sie am Einlass von einem schüchternen Riesen um ein Autogramm gebeten wurde. »Schau morgen mal ins Internet«, grinse ich ihr zu, »dann kannst du es bei eBay kaufen.«
Björn verbringt den Abend mit Kundenakquise, während Jenny und ich es uns einfach gut gehen lassen. Es gibt eine Show, ziemlich leckeres Essen und wir bekommen tatsächlich den ein oder anderen VIP zu sehen. Den ganzen Abend wird fröhlich weiterfotografiert, endlich traue auch ich mich, ein bisschen so zu tun, als wäre ich ein berechtigtes Motiv. Mein persönliches Highlight bietet ein etwas gealterter Schauspieler, den ich überrasche, als er sich gerade aus dem Damenklo schleicht. Ich gebe zu, dass ich noch einen Moment stehen bleibe, um zu sehen, ob eine Dame hinterherschleicht – und wenn ja, welche –, aber nach fünf Minuten komme ich mir blöd vor und gebe auf. Wer weiß, was er dort drin gemacht hat.
»Welcher?«, fragt Jenny laut und begeistert, als ich ihr von meiner Entdeckung berichte. Oh Mann, ich weiß doch eigentlich, dass man ihr manche Dinge erst mit Abstand erzählen darf! Ich behaupte lieber eilig, ich könne den Mann nicht mehr finden – und verhindere damit vielleicht einen Skandal …
Gegen eins, nach reichlich Champagner und der etwas zähen Gesangseinlage eines Frauenduos, beginnt Jenny sich langsam zu langweilen. »Entweder wir singen jetzt auch oder wir verlassen die Party allmählich«, sagt sie und ich beschließe, dass dann ein sauberer Abgang auf jeden Fall die bessere Alternative ist. Björn wirkt schwer beschäftigt, Jenny wirft ihm eine Kusshand zu und wir stöckeln hinaus. Zum Abschied gibt es keine Fotografen; die sind wohl schon in ihre Redaktionen gehetzt und stellen gerade kopfschüttelnd fest, dass sie sich heute bei der Motivauswahl irgendwie von einem falschen Bauchgefühl leiten ließen. Dafür stehen wieder die Hostessen parat und überreichen uns Geschenkbeutelchen. Der Sicherheitsriese winkt ein Auto heran, diesmal kein schnödes Taxi, sondern einen großen, schwarzen Wagen, und wir steigen ein. Jenny würde gern noch zu einer Party fahren, da mir aber in ihren High Heels mächtig die Füße schmerzen, lässt sie sich überreden, mich vorher daheim abzusetzen.
Der Fahrer ist leicht überrascht, als Jenny ihm erklärt, dass wir nicht nur um die Ecke zum Ritz-Carlton fahren wollen, sondern nach Ostberlin in eine kleine, etwas schäbige Straße. Doch da auch er nicht weiß, wen er geladen hat – oder einfach gut erzogen ist – chauffiert er uns bis zu unserer Wohnung.
Schon im Auto plündern wir die Geschenktütchen. Herrlich! Die neuste Ausgabe der gefeierten Zeitschrift habe ich ja erwartet, nicht aber die Süßigkeiten und Kosmetik-Teilchen. Ich fördere eine Schlafbrille zutage und ein Tüchlein, von dem Jenny behauptet, es sei mindestens so teuer wie hässlich. Für Jenny kommt es natürlich nicht infrage, ein Tuch zu tragen, das hundert andere Gäste ebenfalls in einem Giveaway-Beutelchen gefunden haben, ich aber werde es als schöne Erinnerung aufbewahren.
Unterwegs nörgelt Jenny noch ein bisschen, ich soll mit ihr in einen Club fahren. Aber ich bin müde, das war wirklich genug Aufregung für einen Abend. (Klar, nichts hindert mich, mit ihr noch zu einer anderen Party HINZUFAHREN. Aber ich weiß, dass Jenny vor vier Uhr nicht müde wird. Und nach mir ruft mein Bett bereits mit einem Megafon.) Als der Wagen vor unserem Haus hält, fragt Jenny ungeniert, ob der Fahrer sie noch zu einem Club chauffieren könnte. Der Mann ist verlegen, eigentlich war schon diese eine weite Tour nicht vorgesehen. Zum Glück entdecke ich in diesem Moment ein Motorrad. Felix lehnt an seiner Maschine und schaut ratlos zu unseren dunklen Fenstern hinauf. Jenny freut sich, schenkt dem Fahrer in Ermangelung eines Trinkgelds das hässliche Tüchlein und springt aus dem Wagen direkt in Felix’ Arme.
»Toll, dass du hier bist! Ich war drauf und dran, mir in irgendeinem Club einen neuen Freund zu suchen!«
Ich wünsche den beiden einen schönen Abend, erleichtert, dass ich nun ohne schlechtes Gewissen ins Bett gehen kann. Als ich noch eine Sekunde stehen bleibe, um zuzusehen, wie Jenny sich in ihrem gewaltigen Kleid auf das Motorrad schwingt und die beiden davonbrausen, kommt noch einmal ein winziger Moment des Selbstmitleids auf. Wo mag Tobias jetzt sein? Denkt er vielleicht an mich; ahnt er, dass ich gerade inbrünstig beschwörend an IHN denke? Weiß er, dass ich so unfassbare Sehnsucht nach ihm habe?