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Der Januar ist fast vergangen. Wir haben unsere Protokolle abgegeben, nur das Probeexamen steht noch aus. Heute ist der erste Tag, an dem niemand den Feierabend herbeisehnt.

Zum Dienstschluss stehen die PJler herausgeputzt auf dem Flur, die Kittel blütenweiß, die Köpfe nervös-rot. Vielleicht bin ich die Einzige, die keine Angst hat. Nichts, was da kommt, wird mich aufhalten können. Ein nie gekanntes Stärkegefühl.

Wir haben das Wochenende durchgelernt, Isa hat sogar auf ihre Wochenend-Bahnreise verzichtet. Jetzt lehnt sie neben mir an der Wand und dreht den Ring an ihrem Finger, als könne er Wünsche erfüllen. Und immer noch betrachtet sie ihn, als ob sie es nicht glauben kann.

Eine überstürzte Heirat soll es nicht werden. Isa will auch das dritte Tertial an unserer Seite absolvieren. »Jetzt wird es doch erst spannend«, lächelt sie.

Im nächsten, letzten Abschnitt müssen wir uns für eine Station entscheiden. Isa überlegt ernsthaft, ob sie auf der Chirurgie bleiben soll. Dr. Thiersch hat ihr den unentschuldigt versäumten Morgen vergeben – vielleicht steckt doch eine Frau hinter der eiskalten Schale? – und Isa wird häufiger eingeteilt und hat inzwischen weit mehr Erfahrung als wir alle.

Jenny ist entschlossen, sich erst am allerletzten Tag zu entscheiden. Und ich behaupte dasselbe. Tatsächlich bewege ich immer noch Dr. Al-Sayeds Abschiedsworte in meinem Kopf herum. Sie würde sich freuen, wenn ich mich für ihre Abteilung entscheide. Ich habe eigentlich nie an Gynäkologie gedacht. Aber vielleicht …? Sabrina kommt aus dem Arztraum, erlöst, strahlend. »Alles Gute«, sagt sie und umarmt mich ganz unvermutet.

Das Letzte, was ich sehe, bevor ich vom Flur in den Arztraum trete, ist ein blonder Schopf an der Tür zur Treppe. Felix. Kommt er, um Jenny Glück zu wünschen? Mein Blick findet ihr Gesicht, ihre Augen leuchten auf, sie sieht nur Felix. Er kommt herüber, er lächelt. Schade, dass ich nicht bleiben kann. Aber auf mich wartet die Eisprinzessin.

Dr. Thiersch sitzt zwischen zwei Chirurgen. »Na dann viel Glück.« Selbst von ihr.

Auf dem Tisch vor den Ärzten steht eine Schachtel, Dr. Gode hält sie mir hin. Ich ziehe eine Karte: Mitralklappeninsuffizienz. Ich erkläre Symptome, Ursachen und Diagnose, die Mitralklappenrekonstruktion, die Risiken der OP, die Nachsorge. »Herzchirurgie – wär das was für Sie?«, fragt die Kardiologin, als ich fertig bin. Schon da habe ich das Gefühl, es gemeistert zu haben. Ich zögere. »Vielleicht?«

»Wer hätte das gedacht, dass sich mal alle um Sie reißen würden, Frau Weissenbach«, sagt Dr. Thiersch.

Dr. Gode steht auf, gibt mir die Hand, begleitet mich zur Tür. »Glückwunsch«, sagt er, als er mir die Tür öffnet. Es ist das erste Mal, dass er wieder ganz normal zu mir spricht. Ich sehe zum Tisch, die drei Ärzte füllen Bögen aus, keiner kann uns hören.

»Vielen Dank für den schönen Abend«, sage ich leise. »Es tut mir leid, wie er geendet hat.«

»Lügen Sie nicht, Lena«, lächelt er. »Nichts tut Ihnen leid!« Und er hat recht.

Ich komme auf den Flur zurück, lasse mich umarmen. »Ist es schlimm?«, fragt Ernie, der als Nächster dran ist. Ich schüttele den Kopf. »Du machst das schon!«

»Drück mir die Daumen, dass Ernie die Laryngektomie zieht«, flüstert Isa. »Ich glaube, die kann ich nicht!« ICH glaube, sie kann alles.

Jenny steht neben Felix, er hat den Arm um sie gelegt. »Mir ist es vollkommen egal, was ich ziehe«, sagt sie und strahlt Felix an. Ich habe sie noch nie so erlebt.

Meine Freundin Jenny, verliebt bis über beide Ohren.

Noch vier PJler bis zu Jenny, noch sechs bis Isa. Dann war es das. Die Chirurgie ist geschafft.

Ich mache mich auf den Weg zu einem letzten Kaffee bei Ruben, bis auch meine Freundinnen fertig sind.

Draußen wird es dunkel, Ende Januar kommt die Nacht schon um fünf Uhr nachmittags. Aber der Schnee ist getaut, es ist nicht mehr lange hin bis zum Frühjahr.

Der Frühling in Berlin, so oft besungen und bedichtet. Doch ich habe im letzten halben Jahr die Erfahrung gemacht, dass sich einige der vielbesungenen Berlinereien bei genauerem Hinsehen als übertrieben schöngeredet entpuppen. Und manch Verrufenes als wunderschön. Zum Beispiel S-Bahnhöfe.

Auf dem Gang der Inneren steht ein Mann mit einem Karton. Tobias.

Wir stehen uns gegenüber, schweigend. Ich kann an nichts anderes denken als an den Karton unter seinem Arm und was er bedeutet.

Ich muss ihn aufhalten. Ich kann nicht zulassen, dass er geht. Es ist sein Platz, sein Krankenhaus. Der Mittelpunkt seiner Welt.

»Du darfst nicht gehen«, sage ich.

Wir werden Ärzte sein. Und wenigstens nebeneinander. Ich will dich nicht verlieren.

Er sieht mich an, schüttelt den Kopf.

»Ich zeige es vielleicht zu selten«, sagt er. »Aber ich bin auch nur ein Mensch. Ich könnte es nicht ertragen, dich jeden Tag zu sehen.«

Warum glaube ich, dass ich es aushalten könnte? Wie kann es sein, dass ich mich plötzlich stärker fühle als er?

»Wieso?«, frage ich. Das darf nicht, soll nicht sein. Irgendwo, irgendwann muss es doch gut werden! Wenn er jetzt geht, war doch alles umsonst!

Ich sage nichts davon.

»Wohin gehst du?«

»Lesotho. Erst mal für einen Monat.« Er lächelt unmerklich. »Sag nicht, dass das theatralisch ist. Lieber, dass die dort ganz dringend auf mich warten.«

Ich nicke.

Einen Monat. Vier Wochen.

»In drei Monaten ist mein PJ vorbei …«, sage ich.

Er sieht mich an. »Ich weiß.«

Können wir uns dann wiedersehen?

»Wenn du zurück bist … Meldest du dich?«

Er lächelt. »Vielleicht komm ich auch einfach mal vorbei, um dich nach Hause zu fahren.«

Dann geht er und ich sehe ihm nach. Er dreht sich nicht um.

»Und?«, fragt Ruben, als er mir meinen letzten Chirurgen-Kaffee hinstellt. »Wo wird es dich im nächsten Tertial hin verschlagen?«

Ich weiß es noch nicht. Ich muss es bis zur nächsten Woche entscheiden. Aber jetzt, in diesem Augenblick, kommt es mir vor, als könne alles aus mir werden. Chirurgin, Gynäkologin, Internistin, Kinderärztin. Nur das eine nicht, von dem ich nicht weiß, ob ich es mir nicht am sehnlichsten wünsche.

Er lächelt. »Ich weiß es doch schon. Soll ich es dir verraten?«

Nein, danke, Ruben. Ich werde doch bald rausfinden, was aus mir wird.

Im Februar.