KAPITEL 4

 

Morgens war es immer am schlimmsten.

Träume waren für Campbell Grimes eine Zufluchtsstätte geworden und die süßesten von ihnen handelten von all den alltäglichen Dingen, die ihm jetzt so rar und schön erschienen. Von Dingen, die bereits zu fernen Produkten einer untergegangenen Kultur geworden waren, obwohl seit den Sonnenstürmen erst zwei Monate vergangen waren.

Außerirdischen Archäologen der Zukunft würde es eines fernen Tages vielleicht gelingen, eine Zivilisation zu verstehen, die nicht viel mehr als eine dünne Schicht von vergiftetem Plastik hinterlassen hatte. Aber es war unwahrscheinlich, dass sie von Campbells Zeichnungen, seiner Abhängigkeit von Coca-Cola light und Videogames, seiner leichten Besessenheit mit Kate Upton oder seinem College-Flirt mit dem Buddhismus erfahren würden. Die Fakten seines Lebens waren nicht sein Körper-Masse-Index oder sein Geburtsdatum, sondern die wilden, bunten Fantasien und Ideale, die unter der Knochendecke seines Schädels widerhallten.

Als er erwachte, wurde das Rollo über die Vergangenheit heruntergezogen und das höllische Rampenlicht des Danach strahlte ihn an. Er hatte wieder vom Catawbasee geträumt, wo er mit seiner Familie den Sommer verbracht hatte. Er hatte sich im Obergeschoss des Hauses am See befunden und auf den Steg des Nachbarn hinabgeblickt, wo ein neues Wasserskiboot angebunden war. Aber das Boot war nicht der attraktivste Besitz von John Hampton gewesen – diese Krone gebührte seiner Frau Tamara. Sie lag im Bikini auf einem Liegestuhl, ihre Haut glänzte wie ein eingeölter Bernstein. Ein Hut mit breiter Krempe und eine Sonnenbrille verbargen ihr Gesicht gerade genug, dass Campbell sie zum Objekt machen konnte, ohne sich zu schmierig zu fühlen.

Er hatte während dieser kleinen Peepshow-Vorstellungen nie masturbiert, aber sie hatten ihm einen Energiekitzel verpasst. Und in seinem Traum hatte sich Tamara eine Strähne ihres goldenen Haars aus dem Gesicht gewischt, die der Seewind ihr immer wieder dort hinwehte. Die Sonne tüpfelte das Wasser, das Wasserskiboot tanzte auf und ab und ihr eleganter Arm hob sich und wischte, hob sich und wischte, die Finger gespreizt, die Lippen geschürzt, und sie drehte den Kopf ein bisschen. Die Sonnenbrille war direkt auf das Fenster gerichtet, hinter dem er saß–

Er erwachte mit pochendem Herzen und einer pulsierenden Erektion in der Hose. Es gab für ihn im Danach keine Erleichterung und er würde sich gewiss keinen runterholen hier auf dem Teppichboden des Farmhauses, von Zapphirnen umgeben. Sie lagen überall um ihn herum. Einige schnarchten sanft, andere waren wach und warteten darauf, dass er »raus aus den Federn« kommen würde, eine Phrase, die sie vom Professor gelernt hatten.

Im Unterschied zum Professor hatte Campbell damit aufgehört, im Bett zu schlafen, weil die Zapphirne im Laufe der Nacht unweigerlich in die Mitte der durchsackenden Matratze rollten und dort einen erstickenden Pulk bildeten. Er war sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt im üblichen Sinne schliefen – vielleicht imitierten sie den Schlaf ebenso, wie sie alles andere imitierten.

Ein weiterer Tag im Paradies.

Das Morgengrauen tauchte die Fenster in gelbe Farbe. Von unten war Geklapper von Kochgeschirr und Besteck zu hören. Es gab im Haus keine Elektrizität, weil die Sonnenstürme die Kraftwerke stillgelegt hatten, aber der Herd wurde mit Propangas betrieben und es musste noch Unmengen davon im Tank geben. Die ursprünglichen Besitzer des Hauses waren während der Apokalypse am Esstisch gestorben, und die Zapphirne hatten von dieser grausigen Szenerie alles über Gedecke gelernt.

Campbell freute sich nicht sonderlich auf das Frühstück, denn die Leichen saßen noch immer um den Tisch versammelt. Die Zapphirne gerieten in heftige Aufregung, wann auch immer Campbell und der Professor versuchten, die Toten zu entfernen.

Campbell erhob sich so leise er konnte, aber sein Tun wurde sofort von drei oder vier Zapphirnen imitiert, darunter ein junges Mädchen in einem Sommerkleid, dessen Augen wie Lava glühten. Campbell musste pinkeln. Es gab keine Aussicht auf Privatsphäre, weshalb er über die Reihen auf dem Bauch liegender Zapphirne stieg, bis er die Tür erreicht hatte.

Der Professor drehte sich im Schlaf um und legte unbewusst einen Arm über einen Mann in den Sechzigern mit wirrem Haar. Der Zapper ahmte die Bewegung nach und sie kuschelten sich aneinander wie ein altes Ehepaar. Campbell kämpfte gegen die Galle an, die in ihm hochsteigen wollte. Der Professor hatte es sich hier zu gemütlich gemacht, er hatte sein Schicksal akzeptiert.

»Guten Morgen«, sagte das kleine, blonde Mädchen, und die Redewendung wurde sofort von den anderen Zappern wiederholt, sogar von einigen, die noch auf dem Boden lagen. Es mussten sich etwa zwei Dutzend in dem Zimmer befunden haben, und die Luft war von ihrem Gestank verdorben. Der Professor hatte ihnen noch nichts über Körperpflege, Kleidungswechsel oder gar elementare Ausscheidungen beigebracht.

»Guten Morgen«, sagte Campbell. Genauso wie die Zapphirne zu intelligenten Spottdrosseln geworden waren, erwarteten sie auch von Campbell, ihr Verhalten nachzuahmen. Er wollte nicht riskieren, sie in Aufruhr zu versetzen, weil der Rest der Gruppe des Professors von ihnen in Anfällen von Wut getötet worden war. Seitdem hatte sich Campbell zurückgehalten, denn er hatte Angst, dass sein Verhalten falsch interpretiert werden und zu einem Gewaltausbruch führen könnte. Es war nicht vorhersehbar, wie sie mit ihrer durcheinandergewirbelten Verdrahtung Handlungen oder Geräusche interpretieren würden.

Campell betrat den Flur. Seine schmutzigen Socken dämpften seine Schritte. Mehrere Zapphirne saßen an die Wand gelehnt in genau der Position, in der sie auch bei Sonnenuntergang gewesen waren. Als er an ihnen vorbeiging, erhoben sie sich still und folgten ihm gemeinsam mit den drei Zapphirnen aus dem Schlafzimmer. Die widernatürliche Parade zog hinter ihm die Treppe hinunter und durch die Hintertür ins Freie. Als Campbell den Reißverschluss seiner Hose öffnete, imitierten ihn alle Zapphirne. Die weiblichen unter ihnen schienen erstaunt darüber, dass sie keine Penisse hatten, urinierten aber trotzdem und verschmutzten dabei ihre Kleidung.

Campbell blickte zum Wald am Rande der Weide und darüber hinaus zu den wogenden Bergen im Nordwesten. Er dachte an Rachel Wheeler und an die Anlage am Meilenstein 291, die sie als das Heilige Land geschildert hatte. Sie hatte zwar nicht allzu viele Einzelheiten beschrieben, aber ihr Eifer war überzeugend gewesen. Vor allem, wenn man die Alternativen in Betracht zog.

Wie so häufig überlegte sich Campbell, einfach davonzurennen, aber die Zapphirne waren bereits aufgestanden und liefen im kniehohen Gras um das Farmhaus herum. Es gab nur noch eine Kuh, und die Zapphirne waren von ihrem Verhalten ebenso fasziniert wie von dem Campbells und des Professors. Das Tier hatte sich an ihre Anwesenheit gewöhnt und kaute zufrieden. Campbell wünschte sich, er könnte die Zapper ebenso erfolgreich ignorieren.

Warum konnte mir der große Zapp nicht den Rinderwahnsinn verpassen?

Er kehrte zum Farmhaus zurück, gefolgt von den Zapphirnen. Mit der Hand vor dem Gesicht versuchte er, den Gestank der faulenden Leichen im Inneren des Hauses erträglich zu machen. Die Zapphirne ahmten die Bewegung nach, obwohl der Geruch sie nicht zu stören schien. Vielleicht hatten sie keine Vorstellung von Sterblichkeit, weshalb der Verwesungsgestank sie nicht an ihren eigenen kommenden Tod erinnerte.

Der Professor saß bereits am Tisch. »Guten Morgen«, sagte er mit überraschender Heiterkeit – vor allem, wenn man bedachte, dass er zwischen vier Leichen und in einem Raum voller Mutanten saß.

»Guten Morgen«, antwortete Campbell, und das Farmhaus wurde vom Geschrei der Zapphirne erfüllt, die die Worte wiederholten. Eine breitgesichtige Frau, in deren grauen Augen schillernde goldene Flecken funkelten, trat vor ihn, als er sich dem Tisch näherte, und kreischte: »Guten Morgen guten Morgen guten Morgen.« Die Redewendung wurde in einer Endlosschleife wiederholt.

»Leck mich«, sagte Campbell und die breitgesichtige Frau ging von »Guten Morgen« zu »Leck mich« über, ohne Atem zu holen. Als sich der Singsang um sie herum steigerte, grinste der Professor Campbell an und zog einen Stuhl für ihn vom Tisch. Campbell setzte sich neben ihn und es wurde still im Zimmer. Die Stille breitete sich durch das Haus aus.

Auf jedem Teller des Tisches schwammen Bohnen mit Schweinefleisch. Die menschlichen Besitzer des Farmhauses, die nun auf den Stühlen um den Tisch herum platziert waren und in grotesken Schattierungen von grün und lila verrotteten, hatten sich offenbar einen Vorrat von nur einer Sorte von Konservendosen angelegt gehabt. Die Hühner konnten nicht genug Eier legen, um die gesamte Gemeinde von etwa fünfzig Zapphirnen, die die Farm bewohnten, zu füttern und der frühe Frost hatte den Garten zerstört. Bald würden sie alle Fleisch benötigen.

»Ich werde mich umbringen«, flüsterte Campbell, so dass ihn nur der Professor hören konnte. Sie hatten herausgefunden, dass die Zapphirne, wenn sie murmelten, auch murmelten und deshalb nicht in der Lage waren, ihrem Gespräch zu folgen.

Der Professor hob seinen Teller und schleckte die Sauce auf. In einer unausgesprochenen Vereinbarung verzichteten sie auf Besteck, weil sie nicht wollten, dass die Zapphirne alle gleichzeitig mit scharfen Gerätschaften herumfuchtelten.

Als die Zapphirne, die sich nahe am Tisch befanden, ebenfalls ihre Teller anhoben und zu schlürfen begannen, sagte der Professor: »Nicht schon wieder. Wann werden sie endlich lernen, sich zu benehmen?«

»Jetzt mal im Ernst. Dir macht es vielleicht Spaß, deine eigene Gruppe von Laboraffen zu haben, mit denen du herumspielen kannst, aber ich verliere noch den Verstand.«

Der Professor wischte sich mit dem Ärmel seines Hemds die rötlich-braune Sauce von den Lippen. »Wenn wir ihnen beibringen können, wie man jagt und sammelt, werden wir es durch den Winter schaffen. Sie machen Fortschritte. Ich habe bei einigen von ihnen sogar schon Anzeichen von Eigeninitiative beobachten können.«

»Großartig. Kreative neue Wege, um Überlebende zu töten und zu verstümmeln.«

»Wir wissen nicht einmal, wie viele Überlebende es überhaupt noch gibt. Wir könnten auch die letzten beiden sein.«

Campbell setzte seinen Teller ab, obwohl er seine Portion nur halb aufgegessen hatte. Ein Zapphirn mit strähnigen Haaren, das auf der anderen Seite des Tisches saß, starrte ihn an, als ob er eine unbeschreibliche Sünde begangen hätte. Der Zapper war etwa so alt wie sein Vater, mit schwarzen Bartstoppeln und mit Schmutz gefüllten Falten auf den Wangen.

Fahr zur Hölle, Arschloch. Campbell überlegte, ob er die Beleidigung mit der ganzen Kraft seiner Lungen brüllen sollte, aber vielleicht würde er zu kichern beginnen, und dann würde er von der Zapphirn-Lachkonserve in den Wahnsinn getrieben werden. Aber war Wahnsinn nicht besser, als diese neue Normalität zu akzeptieren?

»Also, was ist deine Ausstiegsstrategie?«, fragte Campbell, als der Professor seine letzten Bohnen hinunterschluckte.

»Es gibt keinen Ausstieg. Ich mache das Beste daraus. Ich bin schon seit fast drei Wochen hier und sie haben mich noch nicht getötet.«

Campbell wollte nicht glauben, dass der Mann das ernst meinte. »Du bist ziemlich geschickt darin, ihnen einzureden, dass du Jesus bist. Aber für den ist das nicht so gut ausgegangen, falls du dich erinnerst.«

»Sie lernen, und wenn wir ihnen beibringen können, nicht dieselben Fehler zu begehen wie die menschliche Rasse, dann können wir vielleicht wirklich diese verrückten Ideale von Frieden, Liebe und Harmonie verwirklichen.«

Und ich dachte, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe. Aber du hast wirklich einen Sprung in der Schüssel. Das ist dein Hirn; das ist dein Hirn unter Zapphirn-Einfluss. Irgendwelche Fragen?

»Denkst du nicht, dass es ein wenig überheblich ist zu glauben, dass wir wissen, was das Beste ist?«, fragte Campbell. »Es gibt keinen Plan für das hier.«

Der Professor grinste; Bohnensauce glänzte an seinem Kinn. »Dann müssen wir unseren eigenen Plan entwerfen.« Er nickte einem der Zapphirne zu. Es handelte sich um eine junge Frau in den Zwanzigern mit fransiger, dunkler Ponyfrisur im Gruftistil und vollen Lippen. Ein kleiner, silberner Totenkopf hing an einem Kettchen von ihrem Ohrläppchen. »Ich glaube, sie mag mich.«

Campbell schob seinen Teller von sich. Die verrotteten Leichen der ursprünglichen Bewohner des Farmhauses blieben stumm. Auf gewisse Weise waren sie die beständigsten und greifbarsten Fakten dieser neuen Welt. Alles andere war postmoderner Surrealismus.

Und eine neue Geschichte, die darauf wartete, geschrieben zu werden.

»Sie gehören dir«, sagte Campbell und breitete die Arme aus. »Alle Gottes Kinder.«

»Gottes Kinder!«, sagten eine Frau mit verschmiertem Gesicht und das Grufti-Zapphirn im Chor.

»Gottes Kinder!«, rief ein weiteres Zapphirn, und schon bald war der Raum – und dann das ganze Farmhaus – von ihren Rufen erfüllt.