KAPITEL 29

 

»Sind Sie okay?«, fragte Franklin.

Jorge grunzte. Er saß mit seiner halbautomatischen Waffe im Schoß im Schneidersitz auf dem Felsvorsprung. Die Zapphirne hatten die Leichen von Robertson, Shay und den beiden Soldaten ebenso weggetragen wie die des getöteten Zapphirns. Die akustische Erinnerung an das Scharren ihrer Füße im Laub hallte noch in Franklins Schädel wider.

Oder vielleicht war das auch nur die Gehirnerschütterung, die sich einen Spaß mit seinen Nerven erlaubte.

Franklin untersuchte die Wunde an Jorges Hüfte. »Sie haben Glück gehabt, dass die Kugel glatt durchgegangen ist, ohne Organe zu verletzen.«

»Glück fühlt sich anders an«, antwortete Jorge.

Franklin nahm Shays Jacke, die außer ein paar Blutflecken alles war, was von ihr übriggeblieben war. Er riss sie in Streifen, band ein paar davon um Jorges Bauch und befestigte sie als Verband. Die Blutung hatte bereits aufgehört und wenn sich die Wunde nicht entzündete, würde sie sich wahrscheinlich eher als schmerzhaft und unbequem denn als gesundheitsgefährdend erweisen.

Aus dem Tal unter ihnen waren gedämpfte Schüsse zu hören. Ohne Fernglas war Franklin nicht in der Lage, genau zu bestimmen, wo der Kampf tobte. Alles, was er sehen konnte, war der Fluss, der sich durch das Tal schlängelte, und gelegentlich Stücke Asphalt, die parallel zu ihm verliefen.

»Hört sich nicht an wie Sarges Männer«, sagte er. »Ich bezweifle, dass sie sich so weit vom Bergkamm wegbewegen würden. Und das meiste hört sich nicht wie halbautomatische Gewehre an. Eher wie Schrotflinten und kleinkalibrige Pistolen.«

»Warum haben Sie mich nicht schießen lassen?«, wollte Jorge, der ihm nicht zugehört hatte, wissen.

»Weil die Sie dann getötet hätten.«

»Vielleicht sollte ich sie verfolgen.«

»Wozu? Sie sind alle tot. Wenn Sie bei einem sinnlosen Unterfangen umgebracht werden, was soll ich dann Ihrer Familie sagen?«

»Meine Familie ist tot, genau wie Robertson und Shay.«

»Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, hombre. Vielleicht gibt es einen Grund dafür, dass wir überlebt haben.«

»Wir haben überlebt, weil wir Feiglinge sind, die sich nicht wehren.«

Franklin rieb sich die Schläfen mit den Spitzen seiner Finger und fragte sich, ob er eine Gehirnblutung hatte. In diesem Moment konnte sich Druck aufbauen, der dazu führte, dass er blind wurde, einen Hirninfarkt erlitt oder irgendeine andere Art von Anfall bekam. Das wäre überaus ironisch – sein zentrales Nervensystem hatte sich gegenüber der mutierenden Strahlung der Sonneneruptionen als immun erwiesen, gab aber unter einem kleinen Schlag gegen die Birne klein bei.

»Wir können nicht hier herumsitzen, bis es dunkel wird«, sagte Franklin. »Wahrscheinlich hat Sarge schon Patrouillen auf die Suche nach uns geschickt, und die Zapphirne dürften auch bald zurückkehren. Ich lege keinen Wert darauf, mich zwischen diesen beiden Fronten wiederzufinden. So wie ich es sehe, können wir uns entweder ein Haus suchen, in dem wir uns einigeln, oder zurück zum Meilenstein 291 gehen oder uns ins Tal hinabbegeben und nachsehen, was dort los ist. Für meinen Teil hab ich langsam genug von diesen Kriegsspielchen. Ich bin bereit dafür, nach Hause zu gehen.«

»Leicht für Sie, denn Sie haben ein Zuhause«, sagte Jorge. »Dieses Land ist nicht einmal meine Heimat, nicht wirklich zumindest. So sehr ich mich auch bemüht habe, mich einzufügen, und versucht habe, meine Familie dazu zu bringen, Englisch zu sprechen – ich fühle immer noch nicht, dass ich hierher gehöre.«

»Keiner von uns gehört mehr irgendwohin. Hier ist genauso gut wie irgendwo anders.«

Franklin kroch ein Stück von der Felskante weg und lehnte sich gegen einen schmächtigen Baumstamm, den er als Halt benutzte, bis er wieder fest auf den Beinen stehen konnte. Abgesehen von dem schmerzhaften plötzlichen Blutfluss in seinem Kopf und einem Augenblick der Übelkeit fühlte er sich gut genug, um zu gehen.

»Also, wie haben Sie sich entschieden?«, fragte er.

»Wie zuvor. Ich gehe nirgendwohin, bevor ich nicht meine Familie gefunden habe.«

Franklin nickte. »Meilenstein 291 wird für Sie da sein, wenn Sie sie gefunden haben. Kommen Sie hoch, egal ob es schon Winter ist oder sogar bereits Frühling. Sie sind immer willkommen.«

Er humpelte in westlicher Richtung in den Wald. Sein Plan war, zurück zu Grandfather Mountain zu gehen und ein aufgegebenes Haus zu finden, in dem er die Nacht verbringen konnte. Morgen würde er dann seinen Weg fortsetzen.

»Sie vergessen etwas, hombre«, sagte Jorge.

Franklin drehte sich unter Schwierigkeiten um; er musste gegen eine Welle des Schwindelgefühls ankämpfen. »Was?«

Jorge deutete auf die Waffen, die am Boden lagen. »Ihr Gewehr.«

»Nein, damit hab ich abgeschlossen. Die Zapphirne werden jeden töten, der eine Waffe hat, und gegen eine Gruppe ausgebildeter Soldaten hab ich sowieso keine Chance. Von jetzt an werde ich mich nur noch auf meinen Verstand verlassen, so traurig das auch klingen mag.«

Ihre Blicke trafen sich, und Franklin wurde klar, dass er bald zum ersten Mal wieder allein sein würde, seit er Jorge, Rosa und Marina auf dem Pfad getroffen und sie eingeladen hatte, in Wheelerville zu bleiben. Trotz langer, in zufriedener Einsamkeit verbrachter Jahre erfüllte ihn der Gedanke, nun wieder allein zu sein, mit unbestimmter Angst. Seine Visionen des Lebens nach der Apokalypse hatten niemals aus Nächten bestanden, in denen er allein Wildfleisch über dem Feuer briet, ebenso wenig wie daraus, die Wälder als einsamer Naturforscher nach Nüssen und Beeren abzugrasen.

Nein, der wahre Grund, weshalb er seine Anlage auf dem Gebirgskamm gebaut hatte, war, dass er Gesellschaft erwartete. In erster Linie hatte »Gesellschaft« immer Rachel bedeutet, sowie andere Familienmitglieder, die endlich eingesehen haben würden, dass Franklin doch Recht gehabt hatte und kein schizophrener Einsiedler war. Aber er hatte sich auch darauf eingestellt, die Anlage mit völlig Fremden zu teilen und gemeinsam neue Wege des Zusammenlebens zu finden, die sich nicht an den alten Strukturen orientierten, die zu Korruption, Machtkämpfen und Gier geführt hatten.

Wheelerville bei Meilenstein 291 war in erster Linie als libertäre Utopie geplant gewesen. Schließlich hatte Franklin weder hochgradig explosiven Sprengstoff noch chemische Waffen gebunkert – einerseits nicht, weil er nicht mehr Aufmerksamkeit der Regierung als unbedingt nötig auf sich ziehen wollte, größtenteils aber, weil ihm leben und leben lassen vorschwebte, und nicht töten oder getötet werden. Er hatte sich auf erneuerbare Vorräte an Nahrung, Wasser und Heizmaterial konzentriert und nur so viele Sicherheitsmaßnahmen angebracht, wie unbedingt nötig waren, damit sich potentielle Plünderer die Sache zweimal überlegen würden. Niemand konnte ihn wegen seiner Mittel umbringen, wenn man nicht von seiner Existenz wusste.

Was er jedoch nicht vorhergesehen hatte, waren die Zapphirne. Eine mutierte Rasse von gewalttätigen, hirnlosen Menschen war niemals Teil seiner Liste von Weltuntergangsszenarien gewesen. Er hatte sich zwar die Möglichkeit einer Zombie-Epidemie durch den Kopf gehen lassen, nicht zuletzt weil gewisse Teile der Regierung das Geld der Steuerzahler dafür verschwendet hatten, Vorgehensszenarien für derartige Fälle zu entwickeln. Aber selbst in seinen kühnsten Träumen hätte er das nicht für mehr gehalten als Material, mit dem man Comics füllen konnte.

»Also werden Sie auf einer Strecke von fünfzehn Meilen durch Zaphhirne und mörderische Soldaten hindurchspazieren und einfach hoffen, dass Sie ihnen aus dem Weg gehen können?«, fragte Jorge.

»Das ist mein Plan.«

Franklin ging weiter. Die Nachmittagssonne brannte durch das dünner werdende Baumkronendach. Jorge rief ihm zum letzten Mal nach. »Und wenn ich Rosa und Marina finde und sie zu Ihnen kommen wollen, was ist dann mit Cathy und dem Baby?«

Franklin schauderte bei der Erinnerung an die widerliche kleine Kreatur mit ihren durchdringenden, funkelnden Augen und der Art und Weise, wie sie alles mit einer stillen Verschlagenheit beobachtet hatte. Er hätte sie töten sollen, als er die Gelegenheit gehabt hatte, aber etwas in ihrem Blick – fast, als ob sie wüsste, was Franklin sich überlegte –, hatte ihn davon abgehalten.

Er hatte einen Fehler begangen. Er hätte das Baby niemals in seine Anlage lassen dürfen. Er vermutete, dass es der Grund war, weshalb Jorge seine Familie verloren hatte, und dann hatte Sarge mit seinen Männern Jorge und ihn gefangen genommen, als sie zusammen losgezogen waren, um nach ihnen zu suchen. Seitdem war das Ergebnis nur eine steigende Zahl an Todesfällen gewesen, und jeder Schritt hatte ihn weiter und weiter von dem idyllischen Leben, das er sich über Jahre hinweg aufgebaut hatte, weggeführt.

Vielleicht hätte er gar niemanden in seine Anlage lassen sollen. Dann wäre er jetzt vermutlich noch dort, würde sich um seinen Garten und die Ziegen kümmern, Feuerholz für den Winter sammeln und mit Hilfe der Solarzellenplatten auf dem Kurzwellenradio nach anderen Überlebenden suchen.

Jetzt war es an der Zeit, den Fehler zu berichtigen. Selbst wenn es bedeutete, allein zu sein.

»Ich hab gesagt, dass Sie willkommen sind«, sagte er. »Ausschließlich Familienangehörige. Menschliche Familienangehörige.«

Er humpelte in den Wald in Richtung seines Zuhauses. Sein Kopf pochte heftig mit jedem schweren Schritt.