KAPITEL 18
Franklin, Jorge, Robertson und Shay hatten sich eine halbe Meile vom Ort des Massakers entfernt und beschlossen, ein Haus für die Nacht zu suchen, als die Sonne hinter den emporragenden Bergrücken verschwand.
Sie entschieden sich für ein kleines Häuschen, das nicht direkt an der Straße stand, weil sie vermuteten, dass Sarges Soldaten es vermutlich nicht durchsuchen würden. Vor dem Gebäude befanden sich keine Fahrzeuge, und der früher gepflegte Garten, der nun verwildert und ungepflegt war, schien breit genug, um bemerken zu können, wenn sich jemand aus dem Wald näherte. Erleichtert stellten sie fest, dass das Häuschen leer war. Franklin vermutete, keiner von ihnen hätte an diesem Tag noch mehr Leichen verkraften können.
In den letzten Resten des Tageslichts durchsuchten Robertson und Franklin das Haus, während Jorge und Shay aus Konserven, die sie in der Küche gefunden hatten, eine einfache Mahlzeit zubereiteten. Franklin tippte, dass es sich bei dem Häuschen um ein Ferienhaus gehandelt hatte, weil die Luft abgestanden war und es nach Mottenkugeln roch. Trotz der kühlen Nacht öffnete er mehrere Fenster, um einen Durchzug frischer Luft zu ermöglichen.
Als sie im Licht einer dicken Adventskerze um den Küchentisch saßen und Thunfisch und Spinat aßen, war es Franklin, der das Gespräch auf das Thema brachte: »Unmöglich zu sagen, ob sie Zapper waren oder nicht.«
»Sie waren schmutzig«, sagte Robertson.
»Wir sind alle schmutzig. Ich hab nicht viele Überlebende gesehen, die mit einem Stück Seife in der Hand in einen Schlammtümpel gesprungen sind.«
Shay schob sich verlegen eine fettige Strähne ihres Haars hinter das Ohr. »Die beiden Kinder ... wie kann jemand so etwas tun, selbst wenn sie Zapphirne waren?«
»Die Augen«, sagte Franklin. »Die Augen des alten Mannes standen offen, aber es war kein Funkeln in ihnen.«
»Was meinen Sie?«
»Ich hab vergessen, dass Sie noch keine Zapper aus der Nähe gesehen haben. In den Augen der Zapphirne gibt es kleine funkelnde Flecken. Nicht immer, aber sie scheinen stärker zu werden, wenn sie erregt werden.«
Jorge schob seinen Teller, auf dem noch immer kaltes Essen aufgehäuft war, von sich. »Wenn sie tot sind, würden die Augen nicht mehr funkeln, oder?«
»Okay, nehmen wir an, sie waren Zapper«, sagte Franklin. »Dann gibt es ein paar Möglichkeiten. Vielleicht wurden sie von Sarges Soldaten getötet. Oder von einer anderen durchgeknallten Gruppe, die wir noch nicht zu Gesicht bekommen haben.«
»Oder von anderen Zapphirnen«, sagte Shay. »Das sind wütende Mordmaschinen, oder?«
»Das wäre prima. Alles, was wir tun müssten, wäre, uns zurückzulehnen und abzuwarten, bis sie sich gegenseitig ausgelöscht haben. Aber das erklärt die in Blut geschriebene Botschaft nicht. Die ist ein Zeichen für einen ernsthaft gestörten Geist. Einen intelligenten Geist, der keinen Anflug von Gewissen besitzt.«
»Das Feuer im Kamin«, sagte Jorge. »Es war höchstens ein paar Stunden alt. Würden Zapphirne ein Feuer machen oder an die Wand schreiben oder die Leichen auf diese Weise anordnen?«
»Die beiden Soldaten, die sich von der Patrouille getrennt haben. Vielleicht sind sie nicht zurück zum Bunker gegangen. Vielleicht haben sie sich abgesetzt. Vielleicht wollten sie uns eine Nachricht hinterlassen.«
»Uns?«, fragte Robertson. »Glauben Sie, dass wir die einzigen Menschen in der Gegend sind, die nicht zu der Armeeeinheit gehören, von der Sie uns erzählt haben?«
»Sie kennen die Gegend besser als ich«, antwortete Franklin.
»Ja. Ich war Briefträger. Ich hatte zwar nicht oft diese Route, aber ich hab dem Haus öfters mal die Post gebracht. Allerdings kann ich mich nicht an irgendwelche Kinder dort erinnern.«
»Vielleicht waren sie keine wirkliche Familie«, gab Jorge zu bedenken. »Die Killer könnten Leute von verschiedenen Orten geholt haben.«
»Dann wären sie noch kranker«, sagte Franklin. Er blickte das Mädchen an. »Es tut mir leid, dass du das alles mitanhören musst.«
»Und mir tut leid, dass die Welt untergegangen ist«, sagte sie ohne Gefühlsregung. Sie hatte irgendwo eine Dose Sprite gefunden und hielt sie mit beiden Händen wie einen heiligen Talisman, der durch eine Zeitmaschine hierher transportiert worden war. Franklin kam der Gedanke, dass es niemals einen Grund für sie alle gegeben hätte, sich über den Weg zu laufen, geschweige denn, sich zu einer gemeinsamen Mahlzeit zu versammeln. Und nun waren sie aufeinander angewiesen.
»Wer kann sonst noch von Meilenstein 291 wissen?«, fragte Jorge.
»Nur unsere Bunkerfreunde.« Ein Stückchen Thunfisch blieb in seinem Hals stecken. »Und Rachel, meine Enkelin.«
Hat das irgendwas mit ihr zu tun?
»Sie könnte jemandem davon erzählt haben«, sagte Jorge. »Vielleicht vielen Leuten. Wenn sie dachten, Ihre Anlage sei ein sicherer Ort, wer weiß, wie viele Menschen sich auf den Weg dorthin gemacht haben?«
»Das würde zumindest bedeuten, dass sie noch am Leben ist«, sagte Franklin. Er hatte nicht wirklich daran geglaubt – ähnlich wie für Jorge das verzweifelte Bemühen, seine Familie zu finden, war der Gedanke an Rachels Ankunft für Franklin ein Grund für Hoffnung gewesen.
»Wenn sich hier blutrünstige Irre herumtreiben, übernehme ich die erste Wache«, sagte Robertson. Er schob seinen Stuhl zurück und griff nach seiner Schrotflinte, während er sich erhob. »Außerdem ist diese Feinschmeckerküche ein wenig üppig für meinen empfindlichen Magen. Ich brauche ein paar stille Minuten draußen zwischen den Bäumen.«
»Passen Sie auf, dass Sie nicht in etwas reintreten«, rief Franklin Robertson hinterher, als dieser durch die Hintertür das Haus verließ.
»Widerlich«, sagte Shay. »Das will ich alles gar nicht wissen.«
»Nein, was widerlich ist, ist dieser Dosenspinat.« Franklin sammelte die Teller ein und trug sie zur Spüle. Er fing an, die Reste in den Mülleimer zu kratzen, dann wurde ihm bewusst, wie lächerlich das war. Die Besitzer des Häuschens würden nicht so schnell hierher kommen, um Urlaub zu machen. Sie waren vermutlich bereits eine Mahlzeit für Maden.
Er stapelte die Teller aufeinander und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab, das vom Griff eines Schranks hing. »Ich werde die Fenster schließen und die Schlösser prüfen. Ihr beide solltet euch darum kümmern, wo wir schlafen werden.«
Franklin blickte aus jedem der Fenster, die er schloss. Aus dem Wald drang der süßliche Geruch herbstlichen Verfalls; die Luft war feucht mit der Ankündigung des kommenden Taus. Die Dunkelheit war fast vollständig und wurde nur von verstreuten Sternen hoch oben am Himmel durchbrochen. Grillen und andere Insekten zirpten zwischen den Bäumen.
Wer hätte je gedacht, dass die Endzeit so friedlich sein würde?
Aber der idyllische Ausblick auf die schwarzen Bergkämme und das gesprenkelte Himmelszelt über ihnen war nur ein Schleier. Unter ihm befanden sich brutale Mörder wie Sarge und seine skrupellose Truppe, und Mutanten, die sich viel schneller an die neuen Grundregeln anzupassen schienen als Franklin und die anderen menschlichen Überlebenden.
»Möge Gott dich behüten, Rachel, wenn du da draußen bist«, flüsterte er.
Rachel war gläubig, aber wenn Franklin hoch in den Himmel guckte, hatte er nie das Gefühl gehabt, von dort würde eine höhere Macht herabblicken. Auf gewisse Weise hatte es ihm die Apokalypse leichter gemacht zu glauben. Die biblischen Prophezeiungen hatten ganz offensichtlich einiges durcheinander gebracht, aber Franklin wusste ein allwissendes Wesen zu schätzen, dem so wenig an seinen Geschöpfen lag, dass es ihnen mit einer Reihe von Sonneneruptionen die Hintern verbrannte.
Und das dann über die wenigen verbleibenden Narren lachte, die versuchten, zur Normalität zurückzukehren.
Wenn Gott die Menschen wirklich nach seinem Bilde geschaffen hatte, hatte man dann irgendetwas anderes erwarten können?
Das Häuschen wies nur ein Schlafzimmer mit zwei Einzelbetten auf. Shay stellte eine Kerze auf das Nachttischchen zwischen den beiden Betten, zog die Schuhe aus und schlüpfte unter die Bettdecke. »Ich übernehme die nächste Wache«, sagte sie. »Sagen Sie meinem Vater, er soll mich wecken, wenn ich an der Reihe bin.«
»Okay, Kleine«, antwortete Franklin, obwohl er sich sicher war, dass sie innerhalb von ein paar Minuten eingenickt sein würde. Jugendliche benötigten ihren Schlaf, und er zweifelte sowieso daran, dass es ihm gelingen würde einzuschlafen, weshalb es ihm nichts ausmachte, die halbe Nacht über Wache zu schieben. Zumindest würde er Zeit zum Nachdenken haben.
»Sie auch, Jorge«, sagte Franklin. »Wir müssen uns alle ausruhen. Morgen wartet ein langer Weg auf uns.«
Jorge prüfte die andere Matratze. »Besser als die Pritschen im Bunker.«
»Damit haben Sie Recht, Kumpel.«
Franklin beugte sich vor, um die Kerze auszublasen, aber Shay wandte ihm plötzlich das Gesicht zu und sagte: »Bitte nicht.«
Es war unwahrscheinlich, dass die kleine Flamme von außen gesehen werden konnte, wenn überhaupt jemand Ausschau hielt. Das Mädchen sah so zart aus, trotz ihrer großen Sprüche und des Umstands, dass sie sich so schnell von der versuchten Vergewaltigung erholt zu haben schien. Aber was wusste er über ihre Gedanken und Gefühle? Er war mehr als fünf Jahrzehnte älter als sie. Die meisten seiner Ecken und Kanten waren geglättet worden; er war wie ein Stein, der in einem endlos tobenden Fluss herumgewirbelt wurde. Sie war noch hungrig und roh, und der größte Teil ihres Lebens – ob es nun in einem Tag oder nach vielen Jahren endete – würde sich vor dem Hintergrund des Todes abspielen.
Spontan beugte er sich nieder und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Du bist ein zähes Mädchen«, sagte er. »Du erinnerst mich an Rachel.«
»Und Sie erinnern mich an den Hausmeister unserer Schule.«
Franklin schmunzelte. »Ich hoffe, er hat dafür gesorgt, dass die Toiletten immer blitzsauber waren.«
»Ich frage mich, was aus ihm geworden ist.«
»Er steht vermutlich irgendwo da draußen mit einem Wischmopp in der Hand und wartet darauf, dass die Schule wieder anfängt. Und falls nicht, übernehme ich gerne seinen Job.«
Shay kicherte und schloss die Augen. Sie sah jünger aus als jemals zuvor.
»Gut’ Nacht«, sagte er zu beiden.
Er ging hinaus in die Nacht und erblickte Robertson, der langsam am Rand des Gartens entlangging. Robertson sah ihn und winkte. Franklin ging zu ihm, während er auf Zeichen der blutrünstigen Schlächter lauschte, die womöglich aus ihnen ein kunstvoll angerichtetes rotes Szenenbild machen wollten.
»Alle verstaut«, sagte Franklin. »Sie ist ein gutes Mädchen.«
»Ich wünschte, ihre Mutter könnte hier sein«, sagte Robertson.
»Ich frage ungern, aber was ist mit ihr passiert?«
In der Dunkelheit war es Franklin nicht möglich, das Gesicht des Mannes auszumachen, aber er vermutete, dass Robertson weinte. »Sie ist sofort gestorben, sogar noch bevor Menschen zu Zappern mutierten. Vielleicht erinnern sie sich an die Berichte, in denen es hieß, einige Menschen könnten besonders empfänglich für die elektromagnetische Strahlung sein. Nun, sie war einer von ihnen.«
»Das tut mir leid.«
»Sollte es nicht. Zumindest ist sie nicht zu einem Zapphirn geworden. Und sie ist jetzt besser dran als wir alle.«
»Ich befürchte, damit haben Sie Recht.«
»Was denken Sie wirklich, wer die Menschen in dem Farmhaus getötet hat?«
»Jemand, der mich kennt, soviel ist sicher. Und ich habe das Gefühl, dass die nächste Botschaft in größeren Buchstaben geschrieben sein wird.«