KAPITEL 12
Den größten Teil seines Erwachsenenlebens hatte Franklin Wheeler damit verbracht, sich auf den Weltuntergang vorzubereiten, aber selbst in seinen kühnsten Fantasien hatte er sich nicht ausgemalt, dass er so ablaufen würde.
Nein, in seinen Träumen von einer Welt nach dem Zusammenbruch saß er in seiner kleinen Hütte auf dem Bergkamm, im Holzofen knisterte es und auf dem Ofen befand sich ein Kessel mit Wasser für seinen Löwenzahnwurzel-Tee. Er hatte nie wirklich geplant, dann allein zu sein, aber die anderen Menschen in seiner Fantasie waren immer ein wenig amorph und gesichtslos gewesen – wobei er immer gehofft hatte, dass mit Rachel wenigstens ein Mitglied seiner Familie seine Voraussicht und Vorbereitung zu schätzen wissen würde. Stattdessen hatte er sich eine merkwürdige Gruppe von Fremden aufgehalst und anstelle eines freiheitsliebenden Einzelgängers war er nun zum zögerlichen Anführer geworden.
Ach, zur Hölle, Libertäre können nicht wirklich existieren, weil wir alle aufeinander angewiesen sind. Wir stehen alle miteinander in Verbindung, eine große bunte Hippie-Halluzination, oder vielleicht Gotts verdrehtes kleines Puzzlespiel.
»Wie läuft’s da hinten?«, rief er zu Robertson und Shay zurück. Durch seinen bandagierten Kopf sah Robertson wie eine Mumie aus, aber seine Augen waren wachsam und er hielt das Tempo mit dem Rest der Gruppe.
»Wir sind okay«, antwortete Shay für beide. Sie hatte sich Hayes’ Feldjacke als Trophäe geschnappt, obwohl sie zu groß für sie war und sie die Ärmel hochrollen musste. Ihr Vater hatte ihr Hayes’ Pistole und den Halfter gegeben. Der Gürtel des Halfters war für ihre schmale Hüfte zu lang, weshalb sie ihn wie einen Patronengurt über der Schulter trug. Franklin hoffte, dass ihr Vater sie im Umgang mit Waffen unterwiesen hatte, denn wenn sie auf eine von Sarges Patrouillen oder einen Haufen angefressener Zapphirne trafen, würde es nicht viel Zeit für Schießübungen geben.
Franklin und Jorge trugen die AR-15 der beiden toten Soldaten, aber keiner von ihnen fühlte sich mit der halbautomatischen Waffe wirklich wohl. Franklin vermutete, dass die Gewehre mangelnde Genauigkeit durch reine Schlagkraft wettmachten. Robertson hatte starrköpfig darauf bestanden, die Schrotflinte zu behalten, und behauptete, dass sie bei einem Nahkampf die bessere Wahl war. In Anbetracht dessen, was sie mit dem Kopf von Halstuch angestellt hatte, konnte Franklin ihm da nicht wirklich widersprechen.
Sie hatten die Rucksäcke der beiden Soldaten genommen und sie mit den Vorräten, die Robertson gesammelt hatte, gefüllt. Jorge hatte auch die anderen Häuser in der Nachbarschaft durchsuchen wollen, aber Robertson sagte, dass sie sie bereits ausgeräumt hatten. Als sie die Schotterstraße in der entgegengesetzten Richtung zu den letzten Schüssen entlanggingen, versuchte Franklin mit Hilfe des Standes der Nachmittagssonne abzuschätzen, in welche Himmelsrichtung sie gingen.
»Was ist der Plan?«, fragte Jorge Franklin.
»Wir werden einen großen Bogen nach Osten machen und dann zum Parkway zurückkehren, um wieder zur Anlage zu kommen. Mit ein wenig Glück können wir dabei Sarges Truppen aus dem Weg gehen.«
Jorges Augen waren dunkel und ernst. »Ich kann nicht zurückgehen, solange ich meine Familie nicht gefunden habe.«
»Ich weiß. Ich hoffe, dass wir irgendwo auf eine Spur von ihnen stoßen werden.«
»Wie viele von uns gibt es noch?«, fragte Robertson. »Sie sind die einzigen Menschen, die wir in den letzten Wochen gesehen haben, und wenn die Armee nur ein paar Dutzend Soldaten am Parkway hat, dann vermute ich, dass die Zapphirne uns hundertfach überlegen sind.«
»Wahrscheinlich, aber sie haben noch nicht herausgefunden, wie man mit Schusswaffen umgeht«, antwortete Franklin. »Wenn wir uns alle auf dieselbe Seite schlagen würden, könnten wir sie in Windeseile auslöschen.«
»Und uns danach selbst bekämpfen«, sagte Jorge. »Denken Sie, dass die Soldaten des Tötens überdrüssig werden, wenn sie erst einmal auf den Geschmack gekommen sind?«
In der Ferne ertönte ein weiterer Schuss. Der Widerhall an den bewaldeten Berghängen machte es schwierig, seine Herkunft zu bestimmen. Franklin hoffte, dass sie nicht dabei waren, geradewegs in eine Zapphirn-Jagd hineinzumarschieren. Wenn sie einer Armeepatrouille begegneten, würden sie erklären müssen, was mit ihren beiden Begleitern passiert war. Und Sarge hatte sie gesondert darauf hingewiesen, keine Gefangenen zu machen, weshalb Robertson auf der Stelle getötet werden könnte. Und der jungen Shay konnte dasselbe Schicksal zuteil werden, das ihr Halstuch und Hayes zugedacht hatten.
»Dort ist Grandfather Mountain«, sagte Franklin und deutete auf das dunkle, kantige Profil im Westen. »Der Bunker von Sarge befindet sich etwa eine halbe Meile vom Fuß des Berges entfernt, und meine Anlage ist eine weitere Meile nördlich davon. Bis zum Anbruch der Nacht könnten wir es schaffen.«
»Und was dann?«, wollte Jorge wissen. »Die wissen, wo die Anlage ist. Wenn sie entdecken, was mit ihren Freunden passiert ist, werden sie uns angreifen.«
»Wir werden auf sie vorbereitet sein.«
»Drei gegen fünfzig?«, warf Robertson ein.
»Vier«, sagte Shay, steckte die Daumen in den Pistolengurt und zog daran, wodurch die Pistole in ihrem Halfter herumgeschüttelt wurde.
»Normalerweise plädiere ich für ›Leben und leben lassen‹, aber ich denke, dass diese Möglichkeit nicht mehr in Frage kommt«, sagte Franklin, wobei er die kriegerische Pose des Mädchens ignorierte.
»Ich kann mich nicht einfach auf einem Berg verstecken, wenn meine Familie in Gefahr ist«, sagte Jorge.
Deine Familie ist wahrscheinlich tot, Amigo. Aber Franklin konnte verstehen, dass Jorge sich an die Hoffnung klammerte. Er selbst glaubte fest daran, dass Rachel noch irgendwo da draußen war, selbst wenn alle Anzeichen für das Gegenteil sprachen. »Die Wahrscheinlichkeit, dass Ihre Familie den Weg zurück zur Anlage findet, ist nicht geringer als die, dass Sie zufällig irgendwo im Wald auf sie stoßen. Ich hoffe nur, dass sie nicht mit dieser Frau und ihrem Zapper-Baby zusammen sind.«
»Zapper-Baby?«, fragte Robertson.
»Die Frau, die wir gerettet haben. Wir wussten es nicht, aber sie hatte ein Baby, das ...« Er warf einen Blick auf Shay, bevor er sich für ein Wort entschied. »... betroffen war.«
»Denken Sie, dass das der Grund ist, weshalb sie Ihre Anlage verlassen haben? Für mich hört es sich so an, als ob sie der sicherste Ort diesseits des Mississippi ist, wenn man den Armeebunker mal außer Acht lässt.«
»Der Bunker ist nicht sicher«, sagte Franklin. »Er beschützt einen vielleicht vor dem Bösen von außen, aber nicht vor dem Feind im Inneren. Aber Sie haben gesehen, wie die Zapphirne beginnen, sich zusammenzuschließen. Am Anfang waren sie ziellos, einzeln und gewalttätig. Jetzt trifft man kaum mehr einen Zapper alleine an.«
»Franklins Meinung nach kamen die Zapphirne entweder wegen dem Baby zur Anlage oder die Mutter meinte aus irgendeinem Grund, dass sie das Kind zu ihnen bringen muss«, erklärte Jorge.
Franklin blickte in den Wald um sie herum und schwenkte dabei den Lauf seiner AR-15 hin und her. Ihm gefiel es nicht, auf freiem Feld zu sein, aber auf der Straße kamen sie schneller voran. Sarges Soldaten war die Disziplin, die sie sich womöglich während ihres Dienstes angeeignet hatten, schon längst abhandengekommen, und anstelle von List und Tarnung würden sie wahrscheinlich den einfachsten Weg wählen.
Mit den Zapphirnen hingegen verhielt es sich anders.
Die Nachmittagssonne senkte sich in den Abend und die Vögel verstummten, als die Gruppe an ihnen vorbeiging. Manchmal verlor Franklin den Gipfel von Grandfather Mountain aus den Augen, aber er besaß noch genug Orientierungssinn, sie nach Osten zu führen. Aus der Schotterstraße wurde eine asphaltierte Straße, auf der sie zunehmend auf Zufahrten und Häuser trafen. Falls jemand sie durch die Fenstervorhänge hindurch beobachtete, verzichtete er darauf, auf sich aufmerksam zu machen, und Franklin war nicht in der Stimmung dafür, jedes Haus einzeln zu durchsuchen. Für heute hatte er genug Leichen gesehen.
Die Gruppe erreichte eine Kurve, nach der die Straße stark abfiel und einen Blick ins tief unten liegende Tal ermöglichte. Während der größte Teil des Tals mit Bäumen bewachsen war, folgte das Asphaltband einem sich schlängelnden Fluss, der an beiden Ufern von Weideland umgeben war. Hier und da nisteten Farmhäuser im hohen Gras; die Sonne wurde von den Blechdächern der Scheunen und Nebengebäude reflektiert.
»Dort«, sagte Jorge und deutete mit der Hand.
»Rauch«, sagte Shay. »Aus dem Kamin.«
Franklin schützte seine Augen mit der Hand vor der Sonne und suchte das Tal ab. Er hatte sich geweigert, sich eine Brille verpassen zu lassen, und er hatte keinen Arzt mehr besucht, seit man vor einem Jahrzehnt versucht hatte, ihm Medikamente gegen Bluthochdruck zu verschreiben.
Ich kann nicht sehen und ich kann nicht ernsthaft kämpfen, aber zumindest verfüge ich über Erfahrung. Aber vielleicht ist selbst Erfahrung wertlos, wenn man es mit etwas zu tun bekommt, was es noch nie zuvor gegeben hat.
»Jemand hat ein Feuer gemacht«, sagte Robertson. »Und ich wette ein Glas Geleebohnen, dass es sich nicht um ein Zapphirn handelt.«
Jorge fing an zu rennen. Franklin rief ihm hinterher: »Könnten welche von Sarges Männern sein.«
»Oder Marina und Rosa«, erwiderte Jorge, ohne sein Tempo zu verlangsamen.
Nachdem Jorge außer Sicht war, sagte Franklin: »Er rennt in die falsche Richtung.«
»Was ist, wenn es andere Überlebende sind?«, wollte Shay wissen. »Wir müssen ihnen helfen.«
»Vielleicht brauchen sie keine Hilfe. Vielleicht kommen sie ganz gut alleine zurecht.«
Shay warf ihm einen anklagenden Blick zu. »So wie wir, oder?«
»Hör zu, wir können nicht die ganze verdammte Welt retten. Ich bin darauf vorbereitet, den Winter zu überstehen, und die Anlage kann höchstens ein halbes Dutzend Menschen durchbringen.«
»Ich würde mir nicht so viele Sorgen wegen Überbevölkerung machen«, sagte Robertson. »Sieht so aus, als ob Ihre Anlage mehr Menschen verliert, als sie gewinnt.«
»Scheiße«, sagte Franklin. Er hatte die Anlage mit dem Hintergedanken gebaut, dass er Gesellschaft haben würde, aber er war auch darauf vorbereitet gewesen, wenn nötig allein zu überleben. Nun wurde ihm übel bei dem Gedanken, in der kleinen Hütte zu kauern, während sich draußen der Schnee türmte und Zapphirne durch das Land stolzierten, das er einst geliebt hatte.
Er hatte Rachel eingeschärft, dass ein menschliches Wesen für das, was richtig war, eintreten musste und für die Sachen kämpfen sollte, für die es sich zu kämpfen lohnte. Aber er selbst war nur allzu bereit dazu gewesen, sich zu verstecken und den größten Kampf zu vermeiden, den die menschliche Rasse jemals gekannt hatte – den Kampf für das Überleben der Spezies.
Robertson wartete nicht auf Franklins Antwort. »Komm, Kleine«, sagte er zu Shay. Nachdem er seinen Verband zurechtgeschoben und die Schrotflinte in den Winkel seines Ellbogens gelegt hatte, folgte er Jorge.
Ich werde das wahrscheinlich noch bereuen. Andererseits wird mir dafür vermutlich sowieso nicht lange Zeit bleiben.
Er überprüfte den Ladestreifen seiner AR-15. Nachdem er sich ein letztes Mal umgeblickt hatte, um sicherzustellen, dass sie keine unerwünschte Gesellschaft hatten, ging er hinter ihnen her.