KAPITEL 17
Sie waren etwa zwei Meilen die Straße, die neben dem Fluss entlangführte, hinabmarschiert.
Die Männer, die DeVontay eskortierten, sprachen wenig, und seine Versuche herauszufinden, was sie mit ihm vorhatten, wurden mit düsterem Grinsen bedacht. DeVontays Kleidung war etwas getrocknet, aber die Oktoberluft war frisch geworden. Mit dem drohenden Anbruch der Nacht näherte sich die Temperatur dem Gefrierpunkt und der Wind schüttelte die spröden Blätter, die sich verzweifelt an den schwankenden Bäumen festhielten.
DeVontay wusste nicht, welcher Tag gerade war – derartige Maßeinteilungen der Zivilisation schienen nun auf dem Müllhaufen der Geschichte den Pharaonen und Sanduhren Gesellschaft zu leisten –, aber es durfte bald Halloween sein. Und in diesem Jahr waren alle als Geister der Menschen, die einmal über den Planeten geherrscht hatten, verkleidet.
Unterwegs waren sie an einer Reihe von Häusern vorbeigekommen. Einige von ihnen waren ausgeplündert gewesen, andere heruntergebrannt bis auf skelettartiges Gebälk, aber die beiden Männer hatten kein Interesse gezeigt, sie zu durchstöbern. Ebenso wenig schienen sie sich Sorgen zu machen, angegriffen zu werden, weshalb DeVontay vermutete, dass ihre Gruppe sich ein Gebiet geschaffen hatte, in dem sie sich sicher fühlten.
Einmal hatte der Mann mit der orangen Kappe zu einem der Häuser gewinkt, und ein Mann mit einem Feldstecher um den Hals hatte sich aus einem Fenster im Obergeschoss gelehnt und gerufen: »He, wurdet ihr da draußen gezappt?«
»Ich hab deine Alte abgeschleppt«, rief Orangenkappe zurück. »Aber es hat nicht groß gefunkt.«
»Wenn du sie findest, kannst du sie haben. Als ich sie das letzte Mal gesehen hab, wollte sie mich zerquetschen. Mit ihren ganzen hundertdreißig Kilo.«
»Mann, Larson, wenn du vor der nicht davonlaufen konntest, ist es ein Wunder, dass du überhaupt so lang überlebt hast«, gab der Mann mit der Sonnenbrille hinter DeVontay zurück.
»Von Minute zu Minute«, antwortete Larson. »Sieht aus, als ob ihr Frischfleisch mitgebracht habt.«
»Wo wir gerade von alten Weibern reden ... setz dir nur nichts in den Kopf.«
DeVontay wusste nicht, wie er das Gespräch einschätzen sollte, aber er beschloss, besser den Mund zu halten. Sie gingen an dem Haus vorbei und bogen in eine schmale Schotterzufahrt ein, die sich hoch in die Berge schlängelte. DeVontay fragte sich, an wie vielen anderen Aussichtsposten sie unterwegs vorbeigekommen waren, ohne dass er sie bemerkt hatte.
Die Zufahrt führte durch ein Kiefernwäldchen, das den größten Teil des verbleibenden Tageslichts verschluckte, und mündete dann in ein großes Gelände mit kahler Erde, auf dem sich Traktoren, verrostete Laster auf Betonsteinen und landwirtschaftliche Gerätschaften in willkürlicher Anordnung herumstanden. Es war von einem Maschendrahtzaun umgeben, auf dem sich Spiralen rostigen Stacheldrahts befanden.
Auf der Lichtung gab es auch mehrere Gebäude, hinter deren Glasfenstern trübe Lichter flackerten. Flammen einer Reihe von Fackeln tanzten am Rand des Geländes auf und ab und verbreiteten öligen Dieselrauch. Der dunkle Umriss eines Mannes, der auf der Motorhaube eines Lasters saß, löste sich von der tieferen Dunkelheit und bewegte sich in ihre Richtung. Er hielt eine Öllaterne, deren Licht DeVontays Füße umspielte.
Dann überflutete das strahlende Licht einen Augenblick lang sein Gesicht und blendete sein gutes Auge.
»Ist in besserem Zustand als der letzte, den ihr angeschleppt habt«, sagte der Mann. Seine Stimme war rau vom Alter, aber er sprach mit der Aura von Befehlsgewalt. »Ihr habt also endlich eingesehen, dass es klüger ist, sie hierher marschieren zu lassen, anstatt ihnen gleich die Beine zu brechen.«
»Er war im Fluss«, sagte Orangenkappe. »In einem von diesen spitzen Booten.«
»Ein Kajak«, warf DeVontay ein.
»Oooh, wir haben uns einen Klugscheißer geangelt«, sagte der Mann mit der Laterne. Er trat so nahe an DeVontay heran, dass dieser den Alkohol und den Teer von Zigaretten in seinem Atem riechen konnte, gemeinsam mit einem kränklichen, süßen Geruch, so als ob etwas in seinem Inneren gärte. »Wenn du so klug bist, warum warst du dann mutterseelenallein da draußen unterwegs?«
»Ich war mit ein paar Freunden zusammen, aber ...« Er wollte diesem Hinterwäldler nicht die Befriedigung seines Schmerzes bieten. Es war nicht fair, dass Rachel und Stephen sterben mussten, während diese Arschlöcher überlebten, sich offenbar an das Danach anpassten und es auch noch genossen.
Der Mann mit der Laterne machte eine abschätzige Handbewegung. »Aber sie sind gestorben. Verdammt große Sache. Jeder stirbt einmal. Das ist nun mal so. Die Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass es die anderen zuerst trifft.«
»Taugt er was?«, fragte der Mann hinter DeVontay. Trotz der immer stärker werdenden Finsternis der Abenddämmerung trug er immer noch seine Sonnenbrille.
»Das werden wir morgen herausfinden. Jetzt steckt ihn erst einmal in den Trakt.«
»Hier lang«, grunzte Orangenkappe und wies DeVontay an, zu einem großen Wellblechgebäude mit gebogenen Wänden aus Metall zu gehen. Zumindest stießen sie ihm nicht mit ihren Gewehrläufen in den Rücken.
Die großen Tore des Gebäudes waren aus dicken Brettern gefertigt und mit Stahlplatten verstärkt. Innen hingen zwei Petroleumlampen an der Wand neben dem Eingang und warfen ein schwaches Licht auf einen Mittelgang. Der Boden war mit Schmutz und kleingemachtem Stroh übersät, und der ausgeprägte Geruch von altem Mist und Fell hing in der staubigen Luft. Unter den Geruch gemischt war ein kupferartiger Gestank, der in den Wänden verwurzelt zu sein schien.
Als sich DeVontays Auge angepasst hatte, konnte er sehen, dass sich zu beiden Seiten des Mittelgangs Maschendrahtboxen mit Rahmen aus unbearbeitetem Holz befanden. Ein gewaltiger Haken an einem Flaschenzug hing von den Deckenbalken, und DeVontay wurde klar, dass das Gebäude früher einmal ein Schlachthaus gewesen war.
Zumindest gibt es kein frisches Blut auf dem Boden.
Während die beiden Männer ihn in das Gebäude führten, versuchte DeVontay die Vorstellung eines Hinterwäldler-Kannibalen-Kults, der fröhlich seine eigene Hausmarke von menschlicher Wurst herstellte, zu verdrängen. Trotz des Zusammenbruchs des Vetriebsnetzes für Lebensmittel blieben noch unzählige Konserven sowie die Schätze von herrenlosen Gemüsegärten und Obstbäumen. Zur Hölle, es gab genug Mini-Salamis auf der Welt, um sie alle für weitere einhundert Jahre durchzufüttern.
Aus der Dunkelheit im Inneren des Gebäudes waren leise Stimmen zu hören, und die beiden Männer hielten am Rand des von den Petroleumlampen erhellten Bereichs an. DeVontay blieb ebenfalls stehen und bemühte sich zu verstehen, was die Stimmen sagten. Etwas bewegte sich hinter einem durchhängenden Stück Maschendraht, dann erschien ein milchweißes Gesicht. Bevor DeVontay wirklich etwas erkennen konnte, war es auch schon wieder verschwunden.
Was zur Hölle?
»Geh weiter«, befahl Orangenkappe.
DeVontay rührte sich nicht. »Wer ist da drin?«
»Wirst du rausfinden.«
DeVontay trat einen schlurfenden Schritt nach vorne, aber die Männer blieben, wo sie waren, als ob sie zögerten, die Dunkelheit zu berühren. Oder ihr zu erlauben, sie zu berühren.
DeVontay blieb keine andere Wahl. Selbst wenn es ihm irgendwie gelänge, die beiden Männer niederzuschlagen und aus dem Gebäude – ein Pferch, es ist ein PFERCH – zu entkommen, würde ohne Zweifel ein Dutzend Gewehre auf ihn gerichtet sein, bevor er aus der Anlage fliehen konnte.
Außerdem konnte das, was da hinten war, nicht viel schlimmer sein als das, was sich in der Welt außerhalb dieser Wände befand.
»Bekomme ich keine Lampe?«, fragte DeVontay.
»Du brauchst keine«, sagte der Mann mit der Sonnenbrille. »Glaub mir, es ist besser, wenn du nichts siehst.«
Er wollte auch nichts riechen, aber es ließ sich nicht vermeiden: Trotz des zugigen Tunnels in der Mitte bedrängte ihn der Gestank von Tod und Krankheit und drohte, die Innenseiten seiner Lunge wie eine verdorbene Farbschicht zu überziehen.
Dann presste sich ein weiteres Gesicht gegen das Gitter aus dicken Drähten, und dann noch eines.
Kleine Gesichter.
Kinder.
»Hallo?«, fragte DeVontay.
Aus der Dunkelheit war ein Kichern zu hören, gefolgt von einem Wuseln wie aus einem Nest von übergroßen Ratten. DeVontay dachte an den Ausdruck, den der Wachposten gebraucht hatte: »Frischfleisch.«
Nein. Es sind nur ein paar verängstigte Kinder. Und zumindest funkeln ihre Augen nicht.
Die Männer hatten sich zum Eingang zurückgezogen und eine der Petroleumlampen ausgelöscht, wodurch der höhlenartige Raum noch dunkler wurde.
»Pass auf, dass dich die Bettwanzen nicht beißen«, sagte Orangenkappe. »Oder sonst irgendwas.«
Hinter dem Mann fiel das Tor zu. DeVontay war dankbar für die eine noch brennende Lampe, auch wenn deren Licht bereits schwächer wurde.
»Wer ist da?«, fragte er.
Erneutes Kichern. Das Rasseln und Klappern von etwas Hartem, Trockenem und Sprödem, wie Knochen.
Nein, wie HOLZ.
»Ich werde euch nichts tun«, sagte DeVontay.
Das Kichern schwoll zu einem fröhlichen, gackernden Lachen an.
DeVontay überlegte sich, zur Lampe zurückzugehen und sich dort auf den Boden zu kauern, bis der Rest ihres Brennstoffs aufgebraucht war. Aber wenn diese Männer Gefangene hielten, gab es wahrscheinlich Betten oder zumindest Decken. Doch warum sollten sie einen Haufen Kinder einsperren? Selbst zu besten Zeiten waren Kinder eine Last, eine Belastung für Vorräte und ein permanentes Ärgernis. Herzlose Männer wie die da draußen würden die Schwächsten viel eher töten, als ihnen Schutz, Essen und Mitgefühl zuteil werden zu lassen.
Aber wie herzlos bist DU, DeVontay? Wenn es Kinder sind, brauchen sie wahrscheinlich Trost und Hilfe.
DeVontay dachte an Rachel. Sie würde nicht zögern. Selbst wenn es sie das Leben kosten würde, würde sie alles, was sie hatte, aufbieten, um den Schwachen und Unschuldigen zu helfen. »Scheiß drauf«, fluchte er leise.
»Okay, Kids«, sagte er laut, während er in die Dunkelheit in Richtung der Gesichter ging, die an den Maschendraht gepresst waren. »Ich bin DeVontay, und es sieht so aus, als würden wir heute Nacht gemeinsam campen.«
»DeVontay?«, fragte eine leise Stimme.
Eine bekannte Stimme.
»Stephen?«
Einer der kleinen, weniger dunklen Schatten kam aus der Maschendrahtbox und rannte zu ihm. »DeVontay!«
Trotz der grausigen Umgebung schlug DeVontays Herz schneller, als er sich hinabbeugte und den Jungen umarmte. »He, kleiner Mann, ich dachte schon, ich würde dich niemals wieder sehen.«
»Was, hast du dir auch noch dein gutes Auge ausgestochen?«, sagte der Junge.
DeVontay rieb das fettige, verfilzte Haar des Jungen. »Wo ist deine Panthers-Kappe?«
»Verloren.«
»Wo ist Rachel?«
»Hab ich auch verloren.«