KAPITEL 27
»Ich bin kein Zapphirn«, sagte Rachel und sah noch einmal in den Spiegel. »Ich fühle mich nicht verändert.«
Nun, nicht SEHR verändert. Meine Augen haben seltsame Flecken und mir ist ein bisschen schwindelig, aber ich habe gerade eine ernsthafte Infektion besiegt und wurde durch bizarre Mutanten einer Wunderheilung unterzogen. Dafür gibt es kein medizinisches Lehrbuch. Niemand weiß, wie ich mich fühlen sollte.
»Du benimmst dich fast genauso wie zuvor, allerdings kenne ich dich nicht so gut«, sagte Campbell, der auf dem Bett Platz genommen hatte, damit sie sich im Badezimmer nicht klaustrophobisch fühlen würde. »Aber irgendetwas ... stimmt nicht.«
»Vielleicht der Teil, dass mich diese Zapphirne wie ein Haufen charismatischer Evangelikaler durch ihre Berührung geheilt haben? Tut mir leid, aber ich kann nicht daran glauben, dass Jesus in der Gestalt von zigtausend schmutzigen, aufrecht gehenden Affen, die durch die Sonne von ihren Sünden gereinigt wurden, auf die Erde zurückgekehrt sein soll.«
»Der Professor war der Ansicht, etwas Mystisches gehe vor sich, weshalb er sich selbst als eine Art geistiger Führer für sie betrachtet hat.«
»Ein Sache, die uns die Geschichte lehrt, ist, dass wir unsere geistigen Führer immer ans Kreuz nageln, sei es mit Nägeln oder mit Kugeln.«
»Das trifft vielleicht auf die Menschheitsgeschichte zu. Aber eine Zapphirngeschichte gibt es noch nicht.«
Rachel trat aus dem Badezimmer in das helle Schlafzimmer. »Also sind sie in ein paar Wochen von blutrünstigen Mördern zu missionierenden Medizinmännern geworden?«
Campbell blickte sie mit zusammengekniffenen Augen an wie ein Ehemann, dem gerade eine modische Generalüberholung gebeichtet wurde, der aber nicht wirklich sagen konnte, wofür das Geld ausgegeben worden war. »Ich meine, vielleicht haben sie dich nicht infiziert. Vielleicht gibt es eine zweite Welle von Sonneneruptionen, durch die der Rest von uns gezappt wird. Es gibt ja keine Nachrichtensprecher mehr im Fernsehen, die uns davor warnen könnten.«
»Als ob wir beim letzten Mal zugehört hätten.« Rachel wusste, dass sie Unsinn redete, aber sie wollte den Möglichkeiten, die ihre Symptome nahelegten, nicht ins Auge sehen. Und ihre Grausamkeit gegenüber Campbell war sicherlich ein Verteidigungsmechanismus und kein Symptom einer seltsamen Persönlichkeitsveränderung. Das hoffte sie zumindest. »Sie haben uns vor Satellitenausfällen und Übertragungsproblemen gewarnt, aber niemand hat gesagt, wir würden zurück in eine Steinzeit gebeamt, in der die Raubtiere im Prinzip genauso aussehen wie wir – nur ungepflegter.«
Campbell rieb sich den Bart an seinem Kinn. »Apropos: Denkst du, dass ich mich rasieren sollte? Ich möchte nicht von einem dieser verrückten Überlebensfreaks, denen ich dauernd in die Arme laufe, erschossen werden.«
»Nein, lass ihn wachsen«, sagte sie. »Vielleicht ist das der Grund, weshalb dich die Zapphirne im Farmhaus nicht getötet haben.«
»Daran habe ich auch schon gedacht. Sie haben mich fast wie ein Haustier gehalten, obwohl sie die Leute, die vor mir dort angekommen waren, verstümmelt und getötet haben. Und der Professor hat noch länger mit ihnen gelebt als ich.«
»Du hast gesehen, wie das ausgegangen ist. Tippe, er hat ihre Gastfreundschaft überstrapaziert.«
»Aber sie haben ihn erst angegriffen, als er selbst gewalttätig wurde. Und sie haben uns einfach davongehen lassen, während sie ihn getötet haben. Was denkst du darüber?«
Rachels Magen knurrte und ihr fiel ein, dass sie seit dem Vortag nichts gegessen hatte. Das erklärte – hoffentlich – zumindest zum Teil das Schwindelgefühl. »Ich denke, dass ich Hunger habe. Und das bedeutet, dass ich kein Zapphirn bin, denn es giert mich nicht nach einem blutigen, menschlichen Filet mignon.«
Campbell sprang vom Bett und ging Richtung Flur. »Nun, ich denke, wir können wirklich froh sein, dass sie keine Zombies sind, sonst wären wir vermutlich auf der falschen Seite von Angebot und Nachfrage. Komm, lass uns einen Dosenöffner suchen.«
In der Küche öffneten sie zwei Dosen mit Thunfisch, eine Tüte mit faden Crackern und eine Flasche Traubensaft, deren Inhalt sie in leere Marmeladengläser schütteten. »Es sieht so aus, als ob wir hierbleiben sollten, bis du dich ausgeruht hast«, sagte Campbell mit dem Mund voller trockener Krümel.
»Bis morgen, vielleicht«, antwortete Rachel. Der Thunfisch verpasste ihr einen Energieschub und sie fühlte sich schon kräftiger. »Aber ich muss unbedingt Stephen finden und mit ihm zum Meilenstein 291 gehen.«
»Also, angenommen dein Großvater ist dort, und vielleicht noch ein paar andere Leute. Was ist, wenn sie glauben, dass du ein Zapphirn bist? Wird er dich reinlassen?«
»Grandpa glaubt an Individualismus und persönliche Freiheit. Er besitzt kein Quentchen Rassismus. Er hat immer gesagt, dass das der Teil des Zusammenbruchs ist, auf den er sich am meisten freut: Dass die Menschen zu sehr damit beschäftigt sein werden zu überleben, um sich in die Sachen anderer einzumischen.«
»Ja, aber das war, bevor es eine Zapphirn-Rasse gab. Angesichts der neuen Entwicklung könnte sich seine Haltung geändert haben.«
»Wenn wir genügend Glück haben, dorthin zu gelangen, kannst du ihn ja fragen. Aus sicherer Entfernung.«
Campbell langte über den Tisch und griff nach ihrer Hand. »Ich bin froh, dass es passiert ist«, sagte er. »Nicht die Sonnenstürme oder der Weltuntergangsscheiß, sondern die Tatsache, dass wir es geschafft haben.«
Sie entzog ihm ihre Hand und wischte sie unbewusst an ihrer Hose ab. Campbell bemerkte es und lachte. »Ich glaube nicht, dass du ansteckend bist.«
»Nein, aber vielleicht bist du es. Außerdem haben wir es nur bis hierhin geschafft. Wir sind noch am Leben und wir haben ein Ziel, aber davon abgesehen hab ich keine Hoffnung, was die längere Sicht betrifft.«
»Hey, uns geht’s gar nicht so schlecht. Wir haben ein Dach über dem Kopf, uns den Bauch vollgeschlagen, keine Kreditkartenschulden und wir können die ersten bei den Weihnachtseinkäufen sein.«
»Ich habe nicht nur über meine persönliche Zukunft gesprochen. Ich meinte uns, die Überlebenden. Die menschliche Rasse.«
Campbell stand vom Tisch auf und blickte aus dem Fenster. »Nun, wir sind wahrscheinlich eins zu tausend in der Minderheit, aber das hier ist noch immer unser Planet. Wir stehen an der Spitze der Nahrungskette, bis das Gegenteil bewiesen wird.«
»Du glaubst, wir haben ein göttliches Recht, über die Erde zu herrschen? Eine offenkundige Bestimmung? Gott hat all die Materie im Universum explodieren lassen, nur damit Kreaturen auf einem winzigen Fleckchen am Rand einer obskuren Galaxie denken können, sie seien etwas Besonderes? Alles, was wir mit unserem Wissen und unserer Macht im Davor angestellt haben, war, Waffen anzuhäufen, die Besitzlosen verhungern zu lassen und uns wegen fossiler Brennstoffe zu bekriegen. Hast du dir mal überlegt, dass Gott die Zapphirne eben deshalb geschaffen haben könnte, weil er die Schnauze von uns vollhatte?«
Campbell stupste den Wohnzimmervorhang an und fragte: »Bist du eine Atheistin? Du sprichst wirklich oft von Gott.«
»Ich habe mein ganzes Leben lang zu den Gläubigen gezählt. Ich war eine fromme Christin. Irgendwann in der letzten Zeit ist mir das abhanden gekommen. Es schien so mächtig und so persönlich zu sein, und ich hätte mir nicht vorstellen können, dass es sich wie mit einem Lichtschalter abstellen lässt. Und ich muss leider sagen: Es ist scheiße, wieder alleine zu sein.«
»Du bist nicht allein.«
»In meinem Kopf bin ich es. Und in meinem Herzen. Man kann allein sein, selbst wenn man sich mitten unter Millionen von Menschen befindet.«
Campbell bemerkte einen Gitarrenkoffer, der gegen das Sofa gelehnt war, und öffnete ihn. Er zog eine akustische Gibson hervor, die im einfallenden Sonnenlicht glänzte, und strich sanft über ihre Seiten. Ein disharmonisches Pling füllte den Raum und schmerzte Rachel in den Ohren.
Als er sich auf das Sofa setzte und begann, die Gitarre zu stimmen, sagte Rachel: »Ich hoffe nur, du willst jetzt nicht ›Imagine‹ spielen.«
»Wie wäre es mit ›Give Peace a Chance‹?«
»Wie wäre es mit ›nein‹?«
Campbell entlockte dem Instrument ein paar Akkordfolgen; die angenehmen Schwingungen waren nach den Schreien und Explosionen, den Rufen und dem Stöhnen der letzten beiden Monate willkommen. Campbell öffnete den Mund und sang ein paar bedeutungslose Silben: »Ooh-la-la, oh yeah.«
Er wiederholte die Akkordfolgen und die Gesangslaute, und Rachel summte unwillkürlich mit. Campbell besaß einen kräftigen Bariton mit gerade genug Rauheit, um ihm Authentizität und Wärme zu verleihen. Die akustische Intensivität überwältigte sie, füllte sie mit goldener Flüssigkeit, und Rachel stimmte in den Gesang ein.
Sie bewegte sich mit Wohlgefallen hin und her, der Rhythmus wogte durch ihren Körper, bis ihre Finger und Lippen prickelten. Die Schwingungen, die in ihrer Kehle aufstiegen, waren in ihrem Genuss beinahe sexuell, und sie gab sich ihnen hin.
»Oh yeah, oh yeah, oh yeah, oh yeah–«
»Rachel?«
»–oh yeah, oh yeah, oh yeah, oh yeah–«
»Rachel!«
Sie verstummte und sah sich blinzelnd im Zimmer um, das sich verändert zu haben schien. Die Wände wurden vom Widerhall geschüttelt, die Decke hob sich zu einem Dom und die Laute »oh yeah« flossen noch immer über ihre Lippen.
Die Gitarre lag auf dem Sofa und Campbell befand sich dreißig Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. In seinen Augen zeichnete sich Besorgnis ab. »Ich habe vor zwei Minuten mit dem Spielen aufgehört.«