KAPITEL 21

 

»Sieht so aus, als ob wir vom Regen verschont bleiben«, sagte Franklin, als er den grauen Morgenhimmel unter die Lupe nahm. »Wir haben Glück.«

»Das erste Mal seit dem Sommer, dass ich das Wort ›Glück‹ höre«, sagte Robertson. »Natürlich nur, wenn man Un-glück nicht mitzählt.«

Die Gruppe war im Morgengrauen aufgestanden, abgesehen von Jorge, der die letzte Wache übernommen hatte und bereits wach war. Sie versammelten sich auf der Veranda des Häuschens und richteten ihre Rucksäcke, die prall gefüllt waren mit Essen, das sie aus den Schränken geplündert hatten. Franklin hatte eine vereinfachte Karte der Gegend gezeichnet, auf der Grandfather Mountain und Sugar Mountain als Orientierungspunkte dienten. Der Blue Ridge Parkway war in Wirklichkeit sehr viel kurvenreicher, als er ihn dargestellt hatte, aber solange sie Richtung Norden gingen, würden sie irgendwann auf ihn treffen, und dann konnten sie für den Rest des Wegs einfach die Meilensteine abzählen.

»So wie ich es sehe, sollten wir nach Stonewall rübergehen und dort den Appalachian Trail nehmen«, sagte Franklin. »Dadurch wird unser Weg zwar ein paar Meilen länger, vielleicht brauchen wir auch einen Tag mehr, aber es verringert die Wahrscheinlichkeit, dass wir ungebetene Gesellschaft bekommen.«

»Was gibt es in Stonewall?«, fragte Jorge. »Ich kenne nur die Gegend, die zu Tennessee gehört.«

»Dann ist das meiste von dem, was sie kennen, Unfug«, sagte Franklin. »Die Leute dort glauben immer noch, dass sie den Bürgerkrieg gewonnen haben.«

»Ob sie auch denken, dass sie diesen Krieg gewonnen haben?«, warf Robertson ein.

»Wir ziehen nicht in den Krieg. Wir überlisten ihn. Wie Robertson gestern gesagt hat, ist Stonewall nur eine kleine Gemeinde in den Gebirgsausläufern, nicht viel mehr als ein paar Läden, die Freiwillige Feuerwehr, ein Lebensmittelhändler und so weiter. Wir können darum herumgehen oder einen Halt einlegen, wenn wir Vorräte brauchen.«

»Je öfter wir anhalten, desto größer ist die Chance, dass wir jemandem begegnen«, sagte Shay. Sie hatte sich vor dem Badezimmerspiegel die Haare gekämmt und sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, wodurch sie irgendwie älter aussah. Ihr Unterarm ruhte auf der Pistole in ihrem Halfter; sie sah aus, als ob sie sich an die Gegenwart der Waffe gewöhnt hätte. Franklin hoffte, dass sie Gelegenheiten für Schießübungen haben würden, wenn sie in eine abgelegene Gegend kamen, in der sie den Lärm riskieren konnten.

»Wir wollen niemandem begegnen«, betonte Franklin. »Es würde sich höchstwahrscheinlich nur um Plünderer oder Soldaten handeln.«

»Aber es gibt die Möglichkeit, dass jemand meiner Familie begegnet ist«, sagte Jorge.

»Wir können nicht einfach anderen Menschen trauen.« Franklin nickte Richtung Shay. »Wir haben schon gesehen, was dann passiert.«

»Ich denke, Sie sind einfach – wie sagt man, paranoid?«

»Und dadurch bin ich viel länger am Leben geblieben als die meisten anderen Menschen auf der Welt.«

»Was ist das für eine Art von Leben, wenn man sich versteckt wie ein gejagtes Tier?« Jorge trat von der Veranda und ging durch den Vorgarten.

»Falsche Richtung«, rief Franklin ihm hinterher.

»Wenn Sie nach Norden gehen, um keine Menschen zu treffen, gehe ich Richtung Süden. Wo Menschen sind.«

Robertson blickte Shay an und schüttelte den Kopf. »Wir sind es ihm schuldig.«

Die beiden folgten Jorge. Franklin stampfte mit dem Fuß auf den Kiefernboden der Veranda. »Gottverdammt, hombre, eines Tages werden Sie eine Ader in meinem Gehirn zum Platzen bringen.«

Shay drehte sich um und ging rückwärts, während sie ihn provozierte: »Ich dachte, Sie würden länger leben als die meisten anderen?«

Franklin brummte ein abschließendes »Verdammt«, in erster Linie zum Wohle der Junkos und Waldsänger, die in den hohen Bäumen saßen. Er überlegte sich, allein zu seiner Anlage zurückzugehen.

Ich schulde es Rachel. Ich sollte dort sein, falls – WENN – sie kommt. Die Familie hat Vorrang, das habe ich immer gesagt.

Aber warum kümmerte es ihn dann so sehr, dass Jorge seine Familie über die eigene Sicherheit stellte? Weil Franklin im Grunde seines Herzens ein Feigling war. Er hatte sich von seiner Familie isoliert und sich eingeredet, er opfere sich für sie auf und plane für eine Zukunft, von der niemand von ihnen hoffte, dass sie jemals eintreten würde.

In Wahrheit war es für ihn einfacher, alleine zu leben, als mit seinen Mitmenschen auszukommen. Die körperlosen Stimmen der Überlebensfreaks mit Amateurfunkgeräten waren eine bessere Gesellschaft als jemand, der sich als lästig und anspruchsvoll entpuppen konnte.

Er nahm die Verfolgung der Gruppe auf, die mittlerweile die Straße ins Tal erreicht hatte und bergab ging, wo es mehr Häuser gab. Ich werde es vermutlich bereuen. Aber immerhin werde ich dann die Gelegenheit für ein letztes »Ich hab’s euch ja gesagt« bekommen.

Er holte sie ein, als Jorge durch das Beifahrerfenster eines Chevrolet Suburban blickte, der im Straßengraben gelandet war. Die Leiche am Steuer des Geländewagens war in einem derart fortgeschrittenen Zustand der Verwesung, dass sogar die Fliegen sie schon aufgegeben hatten.

»Der Schlüssel steckt«, sagte Jorge. »Wäre es nicht prima, damit in die Stadt zu fahren?«

»Jeder einzelne Schaltkreis in diesem Ding ist durchgebrannt«, erklärte Franklin.

»Ich habe gelesen, dass ältere Fahrzeuge ohne elektronische Bauteile einen Angriff mit Nuklearwaffen überstehen würden«, sagte Robertson.

»Als die amerikanische Regierung Fahrzeuge in der Nähe einer Detonationsstelle getestet hat, haben viele von ihnen nach der Explosion noch funktioniert«, sagte Franklin. »Das Problem war nur, dass die Fahrzeuge ausgeliehen waren und nach dem Test zurückgegeben werden mussten. Deshalb hat man sich davor gefürchtet, sie zu nahe an den Nullpunkt zu bringen. Als die Russen einen echten Test durchgeführt haben, ist keines der Fahrzeuge mehr angesprungen. Nur ein weiterer Beleg dafür, dass die Wissenschaft bei weitem nicht immer so klug ist, wie die Menschen behauptet haben.«

Das ließ ihn an etwas denken, das Rachel einmal im frühreifen Alter von elf Jahren gesagt hatte: »Wenn man darüber nachdenkt, dann muss es doch jemanden geben, der der dümmste Wissenschaftler der Welt ist, oder?«

Das kannst du laut sagen, Mäuschen.

»Warum haben Sie kein Auto in Ihren abgeschirmten Kasten in der Anlage getan?«, wollte Jorge wissen.

»Mein Faradaykäfig. Sie haben gesehen, wie klein der war, und schon so hat er mich zwanzigtausend Dollar gekostet. Mal abgesehen davon, dass ich das Material dazu den Berg hochschleppen musste. Ich hätte ein Motorrad verstauen sollen oder zumindest Lichtmaschinen und Teile für die Zündung, aber, zur Hölle ... niemand von uns hatte erwartet, dass das Ende so bald kommen würde, nicht einmal ich.«

Als sie weiter die Straße entlanggingen, fragte Shay: »Aber können nicht andere auf diese Idee gekommen sein? Bestimmt gab es doch ein paar – nichts für ungut – Überlebensspinner, die Autos verstaut haben. Warum sehen oder hören wir keine Fahrzeuge?«

»Unser Kumpel Sarge hatte in seinem Bunker einen elektrischen Generator und andere schöne Dinge wie Lampen und Funkgeräte weggepackt. Er glaubt außerdem, dass die Regierung eine riesige abgeschirmte Einrichtung mit Hubschraubern, Panzern und anderem Spielzeug für die Massenkontrolle in der Nähe von Washington betrieben hat. Das würde mich überhaupt nicht überraschen, aber ich vermute, die Straßen bei den Großstädten sind alle blockiert, und überhaupt, wenn man überlegt, wieviel Sprit so ein Heli frisst ... Selbst der Präsidentenarsch hätte – falls er nicht zum Zapphirn geworden ist – große Schwierigkeiten, eine Spritztour damit zu rechtfertigen.«

»Ich wünschte, wir hätten unsere Pferde«, sagte Jorge.

Shay riss vor Freude die Augen auf. »Ihr habt Pferde

»Wir haben sie bei der Anlage ausgesetzt, damit sie frei herumlaufen können«, sagte Franklin. »Viehbestand bedeutet eine Menge Aufwand. Aber ich vermute, deine Generation wird das schnell genug lernen müssen. Man kann nicht mehr einfach alles kurzerhand im Internet nachschlagen.«

»Denken Sie, es ist klug, hier unter freiem Himmel herumzuspazieren?«, fragte Robertson.

Franklin zuckte mit den Schultern. »Kommt darauf an. Wenn Zapper aus dem Wald hervorgestürzt kommen, ist es ein kluger Schachzug. Aber wenn jemand anfängt, von einem der Häuser aus auf uns zu schießen, sind wir absolute Volltrottel.«

»Ich habe niemanden gebeten, mit mir zu kommen«, betonte Jorge. »Das ist meine Pflicht. Und nur meine.«

»Wir sind besser dran, wenn wir zusammenbleiben«, sagte Franklin.

Jorge schüttelte den Kopf. »Hatten Sie nicht gesagt, dass Sie nicht den Helden spielen wollten?«

»Ich wäge nur die Chancen ab. Wenn ein Zapper aus dem Gebüsch hervorkriecht, zähle ich auf Sie als Köder.«

Shay hielt an. »Riecht ihr das auch?«

Franklin schnüffelte an seinen Unterarmen. »Vielleicht hätte ich in dem Häuschen die Seife benutzen sollen.«

»Rauch«, sagte sie. »Ölig, nicht wie von Holz.«

Franklin hielt die Nase gegen den Wind. Der Geruchssinn gehörte zu den ersten, die mit zunehmendem Alter schwanden, aber selbst er konnte es riechen – ein bitterer, beißender Gestank wie von durchgeschmorten Kabeln. Dann sahen sie den Rauch in einer grauen Säule am Ende des Tals aufsteigen.

»Weg von der Straße«, sagte Franklin, aber die anderen suchten bereits Deckung zwischen den Kiefern, die jenseits des Straßengrabens und der Zäune standen.

Robertson zog ein Fernglas hervor und stellte die Linsen scharf. »Die Straße ist blockiert. Sieht so aus, als ob jemand ein paar Autos quergestellt und sie angezündet hat.«

Franklin schnappte sich das Fernglas, um selbst einen Blick auf die Straße zu werfen. »Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass uns jemand eine weitere Botschaft schicken wollte.«