KAPITEL 19

 

»Sie ist endlich eingeschlafen«, flüsterte Campbell dem Professor zu. »Oder zumindest weggetreten.«

»Die Infektion fordert ihren Tribut, auch wenn das Fieber gesunken ist.« Der Professor war in ein anderes Bettlaken gewickelt, unter dem er trotz der Oktoberkälte nackt war. »Sie wird vermutlich noch ein paar Tage lang schwach sein, bis sie sich erholt hat.«

»Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich es glauben kann – obwohl ich es mit eigenen Augen gesehen habe.«

»Sie operieren auf einer Art Quantenebene«, sagte der Professor. »Das werden wir niemals verstehen können.«

»Aber wir müssen eine Erklärung finden. Falls uns das nicht gelingt, werden wir es als Wunder bezeichnen müssen.«

»In der Wissenschaft ist die einfachste Erklärung oftmals die richtige. Und ›Wunder‹ ist dafür als Wort ebenso gut wie irgendein anderes.«

Die Zapphirne gingen noch immer ruhelos im Haus hin und her. Das einzige Licht im Wohnzimmer kam von einer Kerze, die schwach auf dem Kaminsims brannte. Allerdings wurde die Dunkelheit von den unheimlichen Sternbildern durchbrochen, die die Augen vorbeigehender Zapphirne produzierten. Campbell und der Professor saßen auf dem Boden neben dem Sofa. Campbell fröstelte trotz seiner zusätzlichen Decke. Der Professor musste am Erfrieren sein. »Was ist mit Rachels Augen?«

»Vielleicht hat die von den Zapphirnen durchgeführte Energieübertragung sie irgendwie verändert«, meinte der Professor. »Wenn die Zapphirne durch den elektromagnetischen Impuls der Sonnenstürme zu dem wurden, was sie jetzt sind, könnten sie selbst die elektrischen Impulse in Rachels Gehirn gestört oder verändert haben. Vielleicht sogar ihren ganzen Körper auf atomarem Niveau.«

»Das Handauflegen«, sagte Campbell. »Ich dachte, das gehört zur Kompetenz von charismatischen Predigern, die mit Schlangen hantieren.«

»Es sind Geschöpfe Gottes«, sagte der Professor. »Sie führen sein Werk aus.«

Campbell gefiel die verzückte Wehmut in der Stimme des Professors nicht. Für einen Haufen Mutanten den Erlöser zu spielen war eine Sache, aber sie selbst zu Erlösern zu stilisieren war ein ganz neuer Grad des Bizarren.

Und Campbell würde es nicht ertragen können, wenn die Dinge noch bizarrer wurden.

»Ich werde von hier abhauen«, sagte Campbell, auch wenn er sich nicht sicher war, ob er dem Professor trauen konnte. Dessen Loyalität lag nun womöglich bei den Zapphirnen. »Sobald es Rachel besser geht, werden wir uns auf den Weg zum Meilenstein 291 machen.«

Die Zapphirne unterbrachen ihr Umherschreiten, und Campbell fragte sich, ob sie ihn vielleicht irgendwie gehört und verstanden hatten, obwohl er ausgesprochen leise sprach.

»Sie spüren eine Bedrohung«, erklärte der Professor. »Sie haben eine gute Intuition. Deshalb reagieren sie auf unsere Taten.«

»So wie damals, als sie deine Freunde in Stücke gerissen haben? Arnoff, Pamela und Donnie würden deiner Analyse vielleicht nicht zustimmen.«

»Sie waren nicht meine Freunde. Wir waren nur zusammen unterwegs.«

»Wir sind alle nur zusammen unterwegs. Auf dem schönen großen Raumschiff Erde–«

Der Professor legte eine Hand auf Campbells Schulter. Dessen Ausbruch hatte dazu geführt, dass die Zapphirne sie eingekreist hatten. Obwohl sie noch nicht aufgeregt waren, lag eine elektrische Spannung in der Luft, beinahe wie ein leises Brummen. Rachel stöhnte und bewegte sich im Schlaf.

»Sie werden dich nicht gehen lassen«, flüsterte der Professor.

»Ich werde nicht um Erlaubnis fragen.«

»Was ist, wenn ich dich nicht gehen lasse?«

»Nur weil du hier schon länger feststeckst als ich, macht dich das noch nicht zum Experten. Ich denke, niemand weiß genau, was eigentlich los ist.«

»Du wirst nicht gehen.«

Campbell erhob sich in der Dunkelheit und die Zapphirne umzingelten ihn.

»Und du kannst Rachel nicht mitnehmen«, fügte der Professor hinzu. »Sie ist jetzt eine von ihnen.«

Campbell konnte gerade noch ihr blasses Gesicht erkennen. Ihre Augenlider zuckten. Träumte sie vom Davor? Oder bildeten sich neue Bilder und Vorstellungen aufgrund des Einflusses der Heilung durch die Zapphirne?

Der Professor ist ein hoffnungsloser Fall. Aber Rachel ... Wenn uns die Flucht gelingt, wird sie vielleicht keine von ihnen werden.

Campbell musste sich selbst eingestehen, dass er es ohne sie nicht bis zum Meilenstein 291 schaffen würde. Auch wenn sie eingeräumt hatte, den genauen Ort der Anlage ihres Großvaters nicht zu kennen, wusste sie in der Gegend doch viel besser Bescheid als er. Und überhaupt wollte er nicht einmal für eine Minute alleine sein.

Er würde warten müssen, bis sie sich vollständig erholt hatte. Wenn sie jetzt eine waghalsige Flucht unternahmen, würden die Zapphirne vielleicht durchdrehen, während der Professor sie behindern würde, so gut er konnte.

»Okay«, sagte Campbell und setzte sich wieder auf den Boden. »Du hast Recht.«

»Ich denke noch immer, dass wir sie unterweisen können«, sagte der Professor. »Wir können eine bessere Welt schaffen, eine Welt ohne all die Fehler der Vergangenheit.«

»Aber wer bestimmt, was die Fehler waren?«

»Im Laufe der Geschichte scheinen die bösen Männer immer dann auf den Plan getreten zu sein, wenn die Umstände dafür reif waren. Das gilt aber auch für die guten Männer.«

Campbell nickte in Richtung der dunklen Silhouetten, die rastlos im Wohnzimmer herumirrten. »Was ist mit diesen Dingern? Nennen wir die jetzt auch ›Männer‹? Und was ist mit den Frauen? Sie haben keinen Sex, also werden sie sich nicht fortpflanzen. Sie essen kaum etwas, scheinen aber doch bei Kräften zu bleiben. Wenn das der Gipfel der evolutionären Nahrungskette ist, werden wir wahrscheinlich so oder so als Würstchen enden.«

»Sprich nicht so laut.«

»Die Ureinwohner werden unruhig, hä? Ich dachte, du kannst sie mit einer Handbewegung kontrollieren. Oder einem kurzen Gebet.«

Die Zapphirne murmelten nun. Sie wiederholten keine ganzen Wörter, sondern Bruchstücke von Silben und Tönen. Im Obergeschoss trommelten ihre Füße auf dem Boden, als ob diejenigen dort oben die Erregung ihrer Brüder unten spüren konnten. Campbell wollte nicht länger auf eine Gelegenheit zur Flucht warten. Er war bereit dafür, diese futuristische Irrenanstalt jetzt sofort zu verlassen.

»Du erschreckst sie«, sagte der Professor. »Vielleicht sind sie alle miteinander verbunden. Nicht telepathisch, sondern auf Gefühlsebene. Das könnte ihre allgemeine Wut unmittelbar nach den Sonnenstürmen erklären, als ihre menschlichen Gehirne ausgelöscht wurden und nur ein grobes, primitives neuronales Netzwerk zurückblieb.«

»Egal«, sagte Campbell und zog an Rachels Hand. Sie blinzelte; die winzigen leuchtenden Flecken schwammen noch immer in ihren Augen. »Wach auf, Rachel. Wir verschwinden von hier.«

»Wa ... wo sind wir?«, fragte sie.

Zumindest kann sie in ganzen Sätzen sprechen. Also wurde sie nicht vollständig gezappt.

Er war sich nicht sicher, was er getan hätte, falls sie seine Worte wiederholt hätte. Vielleicht hätte er sie zurückgelassen und wäre alleine in die Nacht geflüchtet.

»Kannst du aufstehen?«, flüsterte er ihr zu. Sie nickte, noch immer angeschlagen.

»Lass das«, sagte der Professor. »Du kannst sie ihnen nicht wegnehmen.«

»Sie besitzen sie nicht. Und sie besitzen mich auch nicht. Du kannst bleiben, wenn du willst, aber wir verschwinden von hier, so oder so.«

Campbell kniete sich hin und half Rachel dabei, sich aufzusetzen. Der Professor stand über ihnen und rief: »Campbell, tu das nicht. Denk an die Familie.«

Der Tonfall des Mannes erinnerte Campbell an den berüchtigten Kultführer Jim Jones, der Hunderte der Mitglieder seines Peoples Temple dazu verführt hatte, vergifteten Saft zu trinken. Campbell hatte eine Dokumentation über die Tragödie gesehen, und Jones hatte zu dem gleichen flehenden, fast schon jammernden Tonfall gegriffen, um den Massenselbstmord zu beschleunigen.

»Denk an das, was wir erreichen können, wenn wir bleiben und sie unterweisen«, sagte der Professor.

»Kannst du aufstehen?«, flüsterte Campbell Rachel noch einmal zu. Er würde sie von hier wegbringen, selbst wenn er sie davonzerren musste.

Sie antwortete nicht, sondern packte stattdessen seine Schulter und schwang die Beine vom Sofa. Das Zimmer schien sich mit Zapphirnen zu füllen. Ihr Atem war wie ein aufkommender Wind. Bruchstücke kehliger Geräusche stiegen aus den Tiefen ihrer Rachen empor. Campbell blickte sich um und sah mehr als zwei Dutzend Zapphirne. Ihre seltsam funkelnden Augen waren auf ihn gerichtet.

»Wohin gehen wir?«, fragte sie noch immer leicht benommen, während sie ihre Beine vorsichtig belastete.

Campbell griff nach ihrer Hüfte und half ihr beim Aufstehen. »Meilenstein 291.«

»Bruder, verrate uns nicht«, sagte der Professor.

»Warum bewahrst du nicht einfach die Ruhe? Wir verschwinden von hier, und du kannst bleiben und bis ans Ende der Zeit mit deinem kleinen Kult spielen.«

Campbell legte Rachels Arm um seine Schulter, damit sie sich aufstützen konnte. »Schau sie nicht an«, sagte er. »Komm einfach mit mir.«

Er war sich nicht sicher, ob die Zapphirne sie so einfach gehen lassen würden. Ihre gewalttätigen Triebe waren zwar abgeklungen, aber sie hatten ein bizarres, besitzergreifendes Verhalten an den Tag gelegt. Rachel war buchstäblich zum Farmhaus getrieben worden, und die Zapper schienen jede Bewegung Campbells genau zu beobachten.

Die erste Front von Zapphirnen befand sich nur einen Meter vor ihnen; sie standen Schulter an Schulter. Ihre surrealen Augen schimmerten wie Miniaturausgaben außerirdischer Höllen.

Campbell zog ein wenig die Schultern ein und drängte sich durch sie hindurch, während er die schwache Rachel stützte. Er erwartete, dass die Zapphirne ihm den Weg versperren oder ihn vielleicht sogar angreifen würden. Aber er hatte keine Angst mehr, und er fragte sich, ob der Professor hinsichtlich ihrer Gefühlsverbindung Recht hatte – womöglich reagierten sie auf Wut oder Zorn, und diese Emotion der Entschlossenheit und des Trotzes war neu für sie. Sie hatten noch keine Gelegenheit gehabt, einen Abwehrmechanismus dagegen zu entwickeln.

Die erste Reihe von Zapphirnen teilte sich widerstrebend, dann waren Rachel und er völlig von ihnen eingekesselt. Die Mutanten drängten sich an sie heran, aber sie waren eher unruhig als wild. Rachel war wahrscheinlich nicht wach genug, um ihre Nähe zu registrieren, was Campbell als gutes Zeichen wertete. Es bedeutete, dass sie keine Furcht zeigen würde.

»Nein!«, rief der Professor.

Die Zapphirne fingen sofort damit an, das Wort zu wiederholen, und es wogte wie ein verrücktes Mantra die Treppe hoch und breitete sich über das ganze Haus und sogar nach draußen aus. Inmitten der Kakofonie eilte Campbell Richtung Flur, wo weitere Zapphirne auf und ab gingen.

»Campbell«, sagte der Professor.

Campbell blickte über Rachels Schulter zurück und sah, wie sich das Licht der Kerze in etwas Silbernem spiegelte. Das Messer.

Der Professor fuchtelte mit der Klinge in der Luft herum und drohte ihm: »Gib sie frei oder ich werde dich erstechen.«

Die Zapphirne schlossen ihre Schlachtreihe und bildeten eine Mauer aus lebendigem Fleisch zwischen Campbell und dem Professor.

Während die Zapphirne ihr endloses »Nein, nein, nein« wiederholten, drängte sich der Professor gegen sie, um zu Campbell und Rachel zu gelangen. Campbell wandte sich dem Professor zu und fing an, rückwärts zu gehen. Rachels Gewicht lastete auf seiner Schulter. Sie bewegte nun die Beine und war dabei, das Gleichgewicht zurückzugewinnen, aber sie würden nicht in der Lage sein, vor dem Professor davonzulaufen.

»Du versetzt sie in Aufregung«, sagte Campbell im Bemühen, die Logik des Professors gegen diesen zu wenden. Der Professor hatte die Augen und den Mund weit aufgerissen. Sein vor Wut verzerrtes Gesicht verdeutlichte, dass es ihm nur darum ging, seinen unnatürlichen Kult aufrecht zu erhalten.

Als er sich zu Campbell durchzukämpfen versuchte, senkte er das Messer und schnitt damit in den Oberarm eines weiblichen Zapphirns. Die Mutantin gab keinen Laut von sich, aber die sich wiederholenden Stimmen verstummten alle gleichzeitig. Im Haus breitete sich eine gespenstische Stille aus, die nur vom leisen Stöhnen der hölzernen Außenverkleidung, gegen die der Wind blies, gebrochen wurde.

Dann packte die verletzte Zapphirnfrau den Arm des Professors, zog ihn zu sich und brachte ihn dadurch aus dem Gleichgewicht. Ein anderes Zapphirn griff nach dem Messer und schnitt sich an mehreren Stellen in die Hand, bevor es ihm schließlich gelang, dem Professor das Messer zu entwenden. Der Geruch von Blut erfüllte die Luft und gesellte sich zu dem Schmorgestank. Noch mehr Zapphirne drängten in das Wohnzimmer.

Campbell ergriff die Gelegenheit, um Rachel den Flur entlang zur Küche zu führen. Der Schrei des Professors war schrill und sich überschlagend, und ein letzter Blick zurück ließ Campbell sehen, wie eines der Zapphirne mit dem Messer in den Rücken des Professors stach, während die anderen das Bettlaken von ihm rissen und nach seinem nackten Körper griffen.

Zum Glück versteht Rachel nicht, was gerade passiert.

Auf dem Flur kamen ihnen Zapphirne entgegen, die Richtung Wohnzimmer taumelten, als ob sie durch die Gewalt angezogen wurden. In der Küche stand die Hintertür des Hauses offen und Campbell strebte darauf zu. Nahrung oder Ausrüstung waren ihm egal. Sie konnten sich darüber den Kopf zerbrechen, wenn sie erst einmal von der Farm geflohen waren.

Und falls ihnen die Flucht von der Farm nicht gelingen würde, war Nahrung das kleinste ihrer Probleme.

Der Professor schrie erneut. Dieses Mal entwickelte sich der Schrei tatsächlich zu einem schrillen Gelächter von gestörter Verzückung.

»Tötet euren Erlöser«, heulte er. »So steht es geschrieben, und so – aaahhh ... VERDAMMT ... so soll es sein!«

»So soll es sein«, verkündete eine hohe weibliche Stimme beinahe glückselig. Die Wendung wurde von anderen aufgegriffen, von einem tiefen Bass, von einem Alt, und dann erhob sie sich zu einem sich wiederholenden Gesang.

Der Kerl hat genau das bekommen, was er wollte. Hat endlich seine wahre Berufung gefunden. Nun, ruhe in Frieden, du durchgeknalltes Stück Scheiße.

Draußen war das Gras feucht vom Tau und bald waren ihre Hosen bis zu den Knien durchnässt. Dunkle Gestalten bewegten sich in der Dunkelheit an ihnen vorbei. Die Zapphirne auf dem Weg zum Farmhaus schenkten den beiden torkelnden Menschen keine Beachtung. Einmal taumelte Rachel gegen ihn und sie wären beinahe zu Boden gefallen, aber er konnte sie festhalten und aufrichten.

Ihre Gesichter kamen sich so nahe, dass er tief in die flackernden Glutöfen ihrer Augen blicken konnte. Er fragte sich, was sich hinter ihnen abspielte und was aus Rachel werden würde, bevor sie zum Meilenstein 291 gelangten.

Im Augenblick spielte es keine Rolle. Während ihre nackten Füße durch das hohe Gras wateten, dachte er nur daran, das Versteck des tiefschwarzen Waldes, der sich vor ihnen erhob, zu erreichen und genügend Abstand zu gewinnen, um die gequälten Schreie des Professors nicht mehr hören zu müssen.