KAPITEL 40
Noch Stunden nachdem die schrecklichen Geräusche vom Nebel verschluckt worden waren, hallten die Schreie durch DeVontays Schädel.
So viel zu meinem gottverdammten magischen Auge. Das hab ich nicht kommen sehen.
Die schrecklichen Ereignisse hatten sich zu einem einzigen Zeitlupen-Albtraum verbunden: Die Kinder lagen blutüberströmt und reglos am Boden, Angelique schoss Kiki in den Kopf, die Zapphirne kamen von überall her aus der Dunkelheit, Roosters Männer versuchten verzweifelt, sie abzuwehren.
DeVontay hatte sich schnell genug aus seiner Erstarrung gelöst, um Stephen zu packen, ihn auf den Boden zu ziehen und ihn mit seinem Körper zu beschützen, bis keine Kugeln mehr herumflogen. Angelique hatte zwei Zapphirne aus kürzester Distanz erschossen, dann wurde sie unter einer hin- und herwogenden Armee von ihnen begraben, während sie um sich trat, fluchte und schließlich kreischte. Die Zapphirne hatten ihre Worte nachgeahmt, bis Angeliques Schreie von den hässlichen, feuchten Geräuschen der Gewalt ersetzt wurden. DeVontay hätte schwören mögen, dass er hören konnte, wie ihre Sehnen schnalzten und Knochen krachten, als die Zapphirne an ihrem Körper zerrten.
Er hatte die Hand auf Stephens Mund gelegt, damit der Junge nicht schreien würde. Seine Hoffnung war, dass die Zapphirne mit ihrer feindseligen Beute zu beschäftigt waren, um sie zu bemerken, aber er konnte nicht für den Rest der Nacht auf den Schutz des Nebels bauen. Deshalb hatte er Stephen ins Ohr geflüstert und ihn angewiesen, langsam in den Wald zu krabbeln. »Was auch immer du tust, blick nicht nach oben und schau die toten Menschen nicht an.«
Und so waren sie aus dem Massaker um sie herum herausgekrochen. Einmal mussten sie über die Leiche eines jungen Mädchens klettern, das auf dem Bauch lag und ein großes, rotes Loch im Rücken ihres weißen Pullovers hatte. Stephen wimmerte und erstarrte, aber DeVontay trieb ihn an, bis sie die Gewalt im Nebel und der Dunkelheit hinter sich gelassen hatten. Sie kamen jedoch nicht schnell genug voran, um den Geräuschen und den Gerüchen zu entfliehen.
Als sie die Bäume erreicht hatten, hätte DeVontay am liebsten zu rennen begonnen. Aber er konnte Schritte hören, die die feuchten Blätter auf dem Waldboden aufwirbelten, und ihm wurde klar, dass noch mehr Zapphirne auf das Geräusch der Schüsse reagiert hatten und sich als Pilger auf dem heiligen Pfad zum Tempel des Blutes befanden.
Das Beste – und das Schlimmste –, was sie tun konnten, war, sich zu verstecken und abzuwarten, tief zwischen verdrecktes Unkraut, verrottete Baumstämme und wohlriechende Tannenzweige gepresst. Stephen schien unter Schock zu stehen und DeVontay flüsterte ihm zu, um ihn zu beruhigen. Aber seine Worte der Ermutigung waren so inhaltsleer, dass er fast laut losgelacht hätte. Der Junge war Zeuge des wahren Zustands der Welt geworden und es gab keine Wörter, die den Eindruck ausradieren konnten, den die von Furcht geprägte Verwirrung der Kinder, als sie erschossen wurden, hinterlassen hatte.
»Es ist meine Schuld«, flüsterte Stephen.
»Nein, ist es nicht.«
»Ich bin zu ihnen zurückgerannt. Ich hätte–«
»Nein, kleiner Mann. Wenn du dich schuldig fühlst, muss ich mich auch schuldig fühlen. Denn ich habe Rooster zur Gruppe gebracht. Er hatte versprochen, sich um uns alle zu kümmern.«
Und ich tippe, auf seine Art und Weise hat er das auch getan.
»Glaubst du, dass noch jemand fliehen konnte?«, flüsterte Stephen mit einem herzzerreißenden Anflug von Hoffnung in der Stimme.
DeVontay machte ihnen beiden etwas vor. »Vielleicht. James ist ziemlich schnell gerannt, und ich konnte nicht alles sehen, was passiert ist.«
»Wie lange müssen wir hier warten?«
»Bis sie fertig sind.«
Das eigentliche Blutbad und der anschließende Kampf hatten nur etwa drei Minuten gedauert, aber die Zapphirne gingen weiterhin zwischen den Bäumen hin und her. Schließlich, kurz vor Morgengrauen, hob DeVontay den Kopf und kroch zum Waldrand, um einen Blick auf die Wiese zu riskieren. Gestalten bewegten sich im kalten Dampf des Morgens wie Sanitätspersonal, das nach einem Angriff die Kriegsopfer einsammelte.
Er sah, wie Leichen hochgehoben und davongetragen wurden; die Zapphirne, die vergnügt »Stirb« gerufen hatten, waren nun in in unechter Feierlichkeit stumm. Oder vielleicht brauchten die Zapphirne Geräusche als Antrieb, weshalb sie von den Toten um sie herum nicht inspiriert wurden. Am verstörendsten war, dass es sich bei mehreren Zapphirnen selbst noch um Kinder in verschmutzter und zerfetzter Kleidung handelte.
Sie trugen die Leichen den Hang hinab, am Farmhaus vorbei und die Straße entlang. Als sich der Nebel unter dem grellen gelben Licht des Morgengrauens auflöste, konnte DeVontay sehen, wie sich das Tal, eingerahmt von Bergkämmen auf beiden Seiten, eine Meile entlangzog, durchschnitten vom Fluss wie von einem Messer aus verbogenem Stahl. Idyllische Farmäuser standen verstreut auf den Weiden und Lichtungen, entlang der Zäune gab es unzählige alte Apfelbäume und hoch aufragende Roteichen, braune Gartenrechtecke lagen in den ersten Atemzügen des Winters brach.
Die Schönheit und Ruhe der Landschaft stand in scharfem Kontrast zu den albtraumhaften Gestalten, die auf ihr umherzogen. Dutzende von Zapphirnen transportierten ihre grausige Fracht über eine Brücke und bildeten dabei einen langen Korso, der für den Rest seines Lebens durch DeVontays Schlaf marschieren würde.
Er erkannte einige Kinder an ihrer Kleidung; ihre zarten Körper wurden nur von jeweils zwei oder drei Zapphirnen getragen. Aber bei anderen Toten handelte es sich eindeutig um Zapphirne, Opfer der Kugeln Roosters oder seiner Männer; sie wurden mit der gleichen scheinbaren Gleichgültigkeit abtransportiert. DeVontays Herz wurde von Kummer zusammengepresst, als er sah, wie Kiki auf den Schultern von vier Zapphirnen davongeschleppt wurde; ihr Kopf hing schlaff herab und ihr langes schwarzes Haar schaukelte sanft hin und her.
»DeVontay!«, rief Stephen lauter, als er es hätte tun sollen.
Eines der Zapphirne drehte sich um und blickte zurück zum Wald.
DeVontay zog sich in das Blattwerk zurück. Das Zapphirn machte zwei Schritte auf ihn zu und zögerte dann. Es war männlich, hatte büscheliges weißes Haar und trug die Überreste einer dunklen Soutane, einen Römerkragen und abgewetzte Lederschuhe. Das Gesicht war faltig und fleckig, aber die Augen wiesen nicht das für Zapphirne charakteristische Funkeln auf. Es dauerte einen Moment lang, bis DeVontay klar wurde, dass der Priester blind gewesen sein musste und die milchigen Augäpfel keine Pupillen hatten.
Er war überzeugt davon, dass die Zapphirne über außergewöhnliche Sinne verfügten, die es ihnen gestatten, Geräusche und Bewegungen über große Entfernungen hinweg wahrzunehmen. Außerdem hatten sie feinere Empfindungen, die bis ins Übersinnliche reichten. Offenbar konnten sie Pulsfrequenz, Körpertemperatur und Adrenalinwerte deuten, weshalb die beste Chance für die menschliche Rasse wohl darin bestand, sie zum Pazifismus zu erziehen. Aber dieser Priester hatte Blut auf seiner Kleidung, weshalb DeVontay kein Risiko eingehen wollte.
Er signalisierte Stephen, still zu sein, und kroch rückwärts, wobei er die Wiese im Auge behielt und gleichzeitig auf Schritte im Wald horchte. Es waren nur noch wenige Leichen übrig und eine Gruppe von Zapphirnen war gerade damit beschäftigt, eine von ihnen hochzuheben. Eine orangene Baseballkappe fiel zu Boden und lag mit der Öffnung nach oben im taufeuchten Gras.
Als er Stephen erreicht hatte, flüsterte er: »Wir gehen jetzt.«
»Werden sie uns nicht sehen?«, fragte der Junge, der als Folge des Massakers noch immer bleich und verstört war.
»Sie müssen uns nicht sehen, um uns zu finden. Aber du musst ruhig bleiben, okay?«
Stephen nickte, obwohl er gar nicht richtig zuhörte.
»Und sei tapfer.« DeVontay packte die Schultern des Jungen und blickte ihm in die Augen. »Du schaffst das, kleiner Mann.«
Sie krochen etwa fünfzig Meter in den Wald von der Wiese weg. DeVontay wollte nicht zur Anlage, von der noch immer eine Fahne öligen Rauchs aufstieg, zurückkehren. Aber er wollte sich auch nicht zu weit von der Straße entfernen. Soweit er sich an die Landkarte erinnern konnte, führten sowohl die Straße als auch der Fluss zum Blue Ridge Parkway, und dort bot Meilenstein 291 den letzten Rest von Zuflucht und Hoffnung.
Nachdem sie die Zapphirne hinter sich gelassen hatten, standen sie auf und gingen still weiter, obwohl ihr Vorbeikommen Vögel aufschreckte, die mit plötzlichem, aufgeregtem Gezwitscher und Flügelschlagen aus den Baumspitzen hervorschossen. Einer von ihnen flog geradewegs gegen einen Baumstamm und DeVontay fragte sich, wie viele von den Tieren durch die Sonnenstürme betroffen worden waren und ob sich ihr Verhalten für immer verändert hatte.
»Da sind Menschen«, sagte Stephen.
DeVontay erkannte, dass seine Gedanken umhergeschweift waren und er sich mit der großen weiten Welt beschäftigt hatte, anstatt ihr unmittelbares Problem im Auge zu behalten. Törichtes Benehmen dieser Art konnte sie beide das Leben kosten.
Zwischen den Bäumen konnte er die schwarze Straße und die schäumenden Stromschnellen des Flusses sehen, ebenso wie mehrere liegengebliebene Fahrzeuge, die wie Spielzeugautos auf einem Spielplatz anmuteten. Und dann entdeckte er sie: zwei Gestalten mit langgezogenen Schatten hinter sich auf dem Asphalt, während sie der Morgensonne entgegengingen.
»Sieht so aus, als gäbe es noch mehr Zapphirne«, sagte DeVontay. »Sie gehen zu den anderen.«
»Was machen sie dann alleine? All die anderen Zapphirne sind zusammen.«
»Vielleicht kommen sie zu spät zur Party.«
»Aber der mit dem Rucksack läuft nicht wie ein Zapphirn. Und überhaupt, warum sollte ein Zapphirn einen Rucksack tragen?«
Gute Frage. DeVontay wünschte sich, ein Fernglas zu haben. Eine der Gestalten schien weiblich zu sein, die andere männlich. Ihre Kleidung war in einem zu guten Zustand dafür, zwei Monate lang getragen worden zu sein.
Dann packte der Mann das weibliche Zapphirn an der Schulter, als ob er es umdrehen wollte, und hob den Kopf, woraufhin DeVontay die Reflexion der Sonne auf seinen Brillengläsern sehen konnte. Kein Zapphirn würde seine Brille so lange aufbehalten haben. Was macht ein Überlebender mit einem Zapphirn?
»Wir müssen ihnen helfen«, sagte Stephen mit ängstlicher Eile. Er nahm DeVontays Hand.
»Als wir das letzte Mal jemandem helfen wollten, ist es nicht so gut gelaufen.«
Stephen drückte DeVontays Hand so fest, wie es seine feingliedrigen Finger konnten, und wandte ihm sein tränenüberströmtes Gesicht zu. »Du hast mir gesagt, ich soll tapfer sein. Musst du nicht auch tapfer sein?«
Eines Tages werde ich noch lernen, den Mund zu halten. Vermutlich an dem Tag, an dem mich die Zapper zu ihrem Friedhofsparadies schleppen.
»Okay, wir sehen nach. Aber bleib ganz nah bei mir, ja?«
Stephen nickte und sie begaben sich zum Waldrand. Auf der sich anschließenden Weide befanden sich eine Rinderherde und mehrere Pferde, die in der Morgensonne glänzten. Sie hatten Zaumzeug und Zügel angelegt, als ob ihre Reiter nur eine kleine Pause eingelegt hatten und von der Sonne durchgeschmort wurden, bevor sie das Geschirr abnehmen konnten. Das Leben hatte sich für diese Tiere nicht groß verändert, vielleicht war es sogar viel besser geworden, seit ihre menschlichen Eigentümer verschwunden waren.
»Wenn sie keine Zapphirne sind, was machen sie dann unter freiem Himmel?«, fragte Stephen.
»Guter Gedanke. Vielleicht sollten wir sie fragen.«
Sie waren nahe genug, den beiden Gestalten etwas zuzurufen, und DeVontay konnte die Stimme des Mannes hören, auch wenn er die einzelnen Wörter nicht verstand. Immerhin sprach er in ganzen Sätzen und wiederholte nicht abgehackt wie die Zapphirne.
»Er ist ein Mensch«, sagte Stephen und wäre vor Aufregung fast über die Weide gelaufen.
»Hört sich so an. Ich bin mir aber nicht sicher, was die andere Gestalt betrifft.« DeVontay stellte erleichtert fest, dass der Mann keine Waffe trug. Das Letzte, was er sich wünschte, war, von jemandem erschossen zu werden, dem er helfen wollte. Aber wenn die beiden in dieser Richtung weitergingen, würden sie bald von den Zapphirnen entdeckt werden.
»Die Frau ...«, sagte Stephen.
»Sie sagt nichts.« Aufgrund ihres Verhaltens ging DeVontay davon aus, dass sie ein Zapphirn sein musste, obwohl ihr Aussehen nicht dazu passte. Hatte der Mann sie umgezogen, sie vielleicht wie eine Art Haustier gehalten? Als Sexsklavin oder lebendige Barbie-Puppe?
Nein, sie würde ihn in Stücke gerissen haben. Zapphirne reagierten wahrscheinlich auf sexuelle Aggression genauso wie auf jede andere körperliche Aggression.
»Das ist Rachel!«, verkündete Stephen.
Langes braunes Haar, zu sauber für die Endzeitwelt. Gleicher Körperbau. Die Kleidung war zwar nicht dieselbe, die sie vor zwei Wochen angehabt hatte, aber sie würde ausgiebig Gelegenheit gehabt haben, sich umzuziehen.
»Unmöglich«, sagte er, obwohl er wusste, dass Stephen Recht hatte. Sein Herz zerrte ihn in zwei entgegengesetzte Richtungen: Er war überglücklich, sie wiederzusehen, aber entsetzt darüber, dass sie sich verändert hatte.
Aber WIE hat sie sich verändert? Der Zapp war nicht ansteckend, er war eine einmalige Sache.
Stephen grinste. »Sie geht nur so komisch wegen ihrem verletzten Bein. Der Hundebiss, von dem ich dir erzählt habe.«
Bevor DeVontay ihn zurückhalten konnte, war Stephen unter dem Stacheldrahtzaun hindurchgeschlüpft und rannte über die Weide. Die Rinder und Pferde drehten ihre Köpfe, um ihn zu beobachten, und DeVontay konnte nur hoffen, dass die Tiere die einzigen Zeugen waren.