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Tiefe Trauer lähmte die übliche Geschäftigkeit im Palast von Per-Ramses. Isis hatte sich in ihre Gemächer zurückgezogen und war für niemanden zu sprechen. Nubchesbed hingegen verbarg ihren Schmerz und begann, sich um die Regierungsgeschäfte zu kümmern, bis ihr Enkel auf dem Thron der Beiden Länder saß. Einen Tag, nachdem die schreckliche Nachricht die Königsstadt erreicht hatte, bestellte sie Nehi zu sich, um mit ihm über die Sicherung der Landesgrenzen und den ins Delta eingefallenen Feind zu sprechen. Zudem ging es um die Überbrückung der Zeit, bis Ramses in seinem Haus für die Ewigkeit beigesetzt und Hori den Doppelthron bestiegen hatte.
»Ist alles bereit, dass der zu Osiris gegangene Pharao zu den Göttern gelangt?«
Der Wesir bejahte. »Soweit ich weiß, ist das Westliche Haus Seiner Majestät fertiggestellt, aber genaues ist selbst mir nicht darüber bekannt. Mir ist nur zu Ohren gekommen, dass er sich im heiligen Boden von Abydos beisetzen lassen will, doch weder der Hohepriester noch dessen Gemahlin weilen dort. Sie befinden sich mit dem Regenten im östlichen Delta. Soweit ich gehört habe, darf niemand außer diesen beiden Priestern das Ewige Haus Seiner Majestät betreten.«
»Das ist mir bekannt. – Ist Hori schon darüber informiert, dass sein Vater und sein Bruder im Kampf gefallen sind?«
»Ich habe sofort Boten zu ihm gesandt, um dem Prinzen die traurige Nachricht zu überbringen. In den kommenden Tagen müsste sie ihn erreichen.«
»Sehr gut, Nehi. Der Erste Prophet wird wissen, dass er sofort nach Abydos zurückzukehren hat, um alles für Ramses’ Beisetzung zu tun.« Müde fuhr sich Nubchesbed mit der Hand über ihr Gesicht und blickte durch die halb geöffnete Tür hinaus in den Garten. Sie hatte den Wesir in ihre privaten Gemächer bestellt und nicht, wie üblich, in den Audienzräumen des Palastes empfangen. »Chaemwaset schrieb, dass sich General Sobek bis zu den Königsfestungen zurückziehen wird, um im Notfall aus dem Norden eindringende Feind aufzuhalten. Du weißt, Tjati, wenn Kemis Herrscher zu den Göttern gegangen ist, fühlen sich diese Elenden immer stark und wollen die Beiden Länder erobern.« Sie seufzte. »Irinefer hingegen wird mit dem Regiment des Seth die Gefangenen nach Kemi bringen. Und Chaemwaset ...« Sie stockte und schluckte den aufkommenden Schmerz hinunter, bevor sie weitersprechen konnte. »Und Chaemwaset bringt unter dem Schutz der Amun-Division den zu Osiris gegangenen König und den Prinzen in die Heimat zurück.« Sie wandte den Blick vom Garten und sah Nehi fest in die Augen. »Glaubst du, dass wir die Zeit des Chaos glimpflich überstehen werden?«
Überrascht blickte der Wesir sie an. »Warum zweifelst du, Majestät? Die Fremdländer haben gerade eine gehörige Lektion erteilt bekommen. Es dürfte ihnen vorerst die Lust vergangen sein, sich gegen uns zu erheben.«
»Aber der Gute Gott wurde in diesem Krieg getötet«, erinnerte Nubchesbed ihn. »Und im Delta ist noch immer Krieg. Niemand weiß, ob es Prehi gelingen wird, zu siegen.«
»Seine Hoheit wird siegen, da bin ich mir sicher. Ihm zur Seite stehen Amunhotep und Meritusir.«
»Was sollten ein Priester und eine Priesterin gegen eine solche Übermacht an bewaffneten Schiffen schon ausrichten können?«, hielt Nubchesbed dagegen und sah zweifelnd zu Nehi. »Zudem werden sie nach Abydos zurückkehren, wenn sie erfahren, dass Ramses im Kampf gefallen ist.«
»Ich weiß es nicht, Majestät. Ein inneres Gefühl sagt mir, dass sie es können.«
Zumindest die Frau, fügte er in Gedanken hinzu. Seitdem er Meritusir kennengelernt hatte, ließ ihn das Gefühl nicht los, dass sie etwas Besonderes war und von den Göttern geliebt wurde.
»Gut, doch dann tobt noch immer im westlichen Delta der Krieg.«
»Auch den werden wir siegreich beenden«, versuchte Nehi der Königsmutter Mut zu machen. »Wenn Seine Hoheit, Prinz Prehi, im Osten die Maat über das Chaos gesetzt hat, wird er sofort den Bootstruppen im westlichen Delta zu Hilfe eilen, und dann werden wir die Feinde Kemis vertreiben.«
Unwillkürlich musste Nubchesbed lächeln. »Du bist so davon überzeugt, Nehi, dass auch ich die Hoffnung nicht verliere. Prehi wird für meinen Enkel das Land von den fremdländischen Horden säubern, während wir uns bis zu seinem Eintreffen um die anderen Belange des Landes kümmern werden.« Sie drückte das Rückgrat durch und sah den höchsten Beamten des Königs zuversichtlich an. »Kemi wird nicht im Chaos versinken, sondern sieht einem neuen strahlenden Herrscher entgegen.«
»Ja, Majestät.« Nehi erwiderte das Lächeln der alten Königin und verneigte sich vor ihr.
»Gut, Tjati, dann lass uns an unsere Arbeit gehen!«
Kurz, nachdem Nehi gegangen war, meldete Nubchesbeds Haushofmeister Sethi, der um eine Audienz bei ihr bat.
»Bist du gekommen, um mir deine Anteilnahme auszusprechen?«, fragte sie und bot ihm einen bequemen Stuhl an.
Sethi bedankte sich und ließ sich nieder. »Ja, liebe Nubchesbed. Soeben sah ich den Wesir deine Gemächer verlassen. Ich fragte mich, was es wohl für einen Grund für ein geheimes Treffen zwischen euch beiden geben könnte. Verrätst du es mir?« Er lächelte und betrachtete die Gemahlin seines zu Osiris gegangenen Bruders.
Nubchesbed war inzwischen sechsundfünfzig Jahre alt, doch der Tod ihres Sohnes und ihres Enkels hatte sie innerhalb eines Tages zusehends altern lassen, sodass sie ihm heute wie eine Greisin erschien. Sie war einst eine wunderschöne Frau gewesen, aber die vielen Schicksalsschläge, die ihrer Familie in den vergangenen acht Jahren widerfahren waren, hatten ihre edlen Gesichtszüge verhärmt. Unzählige Falten zierten inzwischen ihre Stirn, Augen- und Mundpartie.
Die alte Königin war über die Frage des Prinzen überrascht. Ihre Verwunderung wich alsbald Empörung. »Was willst du damit andeuten, Sethherchepeschef? Bin ich dir Rechenschaft über mein Handeln schuldig?« Sie atmete schwer, ihr Blick war wütend.
Abwehrend hob Sethi die Hände. »Warum so aufgebracht, liebe Nubchesbed. Es ist nur etwas ungewöhnlich, dass sich Nehi mit dir einen Tag nach dem Bekanntwerden von Ramses’ Tod in deinen privaten Gemächern trifft.«
»Was sollte daran ungewöhnlich sein?«, begehrte die Königsmutter auf. »Befürchtest du, Nehi oder ich wollen Hori die Regentschaft streitig machen?«
»Mitnichten, liebe Nubchesbed, mitnichten ...«
»Und nenne mich nicht immer liebe Nubchesbed!«, fuhr sie aufgebracht ihm ins Wort.
»Wie du willst.« Sethi grinste amüsiert. »Aber da du es gerade selbst angesprochen hast: Der Horusthron ist verwaist, während Hori im östlichen Delta weilt. Du hingegen bist eine Frau und auch nicht mehr so stark wie einst, als mein Bruder noch die Doppelkrone trug. Nehi ist zwar Pharaos oberster Beamter; dennoch ist er nicht dazu berufen, die Regentschaft zu übernehmen.« Er machte eine Pause und musterte Nubchesbed. »Deshalb wollte ich dir mitteilen, dass ab heute ich das für Hori übernehmen werde, denn ich bin der einzige Prinz in Per-Ramses, der vom Alter und Wissen her dazu imstande ist. Kehrt Hori aus dem Krieg zurück, werde ich natürlich sofort weichen und ihm seinen rechtmäßigen Platz überlassen.«
Ungläubig starrte Nubchesbed ihn an. »Du willst was?«, kreischte sie. Ihre Stimme überschlug sich fast.
»Die Regentschaft in Horis Abwesenheit übernehmen. Und nun rege dich nicht unnötig auf. Ich glaube kaum, dass es irgendetwas dagegen einzuwenden gibt. Ich bin einundvierzig Jahre alt und somit der älteste und erfahrenste unter den Prinzen am Hofe. Tanis Sohn ist erst acht, und Merenptah hat trotz seiner einunddreißig Jahre nie etwas anderes getan, als sich um Ramses’ Sicherheit oder die seiner Familie zu kümmern – was man ihm natürlich hoch anrechnen muss. Er besitzt aber keinerlei Erfahrungen mit Regierungsgeschäften.«
»Ach, aber du?« Nubchesbed lachte sarkastisch auf. »Du hast dich doch stets um diese Dinge gedrückt, Sethi. Nur weil du dich in den letzten Jahren dafür zu interessieren begonnen hast, bist du noch lange kein so erfahrener Beamter wie beispielsweise der Wesir.«
»Täusche dich nicht in mir, Nubchesbed. Ich hatte viel Zeit und sehr gute Lehrer. Ich habe viel dazugelernt, und deshalb werde ich mich ab heute um das Wohl der Beiden Länder kümmern. Ich hoffe, du kommst mir dabei nicht in die Quere.« Er stand abrupt auf und stolzierte schmunzelnd zur Tür, ohne auf eine Erwiderung der alten Königin zu warten.
»Du Thronräuber!«, schnaubte Nubchesbed. »Ich hatte mit meinen Befürchtungen also recht. Mein Sohn hat sich von dir einwickeln lassen, und nun ist er tot.« Zutiefst betrübt schlug sie die Hände vors Gesicht. Tränen der Wut und der Verzweiflung traten ihr in die Augen.
Nachdem sie sich wieder beruhigt hatte, begann sie fieberhaft zu grübeln, was sie tun könne, um Sethherchepeschef von der Macht fernzuhalten. Als ihr nichts einfallen wollte, begab sie sich zu Isis, doch die Große Königliche Gemahlin hatte kein Ohr für ihre Probleme.
»Es geht um den Thron der Beiden Länder, Isis, den Thron, der deinem Sohn gehört«, herrschte Nubchesbed sie an. »Willst du tatenlos zusehen, wie sich Sethi die Doppelkrone nimmt?«
Sie konnte zu Isis nicht durchdringen. Diese hatte sich in ihrem Schmerz um den Verlust ihres Gemahls und ihres Sohnes vergraben und schien alles andere um sich herum nicht wahrzunehmen.
Erbost gab Nubchesbed auf und kehrte in ihre Gemächer zurück. Dort trug sie ihrem Haushofmeister auf, den Wesir zu holen, der in der Zwischenzeit zu Sethherchepeschef befohlen worden war.
Sethi teilte dem überraschten Nehi mit, dass ab sofort er, der Prinz, die Geschäfte für den abwesenden Regenten übernehmen würde.
Nehi sagte kein Wort, denn Sethi war ein Spross des zu Osiris gegangenen Ramses III. und der Großonkel des Regenten. Er erinnerte sich aber seiner Unterhaltung mit Nubchesbed und beschloss, fortan ein wachsames Auge auf den Prinzen zu haben.
* * *
Chaemwaset kehrte Anfang des dritten Monats der Ernte in die Königsstadt zurück und übergab die sterblichen Hüllen von Ramses und Nebu den Einbalsamierern. Man hatte ihre Körper in Holzkisten gelegt und komplett mit Natron bedeckt, damit die Verwesung der Leiber gestoppt wurde. Die Priester des Anubis sollten nun das Ihrige tun, um den Pharao und seinen Sohn für ihre Reise in den Schönen Westen bereitzumachen. Anschließend begab er sich zu seiner Stiefmutter in den Palast, die ihn umgehend zu sich gebeten hatte.
»Sethherchepeschef hat die Regentschaft übernommen«, erklärte Nubchesbed erbost, kaum dass sich hinter Chaemwaset die Tür geschlossen hatte.
»Ich weiß, Majestät. Er selbst hat es mir soeben mitgeteilt.«
»Du hast ihn getroffen?« Überraschung klang in Nubchesbeds Stimme.
»Ja. Er kam hinzu, als ich die sterbliche Hülle meines Bruders und Königs den Anubis-Priestern übergab. Er sagte mir, dass er sich in Vertretung von Hori um die Regierungsangelegenheiten kümmern werde, bis der Regent wieder in Per-Ramses weilt.«
»Und du bleibst völlig ruhig dabei?«
Chaemwaset zuckte mit den Schultern. »Warum sollte ich mich daran stören? Irgendjemand muss es tun. Sollte ich auch besorgt sein, wenn du es getan hättest oder Nehi?«
»Das ist doch etwas völlig anderes, Chaemwaset!«, tadelte Nubchesbed ihn lauter, als sie eigentlich vorgehabt hatte. »Weder ich noch der Wesir streben nach der Macht, aber auch du weißt, dass Ramses Sethherchepeschef eine Zeit lang misstraut hat.« Sie atmete schwer, und ihr Blick bohrte sich in den Prinzen. »Du selbst hast Sethi in Ramses’ Auftrag überwachen lassen, als er noch in Theben weilte. Hast du das schon vergessen?«
»Nein, Nubchesbed. Ich konnte ihm jedoch rein gar nichts nachweisen. Zudem habe ich nie verstanden, warum mein Bruder unserem Onkel überhaupt sein Vertrauen entzogen hatte. In meinen Augen gab es keinen Grund dafür.«
»Das ist doch Unsinn. Ramses hat ganz genau gewusst, was er tut. Es gab immer einen Grund für sein Handeln!« Empört schnappte sie nach Luft. »Weißt du eigentlich, dass während eurer Abwesenheit der Zweite Prophet des Re des Hochverrats überführt werden konnte? Oder hat euch meine Botschaft nicht erreicht?«
Überrascht hob Chaemwaset die Augenbrauen. »Ich weiß nichts davon.«
»Von Nachts Vergehen oder von meiner Botschaft?«, fragte Nubchesbed irritiert.
»Von beidem. Möglich, dass Ramses eine Nachricht von dir erhalten hat. Mir hat er nichts davon erzählt.«
Die alte Königin seufzte. »Nacht hat Getreide aus den Speichern des Tempels veruntreut. Es liegt dem Wesir eine Botschaft von einem syrischen Händler vor, in der steht, dass Ramses in die Knie gezwungen werden sollte. Ich bin mir sicher, dass Sethherchepeschef an all dem beteiligt ist, doch selbst Nehi weigert sich, ohne Beweise etwas gegen Sethi zu unternehmen.«
»Ich kann ihn verstehen«, entgegnete Chaemwaset. »Wie sollte er sein Handeln vor der Maat begründen?«
»Aber Sethherchepeschef will den Thron der Beiden Länder an sich reißen!«, schrie Nubchesbed aufgebracht, da niemand ihren Befürchtungen ein Ohr schenken wollte.
»Der rechtmäßig Hori gehört«, fügte ihr Stiefsohn ruhig hinzu und kräuselte fragend die Stirn. »Was veranlasst dich eigentlich, an ein solch schändliches Verhalten von Sethi zu glauben? Zudem würde keiner der drei großen Tempel des Landes seine Krönung vornehmen. Die Hohepriester von Theben, Heliopolis und Memphis würden sich weigern, es zu tun, und das weißt du genau. Nesamun und Nefertem standen immer treu zu Ramses. Oder traust du meinem Sohn einen solchen Frevel zu?«
»Nein, Chaemwaset. Die Frage ist aber, ob sie auch treu zu meinem Enkel stehen.«
Kopfschüttelnd trat der Prinz auf seine Stiefmutter zu, um sie in den Arm zu nehmen. »Nubchesbed, Hori ist der rechtmäßige Thronfolger. Er stammt aus dem Samen des lebenden Gottes, der nun zu Osiris gegangen ist. Keiner würde es wagen, ihm seinen legitimen Anspruch auf die Doppelkrone streitig zu machen – auch nicht Sethherchepeschef. Das wäre Chaos.« Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn, und sie schmiegte sich an seine Brust.
»Ja, Chaemwaset. Wahrscheinlich hast du recht. Vielleicht spüre ich nur hinter jedem Wort eine Intrige lauern. Bitte verzeihe mir, das Wohl der Beiden Länder liegt mir am Herzen.« Sie hob den Kopf und sah ihm ermattet in die Augen. »Ich fühle mich so machtlos und müde. Vielleicht bin ich auch nur schon zu alt für all den Schmerz.« Sie wandte den Blick von ihm und sah hinüber zu der kleinen Statue des Amun. »Ich wünschte, ich würde noch heute Nacht meinem Gemahl und nun auch meinem Sohn in das Reich des Osiris folgen.«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Leise schluchzend barg sie ihren Kopf in Chaemwasets Armen, der sie sanft streichelte. Einen Moment später machte sie sich aus seiner Umarmung frei. Sie wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht und ging zu einem Stuhl, um sich zu setzen.
»Was wirst du als Nächstes tun?«, fragte sie ihn.
»Meine Pflicht. Ich begebe mich mit der Division des Amun umgehend nach Buhen, um die südlichen Grenzen vor einem Einfall der Kuschiter zu bewahren. Und wenn es soweit ist, werde ich nach Abydos kommen, um meinem König das letzte Geleit zu geben.«
Nubchesbed nickte. »Tue das, Chaemwaset. Wir werden uns dort wiedersehen, wenn die Götter es wollen.«