DREIUNDZWANZIG
Pünktlich zum Fest von Opet kehrte der Pharao nach Theben zurück, um am neunzehnten Tag des zweiten Monats der Überschwemmung den Großen Gott Amun-Re in seinem Heiligtum zu begrüßen und anschließend die Prozession von Opet-sut nach Opet-resut anzuführen.
Kurz vor Ende des siebenundzwanzig Tage dauernden Festes war die Trauerzeit um Meritusir dann verstrichen.
Höflich bat Amunhotep in einem Schreiben, seine Gemahlin symbolisch in ihrem gemeinsamen Haus für die Ewigkeit im Königstal beisetzen zu dürfen.
Als der Wesir dem König die Bitte des ehemaligen Hohepriesters vortrug, verfinsterte sich Ramses-Sethherchepeschefs Gesicht. Er wollte schon seine Zustimmung verweigern, überlegte es sich und stimmte um Meritusirs Willen zu.
»Warum stellst du Amunhotep nicht vor ein Gericht, um ihn für den Mord an seiner Gemahlin bestrafen zu lassen?«, wollte Senbi wissen.
»Das geht dich nichts an«, knurrte Ramses-Sethherchepeschef und warf ihm einen missmutigen Blick zu. »Er würde nicht schuldig gesprochen werden, wenn Priester der obersten Grade als Beisitzer eingesetzt sind. Und diese stehen Amunhotep aufgrund seiner früheren Ämter zu.«
Verständnislos sah Senbi ihn an. »Warum sollten Priester ihn nicht für schuldig befinden?«
»Weil Amunhotep seine Frau nicht getötet hat«, brummte Ramses-Sethherchepeschef. »Ich weiß, dass du das nicht verstehst. Es gibt Dinge, die selbst dem Wesir verschlossen bleiben.«
»Gut, Majestät«, erwiderte Senbi schulterzuckend. »Doch wenn ich mich nicht gänzlich täusche, suchst du nach einem triftigen Grund, um dich des Priesters und seines Balges zu entledigen.«
Fragend blickte Ramses-Sethherchepeschef ihn an. »Warum sollte ich mich seines Sohnes entledigen wollen?«
»Weil er ein Teil von Amunhotep ist, und weil du hoffst, dich mit dieser Priesterin zumindest im Schönen Westen vereinigen zu können.«
Zweifelnd zog Ramses-Sethherchepeschef die Augenbrauen in die Höhe. »Diese Überlegung verstehe ich nicht«, gab er ehrlich zu.
»Meritusir ist verschwunden«, hob Senbi an. »Meiner Meinung nach ist sie tot, ermordet durch die Hand ihres eigenen Mannes ...«
»Nein, das glaube ich nicht«, fiel der Pharao ihm ins Wort.
»Wie dem auch sei, Majestät«, winkte Senbi ab. »Egal, ob sie nun von einem Löwen oder von ihrem Mann getötet wurde. Du wirst sie erst im Reich des Osiris wiedersehen. Erst wenn auch du gestorben bist, kann sie dir gehören. Doch ich bezweifle, dass sie sich dir in die Arme werfen wird. Verzeih, Majestät, wenn ich dir das so unverblümt sage. Meritusir wird im Schönen Westen auf ihren Mann und ihren Sohn warten. Somit steht fest, dass Amunhoteps Andenken vernichtet werden muss, damit die Götter ihn nicht finden können. Das gilt auch für ihren Balg, der Meritusir ständig an Amunhotep erinnern würde. Also solltest du dich auch dieses Knaben entledigen, wenn du sicher sein möchtest, dass sie dir in der anderen Welt ganz allein gehört.«
Ramses-Sethherchepeschef saß mit offenem Mund da und starrte entsetzt seinen obersten Ratgeber an. »Ich soll ein unschuldiges Kind töten?«, fragte er bestürzt. »Hast du den Verstand verloren?«
»Nein, Majestät! Dieses unschuldige Kind ist dem Samen deines verhassten Rivalen entsprungen. Es ist ein Teil von Amunhotep. Wäre es ein Mädchen, wäre das etwas anderes, doch dieser Balg ist die verkleinerte Ausgabe seines Vaters. Er wird Meritusir stets an Amunhotep erinnern.«
Betreten stützte Ramses-Sethherchepeschef den Kopf in die linke Hand. »Ich habe sicher schon viele Dinge getan, die gegen die göttlichen Regeln verstoßen haben, aber ein fünfjähriges Kind töten ...? Das kann ich nicht.«
»Es war nur eine Überlegung, Majestät« Lauernd blickte Senbi zum König.
»Und mit welcher Begründung soll ich Amunhotep vor ein Gericht stellen?«, fragte Ramses-Sethherchepeschef. Er war noch immer unentschlossen, obwohl der Hass auf den Osiris-Priester die Oberhand zu gewinnen drohte. »Soll ich ihn für seine lästernde Rede mit dem Tod bestrafen und ebenso seinen Sohn?«
»Nein, Majestät, es würde dein Volk sicher schockieren, wenn du für Majestätsbeleidigung oder selbst für einen Mord nicht nur den Täter, sondern auch den Sohn mit dem Tode bestrafst. Diese Meritusir war nur eine Priesterin. Wenn Amunhotep aber die Hand gegen dich erheben würde, würden alle nach Vergeltung schreien. Verbrechen gegen den Pharao oder die königliche Familie werden hart geahndet. Auch die engsten Angehörigen eines solchen Verbrechers werden belangt.«
»Kleine Kinder allerdings nicht«, gab Ramses-Sethherchepeschef zu bedenken, der noch immer nicht ganz begriff, worauf Senbi hinauswollte. »Wie aber sollte sich Amunhotep gegen mich oder ein Mitglied der königlichen Familie vergehen? Er steht unter Arrest, wird Tag und Nacht überwacht. Zudem glaube ich nicht, dass er zu einer solchen Tat fähig ist.«
Senbi grinste verschlagen. »Dann muss eben ein wenig nachgeholfen werden.« Er trat einen Schritt näher und sprach im gedämpften Ton weiter: »Wenn du dich entschließt, bei der Beisetzung der Priesterin anwesend zu sein, könnte ein loser Stein herabstürzen, der dich natürlich verfehlt. Du aber könntest behaupten, dass es ein Anschlag auf dein Leben war. Derjenige, der den Stein hat herabstürzen lassen, wird natürlich von den Getreuen gefasst. Immerhin muss er aussagen können, wer ihm den Auftrag dazu gegeben hat.«
Nachdenklich zog Ramses-Sethherchepeschef die Stirn kraus. »Das wäre natürlich eine Möglichkeit«, gab er zu, obwohl er nicht wusste, ob er sie gutheißen sollte oder nicht. Noch immer focht er einen inneren Kampf mit sich aus.
Er hasste den Osiris-Priester und hätte ihn schon seit Jahren lieber tot als lebendig gesehen. Grund dafür war Meritusir. Nun war sie für immer fort, zurückgekehrt zu den Göttern, die sie einst seinem Neffen gesandt hatten. Es war inzwischen einerlei, ob Amunhotep lebte oder nicht. Er stand nicht mehr zwischen ihm und Meritusir.
»Allerdings hat Senbi recht«, murmelte er kaum hörbar vor sich hin und führte seine Überlegungen in Gedanken fort, da sein Wesir überrascht zu ihm blickte.
Meritusir wird in den Binsengefilden auf Amunhotep warten. Gestatte ich ihm, weiterzuleben und sich nach seinem Tod mit allen Riten beisetzen zu lassen, steht er mir in der anderen Welt erneut im Weg. Und auch sein Sohn könnte zum Stolperstein werden. Er würde Meritusir stets an die Zeit mit Amunhotep erinnern.
Er räusperte sich und sah Senbi an. »Dein Vorschlag ist überlegenswert, Tjati. Es gäbe genug Zeugen, die bestätigen könnten, dass der Stein mich nur knapp verfehlt hat. Und wenn auch noch der Steinewerfer dingfest gemacht werden kann und aussagen wird, dass er von Amunhotep den Auftrag erhielt ...« Sein Gesicht hellte sich zusehends auf, und er begann zu lächeln. »Bintanat hat wirklich recht, Senbi. Du bist ein Dämon.«
Geschmeichelt erwiderte Senbi das Lächeln des Pharaos. »Danke, Majestät. Aus dem Munde jedes anderen wäre es eine Beleidigung, doch aus deinem ist es eine Ehre.« Er verneigte sich. »Wenn du es befiehlst, werde ich alles Nötige veranlassen. Ich weiß schon, wem ich diesen Auftrag übertrage. In ein paar Tagen kannst du deine Rache genießen.«
Ramses-Sethherchepeschef nickte zufrieden. »Und du bist dir sicher, dass dieser Mann vertrauenswürdig ist?«
»Aber natürlich, Majestät. Du wirst mit meiner Arbeit zufrieden sein.«
* * *
Flankiert von zwei Soldaten des Königs brachte Amunhotep vier Tage später seine geliebte Meritusir symbolisch in das Westliche Haus, welches die beiden von Osiris Ramses VII. geschenkt bekommen hatten. Sein Vater, sein Sohn und Moses begleiteten zusammen mit ihm und der gesamten oberen Osiris-Priesterschaft den leeren Sarkophag, während sich der Pharao abseits hielt.
Ramses-Sethherchepeschef hatte mit seinem Erscheinen für einiges Aufsehen gesorgt. Es war schon recht ungewöhnlich, dass der Pharao zu einem Begräbnis erschien, bei dem es sich nicht um ein Mitglied aus seiner Familie handelte.
Er muss wirklich unsterblich in Meritusir verliebt gewesen sein, dachte Amunhotep, der dem Sarkophag vorausschritt.
Als sie sich dem Zugang zum Grab näherten, war ein kratzendes Geräusch zu hören, dem ein dumpfes Grollen folgte. Einen winzigen Moment später stürzte ein riesiger Felsbrocken herab und landete direkt vor den Füßen des Pharaos.
Entsetzt schrien die Trauernden auf und blieben wie angewurzelt stehen.
Selbst Ramses-Sethherchepeschef stieß einen erschrockenen Laut aus und hielt die Luft an. Der Angstschweiß stand ihm auf Stirn und Nacken. Seine Knie zitterten leicht. So hatte er sich das vorgetäuschte Attentat nicht vorgestellt.
Die Getreuen drängten sich sofort schützend um ihn und brachten ihn an eine sichere Stelle in der Mitte des Weges, wo ihn kein herabfallender Stein verletzen konnte. Die anderen eilten los und erklommen den nächstliegenden Pfad, der hinauf in das Bergmassiv führte, von wo aus der Felsbrocken hinabgestürzt war.
»Nehmt den Attentäter gefangen, aber tötet ich nicht!«, rief Ramses-Sethherchepeschef ihnen hinterher. »Ich will erfahren, wer hinter diesem Anschlag auf mein Leben steht.«
Dann wanderte sein Blick zu Amunhotep, der über diesen Vorfall sichtlich bestürzt war.
Es dauerte, bis einer der Getreuen wieder im Tal erschien und sich dem Pharao näherte. Er flüstere ihm etwas zu, worauf Ramses-Sethherchepeschef das Zeichen gab, dass die Zeremonie fortgesetzt werden sollte.
Der Sarkophag wurde vor dem Zugang zum Haus für die Ewigkeit aufgerichtet, und Amunhotep nahm das Ritual der Mundöffnung vor, bevor sich alle niederließen, um zu essen und zu trinken.
Als die zu Osiris gegangene Priesterin im Westlichen Haus symbolisch ihre letzte irdische Reise beendet hatte, kehrten alle auf das Ostufer von Theben zurück, um sich im bunten Trubel des Fests von Opet zu amüsieren. Nur Amunhotep zog sich zusammen mit seinem Vater, seinem Sohn und Moses auf sein Anwesen zurück, um in stiller Trauer Meritusirs zu gedenken.
Noch in derselben Nacht erschien ein Trupp Soldaten, um Amunhotep und Hekaib festzunehmen und in den Palast zu bringen, wo den ehemaligen Hohepriester bereits der Pharao und sein Wesir erwarteten.
* * *
Wütend kehrte Ramses-Sethherchepeschef nach der Beisetzung in seinen Palast zurück und befahl sofort Senbi zu sich.
»Um Haaresbreite wäre ich von dem Felsbrocken erschlagen worden«, schrie er ihn an. »Sagtest du nicht, dass mich der Stein verfehlen würde?«
»Hat er doch, Majestät.« Senbi war verdutzt. »Es ist alles wie geplant gelaufen. Wie ich sehe, bist du unverletzt.«
Ramses-Sethherchepeschefs Zorn steigerte sich. »Ich war zu Tode erschrocken. Nur einen Schritt weiter, und ich wäre jetzt tot«, brüllte er seinen Wesir an, der sich duckte. »Was hast du dir dabei gedacht?«
»Vergib mir, Majestät. Es musste echt aussehen«, verteidigte sich Senbi und hoffte, dass der Wutanfall des Pharaos schnell vorübergehen würde
»Trotzdem, es hätte auch schief gehen können«, beschwerte sich Ramses-Sethherchepeschef, doch sein Zorn verrauchte.
»Eigentlich nicht, Majestät«, wagte Senbi zu widersprechen. »Ich hatte alles genau geplant. Der Mann wusste, was auf dem Spiel steht. Er hat sich festnehmen lassen und wird gerade von Abischemu und Raija verhört. Außer meinen beiden Gehilfen und deinem Schreiber, der das belastende Geständnis niederschreibt, weiß niemand von unserem Plan.«
»Und wie soll es weitergehen? Willst du ihn zusammen mit Amunhotep vor Gericht stellen und hinterher laufen lassen?«
»So zumindest habe ich es ihm gesagt.« Senbi schmunzelte hinterlistig. »Aber keine Sorge, Majestät. Er wird sich noch vor Beginn der Verhandlung selber richten.«
»Du meinst, du lässt ihn töten«, stellte Ramses-Sethherchepeschef fest.
»Ja, Majestät. Er wird sich sicher nicht selbst den Strick um seinen Hals legen und in seiner Zelle erhängen.«
Die Miene des Pharaos hellte sich auf. »Dann lass den Priester festnehmen und in den Palast bringen, damit ich ihn verhören kann!«
»Wie du befiehlst.« Senbi verneigte sich.
* * *
Der Gesichtsausdruck des Pharaos verhieß nichts Gutes, als er auf den am Boden liegenden ehemaligen Hohepriester des Osiris hinabstarrte. Senbi hingegen musste sich ein vergnügliches Grinsen verkneifen.
»Stehe auf!«, befahl Ramses-Sethherchepeschef barsch, und Amunhotep gehorchte. »Du kannst dir sicher denken, weshalb du hierher gebracht wurdest?«
»Nein, Majestät, ehrlich gestanden nicht.«
»Wirklich nicht? – Du stehst unter dem Verdacht, den Auftrag zu dem feigen, hinterhältigen Anschlag auf das Leben Meiner Majestät gegeben zu haben?«, fauchte der König.
»Das ist nicht wahr«, verteidigte sich Amunhotep. »Du hast keine Beweise für diese Vermutung.«
»Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher«, meldete sich der Wesir zu Wort. »Es ist den Getreuen gelungen, den Mann festzunehmen, der den Felsbrocken hinuntergestürzt hat. Er wurde verhört und hat ausgesagt, dass du ihm viel Gold gegeben hast, wenn er den Auftrag zu deiner Zufriedenheit erfüllt.«
Verständnislos sah Amunhotep Senbi an. »Der Mann hat gesagt, ich hätte ihm einen Auftrag gegeben?« Er lachte auf. »Wie sollte ich das getan haben. Ich stehe unter Arrest und darf mein Anwesen nicht verlassen.«
»Aber Amunhotep«, hob Senbi lächelnd an, »natürlich hast nicht du es ihm befohlen. Das hat ein anderer in deinem Auftrag getan.«
»Und wer soll das gewesen sein? Hekaib? Wurde mein Haushofmeister deshalb auch festgenommen und in den Palast geschleppt?« Voller Abscheu und Hass bohrte sich Amunhoteps Blick in den Wesir.
»Dann gibst du es also zu?«
»Ich gebe gar nichts zu, Senbi«, fauchte Amunhotep, »denn ich habe weder Hekaib noch irgendjemandem sonst den Auftrag dazu erteilt.« Sein Atem ging schwer. Er hatte Mühe, sich zu beherrschen »Wo steckt Hekaib?«
»Er wird verhört«, erwiderte Senbi gelassen, und Amunhotep erschauerte.
Er konnte sich vorstellen, wie schmerzhaft diese Befragung für seinen Hausverweser sein würde.
»Ich habe genug gehört«, beendete Ramses-Sethherchepeschef die Vernehmung und erhob sich von seinem Stuhl. »Du kennst die Anschuldigung gegen dich und wirst dich vor einem Gericht dafür verantworten. Ich habe meinen Wesir beauftragt, die Verhandlung zu leiten. Bis dahin wirst du im Palast als Gefangener Meiner Majestät verbleiben.«