FÜNFUNDZWANZIG
Völlig benommen kehrte Chaemwaset nach der Urteilsverkündung in sein Haus zurück und begab sich in seine Gemächer, wo er den Rest des Tages für niemanden zu sprechen war.
Der Prinz war entsetzt gewesen, als der Wesir die Urteile verkündet hatte, da er nicht glauben konnte, dass Amunhotep einen Mordversuch auf den Pharao verübt haben sollte. Doch selbst wenn es stimmte, durfte dafür sein Sohn nicht mit dem Tode bestraft werden. Usirhotep war ein kleiner Junge, der unter dem Schutz der Götter stand. Niemand in Kemi würde es wagen, sich gegen ein Kind zu vergehen. Das war das schlimmste Verbrechen, das man in den Beiden Ländern begehen konnte.
Er warf sich auf sein frisch bezogenes Bett und starrte an die Decke.
Würde sein Onkel diese Urteile unterzeichnen, verginge er sich an der Maat, der kosmischen Ordnung, der göttlichen Regel, der sich jedes Lebewesen unterzuordnen hatte.
Betrübt schloss er die Augen.
Kurze Zeit später war er eingeschlafen und begann zu träumen.
Er befand sich inmitten der Unendlichkeit der westlichen Wüste. Der Sonnengott brannte unbarmherzig auf ihn herab. Überall lagen Leichen verstreut, an denen sich Schakale, Hyänen und Geier gütlich taten. Skorpione und Schlangen tummelten sich zwischen den zerfetzten Körpern der Toten. Verwesung und Tod lagen in der Luft.
Chaemwasets Blick war starr auf diesen grauenvollen Anblick gerichtet. Er wollte ihn abwenden, doch es gelang ihm nicht.
Plötzlich bemerkte er eine dunkle Gestalt, die sich ihm unaufhaltsam näherte. Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, doch erst als dieses Wesen direkt vor ihm stand, erkannte er es.
»Ich bin der Große Gott Seth, der Herr über die Wüste und die Fremdländer, über das Chaos und den Donner. Wenn ich zürne, erbebt die Erde. Der Himmel verfinstert sich, und Blitze zerteilen das Firmament. Ich bin aber auch der Beschützer der göttlichen Barke im ewig währenden Kampf gegen die Schlange Apophis. Bewaffnet mit Messer und Speer trete ich ihr entgegen und schütze den König der Götter auf seiner Fahrt durch die Unterwelt. Erst wenn der Horizont, getränkt von Apophis’ Blut, glutrot leuchtet, ist die Gefahr für den Großen Gott Re gebannt.
Nun sind die Götter erzürnt über das, was in ihrem geliebten Kemi geschieht. Sie haben beraten und erwählen dich, Ramses-Chaemwaset, dazu aus, die Maat wieder über das Chaos zu setzen. Ich wurde beauftragt, dir den Befehl der Götter zu überbringen, denn auch ich habe mich vom Pharao abgewandt – ich, der Große Gott Seth, der Schutzgott von Ramses-Sethherchepeschef.«
* * *
Schlaftrunken blinzelte Bakenwerel ihrem Gemahl entgegen, als dieser schweißgebadet in ihr Schlafgemach stolperte.
»Was ist geschehen?«, fragte sie müde und gähnte.
Chaemwaset setzte sich auf die Kante ihre Bettes, nahm sie in die Arme und drückte sie fest an seine Brust.
»Was ist los, lieber Bruder. Du machst mir Angst.« Bakenwerel machte sich aus seiner Umarmung los. »Hattest du einen bösen Traum?« Liebevoll strich sie ihm mit der Hand über die Wange.
Er nickte und nahm ihre Hand in seine, um sie zu küssen. »Es war grauenvoll.«
»Erzähle mir von deinem Traum«, bat sie ihn und zog ihn zu sich aufs Bett.
Chaemwaset ließ es geschehen und schmiegte sich ganz dicht an sie, sodass Bakenwerel spüren konnte, dass er zitterte. Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände und liebkoste ihn, während er nach den rechten Worten suchte.
»Mir ist Seth im Traum erschienen ...«, sagte er schließlich und stockte. Er wusste nicht, ob er Bakenwerel sagen sollte, was der Gott von ihm verlangt hatte.
»Und was ist geschehen?«, fragte sie liebevoll und gab ihm einen Kuss auf seinen kahl geschorenen Kopf.
»Ach nichts«, wich Chaemwaset aus und rollte sich auf den Rücken. »Es war nur beängstigend, dem Gott Auge in Auge gegenüberzustehen.«
Bakenwerel stützte sich auf den Ellenbogen und sah Chaemwaset prüfend an. »Du verheimlichst mir etwas. Was hat er von dir gewollt?«
»Nichts.« Chaemwaset schloss die Augen. Er war noch nicht bereit, darüber zu reden.
Am nächsten Tag blieb er seiner Arbeit fern. Er stand noch vor Res Erscheinen am Horizont auf, aß etwas und fuhr anschließend hinaus auf den Fluss, um zu fischen. Er wollte allein sein und in aller Ruhe darüber nachdenken, dass der Gott ihm befohlen hatte, er sollte die Maat wieder über das Chaos setzen. Aber wie?
Er zermarterte sich das Herz.
Stand womöglich sein Traum mit der Urteilsverkündung in Zusammenhang, die tags zuvor stattgefunden hatte?
Nachdenklich starrte er auf das Wasser, dass in Res Strahlen glitzerte und funkelte.
Bevor er am Morgen aufgebrochen war, hatte ihm ein Diener die Nachricht eines Beamten überbracht, dass der Pharao die Urteile unterzeichnet hatte. Die Todesurteile waren somit rechtsgültig, und Ramses-Sethherchepeschef hatte sich gegen die Maat vergangen.
Wollten die Götter ihn dafür bestrafen?
Chaemwaset kam zu keiner schlüssigen Antwort.
Er zog die Angelschnur ein und ruderte zurück zu seinem Anwesen.
Bakenwerel sah ihn nur fragend an, als er durchgeschwitzt und schmutzig wieder nach Hause kam, doch sie sagte kein Wort. Er hingegen zog sich in seine Gemächer zurück, wo er im Laufe des Abends einen Entschluss fasste. Er musste Nesamun um eine Unterredung bitten.
* * *
»Was kann ich für dich tun?«, begrüßte der Erste Prophet des Amun-Re am übernächsten Tag den Nomarchen des thebanischen Gaus. Er bot ihm einen bequemen Platz an und blickte erwartungsvoll in sein Gesicht.
Schweigend hielt Chaemwaset dem Blick stand und machte vorerst keine Anstalten, auf die Frage zu antworten.
Nesamun war achtundfünfzig Jahre alt, wenn der Prinz sich recht erinnerte. Am heutigen Tag wirkte er auf ihn wie ein Hundertjähriger. Dunkle Schatten umflorten seine Augen, sein Gesicht war eingefallen und grau. Der Schmerz zeichnete deutlich seine Körperhaltung. Gebeugt wie ein Greis kauerte er hinter seinem Tisch.
Betreten wandte der Prinz den Blick von Nesamun.
»Es tut mir aufrichtig leid, was deinem Sohn und deinem Enkel widerfahren soll«, erwiderte er schließlich und starrte auf seine reichverzierten Sandalen, die in den durch die Fensteröffnungen einfallenden Sonnenstrahlen funkelten. »Sind sie noch am Leben?«
Nesamun bejahte. »Doch wenn heute Abend Re in seiner Barke in die Unterwelt fährt, werden sie ihm folgen müssen.« Er schluckte schwer und wischte sich verstohlen über die Augen.
»Verzeih, dass ich dich in deinem Kummer mit meinen Problemen behellige«, entschuldigte sich Chaemwaset. »Ich habe Verständnis, wenn ich später wiederkommen soll, damit du ein letztes Mal deinen Sohn besuchen kannst, aber ...« Unbehaglich rutschte er auf seinem Stuhl hin und her und wagte nicht, dem alten Hohepriester in die Augen zu schauen.
»Ich danke dir für deine Anteilnahme, Hoheit, aber sprich. Auch wenn der Schmerz mich beinahe verzehrt, so will ich doch ein offenes Ohr für dein Anliegen haben. Es scheint von äußerster Dringlichkeit zu sein.«
»In der Tat, Nesamun.« Chaemwaset räusperte sich und sah nun endlich seinem Gegenüber ins Gesicht. »Ich hatte einen beunruhigenden Traum. Ich habe bis jetzt mit niemandem darüber gesprochen, weil ich Angst davor habe, doch er lässt mir einfach keine Ruhe. Seit dieser Nacht bekomme ich kein Auge mehr zu.« Er atmete tief durch und suchte nach den rechten Worten. »Mir erschien Seth. Er befahl mir, die Maat wieder über das Chaos zu setzen. Er sagte, dass die Götter erbost wären über das, was in den Beiden Ländern geschieht, und dass sie mich auserwählt hätten, dieses zu ändern. Der Große Gott meinte, er hätte sich vom Pharao abgewandt. – Was hältst du von diesem Traum?«
»Ich bin kein Traumdeuter, Hoheit, doch wenn du es wünschst, werde ich diese befragen.«
»Nein, das will ich nicht. Es handelt sich hier nicht um einen gewöhnlichen Traum. Ich bin zu dir gekommen, weil ich weiß, dass du immer treu und ergeben zum Herrn der Beiden Länder gestanden hast, doch ...« Chaemwaset biss sich auf die Unterlippe und sah Nesamun fest in die Augen. »Wir beide sind nicht so verblendet wie der Rest des Volkes. Wir haben ein Wissen, das uns das Leben kosten könnte. Wir sind über Dinge informiert, die die meisten nicht einmal erahnen. Du hast eines der mächtigsten Ämter inne, ich stamme aus königlichem Geblüt. Wir beide gehören zu den wenigen Menschen, die Einblick in Bereiche haben, die anderen verschlossen bleiben. Zudem wirst auch du dank deiner Freundschaft mit Nehi über Sachen unterrichtet sein, die du eigentlich nicht unbedingt wissen dürftest. Was also glaubst du, hat dieser Traum zu bedeuten?«
Nesamun saß mit verschlossenem Gesichtsausdruck hinter seinem Arbeitstisch und starrte Chaemwaset an. »Ich denke, du bedarfst nicht meiner Traumdeutung, Prinz. Deine Worte haben mir gezeigt, dass du genau weißt, was dein Traum zu bedeuten hat. Du willst von mir die Bestätigung dafür, weil du Angst vor den Folgen hast.«
Der Nomarch seufzte ertappt. »Ja, Nesamun, so ist es. Ich fürchte mich vor den Folgen. Doch was würdest du an meiner Stelle tun?«
Nachdenklich zog der Hohepriester die Stirn in Falten. »Ich kann dir darauf keine Antwort geben, denn mit meinem Sohn und meinem Enkel stirbt heute Nacht auch mein Lebenswille.« Er sah hinüber zu der Statue des Amun-Re, die in einer Ecke des Arbeitszimmers stand. »Ich glaube, dass ich derzeit zu allem fähig wäre, wenn ich dadurch Amunhotep und Usirhotep retten könnte, aber diese Antwort wird dir sicher nicht weiterhelfen.« Er lächelte matt. »Du hast noch eine Familie, Chaemwaset. Deshalb überlege gut, was du tust. Wir beide sind uns darüber einig, was wir von Ramses-Sethherchepeschef halten sollen, doch er wurde in Opet-sut gekrönt ... Ob nun rechtmäßig oder nicht, das sollen die Götter entscheiden.«
»Sie haben entschieden, Nesamun.« Chaemwaset straffte den Rücken. »Anderenfalls wäre mir nicht Seth im Traum erschienen. Das Urteil, welches über Amunhotep und deinen Enkel, aber auch Hekaib gefällt wurde, hat sie erzürnt. Warum aber mussten sie gerade mich erwählen?«
»Das kann ich dir nicht sagen, Hoheit.«
Nesamuns Gedanken schweiften ab zu Meritusir, die ebenfalls von einem Gott erwählt worden war. Ihre Aufgabe bestand jedoch darin, dem Pharao zu dienen, wohingegen der Prinz diesen stürzen sollte.
»Ich weiß nicht, ob ich fähig bin, Seths Befehl zu gehorchen«, riss Chaemwaset Nesamun aus seinen Überlegungen. »Würdest du mir dabei helfen, wenn ich dich darum bitten würde?«
»Was, ich?« Verstört sah der Erste Prophet Chaemwaset an. »Ich habe zwar gesagt, dass ich zu allem fähig sei, doch soll ich ...?« Nesamun wollten nicht einmal die Worte über die Lippen kommen.
»Natürlich nicht«, erwiderte der Prinz. »Ich brauche dich als meinen Verbündeten. Es ist mir zwar ein Rätsel, wie ich die Maat über das Chaos setzen soll, ohne die Hand gegen den Pharao zu erheben, doch vielleicht geben mir die Götter ein weiteres Zeichen.«
Nachdenklich strich sich Nesamun über den kahl rasierten Kopf. »Morgen wollte ich mein Rücktrittsgesuch beim Pharao einreichen. Ich fühle mich zu alt, um ihm weiterhin dienen zu können. Ich bete nur, dass er meinen Bruder oder dich zu meinem Nachfolger ernennt. Hauptsache, es ist keiner seiner zwielichtigen Beamten.« Er drückte das Rückgrat durch und sah dem Prinzen fest in die Augen. »Solange du nicht von mir verlangst, dass ich den König eigenhändig in den Schönen Westen schicken soll, will ich dir helfen, Hoheit, doch dafür erbitte ich deine Hilfe.«
»Was kann ich für dich tun?«
»Ramses-Sethherchepeschef hat verfügt, dass die Körper meines Sohnes und meines Enkels in die westliche Wüste geschafft und den wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen werden sollen. Das muss ich verhindern. Ich will, dass ihre Leiber mumifiziert und somit erhalten bleiben, damit ihr Ba wieder zurückkehren kann. Helfe mir, sie Pharaos Männern zu entreißen, und ich werde auf ewig dein Verbündeter sein.«
»Du hast mein Wort, Nesamun«, erwiderte Chaemwaset ohne Umschweife. »Mir untersteht das Regiment des Amun. Irinefer steht mit seinen Kriegern der Seth-Division ebenfalls treu zu mir, obwohl ich nicht glaube, dass wir sie alle benötigen werden.« Er musste schmunzeln, und zum ersten Mal zeigte sich auch auf Nesamuns Gesicht der Anflug eines Lächelns. »Wir werden die Körper der beiden den Priestern des Anubis übergeben, damit diese sie auf ihre Reise zu den Göttern vorbereiten können.«
»Danke, Hoheit.« Nesamun neigte den Kopf. »Ich werde es meinem Sohn sagen. Vielleicht fällt es ihm mit diesem Wissen etwas leichter, das zu tun, wozu er gezwungen wird.«
»Mache das, doch verbleibe in deinem Amt«, bat Chaemwaset. »Du kannst mir nur helfen, wenn du der Hohepriester von Opet-sut bist. Wenn du dein Amt niederlegst, hat Ramses-Sethherchepeschef legal die Möglichkeit, einen von seinen Anhängern in dieses zu berufen ... und er muss sich dabei noch nicht einmal gegen die göttliche Ordnung vergehen.«
Müde neigte der Priester abermals das Haupt. »Ich verspreche es dir nicht, werde aber darüber nachdenken, Hoheit.«
»Danke, Nesamun.« Chaemwaset erhob sich von seinem Stuhl. »Und nun gehe zu deinem Sohn und deinem Enkel. Grüße Amunhotep von mir und bitte ihn, mir zu vergeben. Hätte ich in Abydos meinen rechtmäßigen Anspruch auf den Horusthron eingefordert und nicht meinem Onkel erlaubt, Ramses’ Mumie in sein Grab zu bringen, wäre das alles nicht passiert.« Er seufzte, und sein Gesicht war von tiefer Trauer gezeichnet. »Vielleicht kann ich etwas von meiner Schuld abtragen, wenn ich dir helfe«, fügte er leise hinzu und senkte den Blick. »Sage Amunhotep, dass ich jeden Tag für ihn und seinen Sohn beten werde. Ich stehe bis in alle Ewigkeit in seiner Schuld.« Er schluckte hörbar. »Und bitte ihn, meinen Vater und meine Brüder im Reich des Osiris von mir zu grüßen. Ich werde sie nie mehr enttäuschen.«
»Ich werde es ihm ausrichten, Hoheit.«
Der Prinz verneigte sich vor dem alten Hohepriester und ging zur Tür. Als er den Türgriff schon in der Hand hatte, drehte er sich ihm noch einmal zu. »Der Große Gott Seth nannte mich in meinem Traum Ramses-Chaemwaset.«
Ohne auf eine Erwiderung zu warten, öffnete er die Tür und war verschwunden.
Nachdem Chaemwaset gegangen war, begab sich Nesamun zum Palast des Königs. Er wollte seinen Sohn ein letztes Mal in die Arme schließen und Usirhotep auf den Schoß nehmen, ihn drücken und einen Kuss geben. Ein letztes Mal wollte er das heitere Lachen des Knaben hören, doch bezweifelte er, dass sein Enkel nach drei Tagen in dieser düsteren kleinen Zelle noch fröhlich sein konnte.
»Danke, dass du noch einmal gekommen bist.« Amunhotep trat auf seinen Vater zu und umarmte ihn.
Nachdem sich Nesamun aus den Armen seines Sohnes gelöst hatte, nahm er seinen Enkel hoch und humpelte mit ihm zu der gemauerten Liege, die den beiden als Schlafstatt diente.
»Mein Vater hat mir gesagt, dass wir heute Abend den Großen Gott Osiris in seinem Reich besuchen werden«, plapperte Usirhotep und sah seinen Großvater beglückt an. »Und er hat mir erzählt, dass meine Mutter gar nicht tot ist, sondern von Osiris dem Pharao gesandt wurde, damit sie ihm mit meinem Vater beim Bau seines Grabes helfen kann.« Er umarmte Nesamun und drückte sein Gesicht an seine Wange. »Ich liebe den Großen Gott Osiris, Großvater, und wenn ich einmal ein Mann bin, werde ich ihm als Priester dienen.« Er lachte und sah Nesamun fröhlich an.
Nesamun schnürte es fast die Kehle zu.
Amunhotep hatte seinen priesterlichen Schwur gebrochen, um seinem Sohn die Wahrheit über seine Mutter zu erzählen. Er hatte ihm auch gesagt, dass sie heute Nacht in das Reich des Osiris eingehen würden. Der Junge war aber noch zu klein, um die volle Tragweite seiner Worte zu verstehen.
Er schluckte die Tränen hinunter und gab dem Knaben einen Kuss auf die Stirn. Dann setzte er ihn auf seine eigenen Füße, um mit seinem Sohn reden zu können.
Usirhotep sah etwas bekümmert drei, denn er wäre gern noch ein Weilchen auf dem Schoß seines Großvaters sitzen geblieben. Schnell hatte er jedoch seine Enttäuschung vergessen und baute weiter an seinem Palast aus den bunten Holzklötzchen, die Moses ihm geschenkt hatte.
Amunhotep hatte sich in der Zwischenzeit neben seinen Vater auf die Bettstatt gesetzt.
»Nun ist es bald soweit, mein Sohn«, hob Nesamun an, und die Tränen traten ihm in die Augen. »Ich habe dir etwas mitgebracht, damit du nicht Hand an dein Kind legen musst.« Er griff in die Falten seines Priesterschurzes und holte ein tönernes Fläschchen hervor, das er Amunhotep reichte. »Es wirkt schnell und zuverlässig. Mische es dem Wein bei und gib Usirhotep davon zu trinken. Dann trinke du und nach kurzer Zeit ...« Er konnte nicht weitersprechen. Weinend barg er das Gesicht in seinen Händen.
Amunhotep ließ das Röhrchen in seinem Gewand verschwinden und legte die Arme um seinen Vater, um ihn an sich zu drücken. »Weine nicht, Vater. Vielleicht finden uns die Götter. Und wenn das geschieht, werde ich schon bald meine Mutter, meinen Bruder und Osiris Ramses wiedersehen. Ich freue mich darauf, sie alle wieder in die Arme schließen zu können.«
Nesamun nickte unter Tränen. »Bestelle ihnen meine Grüße und sage ihnen, dass ich euch bald folgen werde.«
»Nein, Vater, deine Zeit ist noch nicht gekommen«, versuchte Amunhotep ihn aufzumuntern, doch Nesamun schüttelte den Kopf.
»Ich fühle mich alt und schwach. Zu viel Elend ist in kurzer Zeit über mich hereingebrochen. Erst meine geliebte Frau, dann Meritusir und nun du und Usirhotep.« Wehmütig sah er vor sich auf den gestampften Boden der Zelle. »Doch ich habe zum Schluss noch gute Neuigkeiten für dich, die dir das Sterben etwas erleichtern werden.« Er beugte sich seinem Sohn zu und erzählte ihm flüsternd von der Unterhaltung mit Chaemwaset.
»Dem Prinzen ist Seth im Traum erschienen und hat ihm befohlen, die Maat wieder über das Chaos zu setzen?« Amunhotep hielt die Luft an und stieß sie wieder aus.
»Genau, und Chaemwaset wird mir helfen, eure Leiber vor der Zerstörung zu bewahren. Ich werde euch den Anubis-Priestern übergeben, das schwöre ich dir, Amunhotep. Die Götter werden euch finden!«
Zweifelnd sah Amunhotep seinen Vater an. »Pharaos Handwerker und Beamte sind sicher schon fleißig dabei, jegliches Andenken an mich und Usirhotep zu tilgen«, erwiderte er betrübt. »Ramses-Sethherchepeschef wird nichts unversucht lassen, damit die Götter mich nicht finden können. Sicher hofft er, dass er so Meritusir in der anderen Welt allein besitzen wird.«
Nesamun schmunzelte verschwörerisch. »Ich bin auch noch da, mein Sohn. Zudem gibt es einen Platz, wo eure beiden Namen zusammen mit dem deiner Gemahlin bereits verewigt sind.«
Verwirrt riss Amunhotep die Augen auf und starrte Nesamun an. »Wo sollte das wohl sein?«
»In eurem Grab. – Meritusir muss Schlimmstes geahnt haben und hat eure Namen hinter die gemauerte Wand in eurem Westlichen Haus schreiben lassen. Nur Moses, sie und ich wissen davon, nun auch du. Und weder Moses noch ich werden es je erzählen.«
Amunhotep stand der Mund vor Überraschung offen. »Ich wusste in der Tat nichts davon«, gab er ehrlich zu, und seine Augen begannen, vor Glück zu strahlen.
»Das ist mir bekannt, obwohl ich davon ausgegangen bin, dass Meritusir es dir hinterher erzählen würde«, erwiderte Nesamun. »Sie kam während der Trauerzeit um Osiris Ramses zu mir, als du im Delta warst.«
Amunhotep lächelte. »Meine geliebte Meritusir. Selbst jetzt, wo sie nicht mehr an meiner Seite ist, gehorcht sie ihrem Schwur und wendet alles Böse von mir ab.«
»Ja, mein Sohn, nur dich und euren Sohn vor dem Tod bewahren, das kann auch sie nicht.« Nesamun griff nach seinem Amtsstab und stand mühsam auf. »Ich werde jetzt Lebewohl sagen.«
Er umarmte Amunhotep, gab seinem Enkel einen Kuss auf die Stirn und klopfte an die Tür, damit die Wächter ihn wieder hinausließen.
Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ er die Zelle und ging gebrochen in den Tempel des Großen Gottes Amun-Re zurück, um für die beiden Todgeweihten vor dem Allerheiligsten zu beten.
Nachdem sein Vater gegangen war, setzte sich Amunhotep neben seinen Sohn auf den Boden und spielte mit ihm und den Bauklötzchen. Erst als es in der Zelle schon beinahe dunkel war, erhob er sich.
Er trat an das kleine vergitterte Fenster in der Tür und starrte hinaus in den von den Gebäuden eingeschlossenen Garten.
Überall senkten sich die Schatten hinab.
Re war im Begriff, von Nut verschluckt zu werden.
Es war so weit!
Er drehte sich wieder um und ging zurück zu der gemauerten Schlafstatt, um sich zu setzen. Dann nahm er einen Becher und schüttete den Inhalt des tönernen Röhrchens hinein. Zum Schluss goss er ihn voll mit Wein und rief Usirhotep zu sich.
Gehorsam kam der Knabe zu ihm.
Kaum hatte Amunhotep ihn auf den Schoß genommen, schmiegte sich der Junge an seine Brust. Zärtlich nahm er ihn in die Arme und drückte ihn an sich. Er gab ihm einen Kuss auf seinen kahl rasierten Schädel, zwirbelte seine Jugendlocke, und es traten ihm die Tränen in die Augen. Er schniefte, und verwundert sah Usirhotep ihn aus seinen großen grünen Augen an.
Unser Sohn hat die Augen seiner Mutter, durchfuhr es Amunhotep, und die Erinnerungen an Meritusir überwältigen ihn.
Er sah sie blutüberströmt und verschmutz auf den Planken seiner Barke liegen, nachdem ihm Ramses befohlen hatte, sie mit nach Abydos zu nehmen, um sie gesund zu pflegen.
Es fiel ihm der Abend ein, an dem er sie losgeschickt hatte, damit sie ihm ein paar Schriftrollen aus der Bibliothek des Lebenshauses holte. Plötzlich hatte sein Badediener in seinem Arbeitszimmer gestanden, die Papyri unter dem Arm. Wütend war er daraufhin zu Meritusir ins Badehaus geeilt, um sie zu tadeln. Sein Zorn war damals schnell verflogen, denn ihren linken Oberarm zierte plötzlich ein heiliges Mal.
»Ja, da hieß sie noch Satra«, formten seine Lippen, doch kein Laut drang aus seinem Mund.
Er sah ihr Gesicht, wie sie sich über ihn gebeugt hatte, nachdem er nur knapp einem Mordanschlag entgangen war. Er entsann sich ihrer Worte, die sie ihm über die graue Masse in seinem Schädel erzählt hatte, und es wurde ihm schmerzlich bewusst, dass er es immer versäumt hatte, sie danach noch einmal zu befragen. Nun war es zu spät. Meritusir war fort, und schon bald würde er nicht mehr unter den Lebenden weilen.
Weitere Erinnerungen überkamen ihn wie eine mächtige Flut.
Meritusir im Palast von Memphis, wo sie Ramses und ihm erzählt, dass sie aus der Zukunft sei.
Meritusir in seinem Schlafgemach in Abydos, als er ihr seine Liebe gesteht und sie ihm antwortet, dass sie diese erwidern würde.
Meritusir glücklich und zufrieden in der Geburtslaube mit dem kleinen Usirhotep im Arm.
Meritusir!
Meritusir!
Meritusir!
Amunhoteps letzte Erinnerung an seine Gemahlin stammte aus Abu Simbel, ihr letzter Kuss, der Abschied. Sie dreht sich um und geht für immer aus seinem Leben.
Wo mochte sie jetzt wohl sein? Was tat sie gerade in ihrer Welt? Dachte sie womöglich an ihn?
Er wusste es nicht, doch er wusste, dass er als Letzter das Geheimnis ihrer wahren Herkunft mit in den Tod nahm. Nur Osiris Ramses war es bekannt gewesen, dass Meritusir aus einer viel späteren Zeit gekommen war. Nun war sie in ihr einstiges Leben zurückgekehrt.
Amunhotep tauchte aus seinen Erinnerungen wieder auf und strich seinem Sohn liebevoll über die Wange. Still bat er ihn um Vergebung und reichte ihm den Becher. »Ich hab dich lieb, Usirhotep, doch nun trinke das.«
Folgsam nahm der Knabe ein paar winzige Schlucke, die bereits genügten, dass sich sein Körper verkrampfte. Ein Schütteln durchfuhr Usirhoteps Leib. Seine Augen weiteten sich. Ein letztes Aufbäumen, dann war es vorbei. Das junge Leben war aus seinem Herzen gewichen.
Amunhotep stieß einen dumpfen Laut aus und drückte den leblosen Körper seines Sohnes an seine Brust. Er gab er ihm einen allerletzten Kuss, setzte den Becher an die Lippen und trank ihn bis zur Neige.