EINS
Ramses konnte kaum den Blick von seinem Tempel der Millionen Jahre abwenden, der sich an die zerklüfteten Felsen auf dem Westufer von Abydos schmiegte. Eine eintausend Ellen lange Prozessionsstraße führte zum Eingangspylon, die beiderseits von widderköpfigen, steinernen Sphingen gesäumt wurde. Majestätisch erhob sich dahinter das Heiligtum über die öde, sandige Landschaft. Der Pylon wurde von zwei riesigen Granitstatuen seiner selbst flankiert, beide in vollem Herrscherornat mit der Doppelkrone auf dem Kopf und den Insignien der Macht, Krummstab und Geißel, gekreuzt vor der Brust. Links und rechts der Statuen ragten jeweils zwei schnurgerade Zedernholzmaste in den Himmel, an denen bunte Fähnchen fröhlich im leichten Wind flatterten. Die beiden Obelisken schienen sich derweil geradewegs in das tiefblaue Firmament zu bohren. Ihre mit Elektrum überzogenen Spitzen reflektierten die Strahlen des Sonnengottes Re.
Als er den Aufweg zu seinem Tempel erreicht hatte, stieg er vom Wagen. Er war das letzte Mal vor einem Jahr in Abydos gewesen, und schon damals hatte ihm der Anblick seines Tempels den Atem geraubt. In seinen kühnsten Träumen hatte er sich ein solch erhabenes Bauwerk nicht erträumt. Er war der siebente Herrscher, der den Namen Ramses trug, und sein achtes Regierungsjahr hatte vor wenigen Monaten begonnen. In all dieser Zeit hatte er sich stets bemüht, es seinem großen Vorbild, Ramses II., gleichzutun, unter dessen glorreicher Herrschaft die Beiden Länder in Wohlstand und Frieden aufgeblüht waren. Es war ihm, Ramses VII., allerdings nicht vergönnt, dieselben Erfolge zu erzielen. Niedrige Überschwemmungen, korrupte, machthungrige Untertanen und feindlich gesinnte Fremdvölker erschwerten es ihm, seinen von den Göttern auferlegten Aufgaben nachzukommen.
Doch diese düsteren Gedanken beherrschten ihn in diesem Moment nicht. Überwältigt von der Schönheit seines Heiligtums, schritt er bedächtig den gepflasterten Weg hinauf zum Pylon und betrachtete fasziniert den gewaltigen Torbau.
Das zweiflüglige Pylontor war mit Elektrum und gehämmertem Kupfer verkleidet. Die sie flankierenden Pylone erstrahlten in leuchtenden Farben und zeugten von seinem Gehorsam, den er den Göttern entgegenbrachte. Die wunderschönen Reliefs zeigten ihn in Begleitung der Götter, denen dieser Tempel gewidmet war: Amun-Re, Ptah, Thot, Horus, Seth und natürlich Osiris und dessen Gemahlin Isis.
Sein Blick schweifte über die angrenzenden Tempelmauern. Die rechte war mit seinen Erfolgen im Krieg gegen die Feinde in der westlichen Wüste geschmückt, wohingegen die linke Seite von der Goldexpedition in die nubische Wüste kündete.
»Ich bin tief beeindruckt über das, was ich sehe«, murmelte er wie zu sich selbst und legte den rechten Arm um die Taille seiner Gemahlin, die neben ihm schritt. »Nur die Götter selbst können ein solches Kunstwerk befohlen haben.«
Isis sah zu ihm auf und lächelte. »Ja, Majestät, nur mit der Hilfe und dem Beistand der Götter konnte es gelingen. Sie standen deinen Architekten und Baumeistern zur Seite. Der Große Gott Thot hat ihre Hand geführt, als sie die Pläne für deinen Tempel der Millionen Jahre entwarfen, und der Große Gott Ptah führte die Hand deiner Handwerker, als diese ihn danach errichteten. Die Götter werden erfreut sein zu sehen, dass du ihnen solch eine Ehrfurcht entgegenbringst.« Sie wandte den Blick wieder bewundernd dem Tempel zu.
»Und wie gefällt dir das Heiligtum, Hori?«, wandte sich Ramses seinem Sohn zu, der links von ihm schritt.
»Es ist wunderschön, Majestät, doch vor allem bin ich zutiefst beeindruckt, dass neben dem Obersten Vorsteher über die Bauarbeiten Deiner Majestät eine Frau an der Planung beteiligt war. Meritusir ist eine sehr bemerkenswerte Frau.«
»Ja, das ist sie in der Tat«, erwiderte Ramses gedankenversunken.
Sie hatten den Eingangspylon erreicht, dessen Tore sich auf halbem Wege weit geöffnet hatten und den Blick auf den Vorhof freigaben.
Amunhotep, Hohepriester von Abydos und Erster Prophet des Großen Gottes Osiris, trat auf das Eingangspodest, um den König zu begrüßen. Ihm zur Seite standen Meritusir und die anderen Mitglieder der hohen Priesterschaft sowie die beiden obersten Priester, die den Kult am königlichen Ka verrichteten würden. Sie verneigten sich tief vor dem Pharao und folgten ihm, seiner Großen Königlichen Gemahlin und dem Thronfolger auf den Vorhof, wo zwei weitere Granitstatuen des Königs den Zugang zum Innenhof flankierten.
Ramses fiel vor seinen eigenen Standbildern auf die Knie und verbrannte im Anschluss Weihrauch. Das königliche Gefolge drängte sich derweil im gebührenden Abstand zu ihm im Vorhof.
Eine weitere, leicht ansteigende Rampe führte zu einem von mächtigen Säulen getragenen Vordach, hinter dem sich der Zugang zum heiligen Bereich des Tempels befand, den nur Priester sowie der König, heute aber auch Isis und Hori betreten durften.
Der dahinter befindliche Innenhof wurde von Kolonnaden gesäumt. Auch hier stachen die prachtvoll dekorierten Säulen ins Auge, die im oberen Teil in einer geschlossenen Papyrusblüte endeten. Ramses’ Statuen begrenzten wiederum den nächsten Zugang, der zum Säulensaal mit seinen insgesamt sechsundfünfzig Pfeilern führte.
Mit staunenden Augen folgte Prinz Hori seinem königlichen Vater. Er konnte seine Begeisterung kaum verbergen. »Es ist so schön, dass es mir die Worte raubt«, raunte er ihm zu, als dieser stehen geblieben war, um sich den Säulensaal genauer zu betrachten. »Wenn ich einmal auf dem Thron der Beiden Länder sitze, werde ich ebenfalls einen solchen Tempel zum Ruhme der Götter errichten lassen«, fügte er euphorisch hinzu.
Ramses schenkte ihm einen verschmitzten Blick aus den Augenwinkeln. »Bis dahin, mein Sohn, werden hoffentlich noch ein paar Jahre vergehen.«
Errötend senkte Hori den Blick. »Verzeih, Majestät. Mögen die Götter dir tausend Mal tausend Sed-Feste schenken.«
Ramses schmunzelte und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Säulensaal, hinter dem sich die Halle der Götter mit ihren sieben Sanktuarien befand.
Er schritt weiter und betrat diesen Bereich. Linker Hand waren die Schreine der Gottheiten Seth, Horus und Osiris angeordnet, während sich auf der rechten Seite die der Götter Ptah, Thot und Amun-Re befanden. Gegenüber dem Eingang erhob sich das Heiligtum des königlichen Ka, von dem beiderseits Zugänge in die hintersten Teile des Tempels führten. Vor jedem Schrein stand ein Opfertisch aus in Gold gefasstem Silber. Die Wände waren mit getriebenen Blechen aus Gold und Silber verkleidet, in denen sich tausendfach das Licht der Lampen brach. Das Dach wurde von wuchtigen Säulen getragen, die von den Handwerkern aus Abydos wunderschön bearbeitet worden waren. Sie waren bunt bemalt und mit Einlagen aus Fayence und Glasfluss verziert.
Vor jedem der sieben Schreine verneigte sich Ramses und verrichtete die vorgeschriebenen Rituale. Die Priester verteilten derweil die Gaben, die die Götter erfreuen sollten, während Amunhotep und Meritusir der königlichen Familie zur Seite standen und ihnen die Räucherpfannen und Opfergaben reichten.
Anschließend begab sich Ramses zusammen mit Amunhotep und Meritusir in den geheimsten Teil seines Tempels der Millionen Jahre, der links von der Halle der Götter abging. Er wiederholte auch dort die heiligen Handlungen vor dem Schrein der Göttin Isis und der großen Granitstatue des Osiris, die etwas abseits aufgestellt worden war, bis sie nach Ramses’ Tod den Zugang zu seinem Haus für die Ewigkeit für immer verschließen würde.
Als Letztes betrat er sein fertig gestelltes Grab und war des Lobes voll.
»Ich bin zufrieden mit dem, was ihr beide geleistet habt«, hob er an und sah wohlwollend zu seinen beiden Priestern. »Genauso hatte ich es mir vorgestellt. Nun kann ich nur noch hoffen und beten, dass ich nach meinem Tode hier ungestört ruhen werde, bis mich die Götter zu sich holen, auf dass ich in die Barke des Re steigen kann.«
Amunhotep neigte den Kopf. »Danke, Majestät. Meine Gemahlin und ich haben alles getan, damit das geschehen wird. Nach deinem Ableben werden wir den Zugang verschließen und versiegeln. Niemand aus den Reihen deiner Priester wird es wagen, deine ewige Ruhe zu stören.«
»Und was wird sein, falls ihr beide vor mir zu den Göttern befohlen werdet?«
Meritusir und Amunhotep erschauerten leicht, doch der Hohepriester erwiderte: »Sollte das geschehen, Majestät, kannst du auf Netnebu vertrauen, der alles unternehmen wird, damit dein Westliches Haus vor Räubern sicher ist.«
»Wie viel weiß er darüber?«
»Wir sind unserer Schweigepflicht stets nachgekommen, doch inzwischen wird wohl jeder höhere Priester in Kemi wissen, was in Abydos geschehen ist. Ein solches Vorhaben kann man auf Dauer nicht verheimlichen. Doch es sind Priester, die über deine ewige Ruhe wachen. Keiner von ihnen wird den Frevel begehen, dich zu berauben. Sie dienen den Göttern und dir, Majestät.«
»Zudem müssten sie zuvor den halben Tempel abbauen, um an dein Grab zu gelangen«, fügte Meritusir hinzu. »Ein Unterfangen, das nicht unbemerkt bleiben würde.«
Auf Ramses’ Gesicht zeigte sich ein zufriedenes Lächeln. »Ich habe mich wirklich nicht in euch getäuscht und will mich für eure Treue und euren Gehorsam erkenntlich zeigen. Kommt nachher zu mir in den Palast.« Er wandte sich um und verließ die Grabstätte.
Eine Stunde später saßen die Eheleute dem Herrscher in seinen privaten Räumlichkeiten gegenüber.
Nachdem ein paar belanglose Höflichkeiten ausgetauscht worden waren, öffnete Ramses die kleine Schatulle, die neben ihm auf einem Tischchen stand, und entnahm ihr eine Schriftrolle, die er Amunhotep überreichte. »Mein Dank soll für jeden von euch ein Sarkophag aus Granit sein, der eure für die Ewigkeit hergerichteten Leiber aufnehmen soll.«
Amunhotep war aufgestanden und nahm wie benommen die Rolle entgegen. »Majestät ...«, stammelte er fassungslos.
Auch Meritusir war zu überwältigt, um ein Wort herauszubringen. Sie erhob sich ebenfalls von ihrem Platz und trat neben ihren Gemahl. Nachdem sie mit Amunhotep einen knappen Blick gewechselt hatte, blickte sie wieder zu Ramses, der sie und ihren Mann amüsiert beobachtete. Schnell hatte sie sich wieder gefangen und bedankte sich mit Tränen der Freude in den Augen, während Amunhotep noch immer die Worte fehlten. Zutiefst berührt legte er ihr den Arm um die Schultern und zog sie näher an sich heran.
Dann räusperte er sich verlegen, bevor er endlich zu sprechen anhob: »Danke, Ramses. Ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll, so tief bewegt bin ich von der Gnade und Ehre, die du uns zuteilwerden lässt. Erst das Haus für die Ewigkeit im Königstal und nun noch zwei Sarkophage ...« Er suchte nach weiteren Worten, doch Ramses winkte ab.
»Lass es gut sein, mein Freund. Eure Reaktion zeigt mir, was Worte des Dankes ausdrücken würden.« Er lächelte den beiden Priestern wohlwollend zu und forderte sie auf, sich wieder zu setzen. »Wie geht es eurem Sohn?«, wechselte er das Thema. »Er müsste inzwischen drei Jahre alt sein.«
»Ja, Majestät«, kam Meritusir ihrem Mann zuvor. »Usirhotep hat Ende des vergangenen Jahres seinen dritten Geburtstag gefeiert, und es geht ihm gut.« Ihre grünen Augen strahlten vor Glück, als sie Ramses über ihren Sohn erzählte. »Er ist ein lieber Junge, der mit wahrer Begeisterung seiner Amme und seinen Eltern Löcher in den Bauch fragt und den ganzen Tag nichts anderes tut, als mit seinen Holzklötzchen Häuser, Türme und sonstige undefinierbare Gebilde zu bauen. Er kommt da ganz nach seinem Vater.« Grinsend schielte sie zu ihrem Mann.
»Und seiner Mutter«, warf Amunhotep verschmitzt ein, während Ramses schallend lachte.
»Dann ist die Zukunft der gewaltigen Bauvorhaben in den Beiden Ländern auch weiterhin gesichert. Ich glaube, ihr müsst mir den Knaben vorstellen.«
»Wie du wünschst, Ramses«, erwiderte Amunhotep, »doch wie Meritusir sagte, er wird dir die ganze Zeit über Fragen stellen, sodass selbst dir bald die Antworten ausgehen werden.«
»Ich lasse es auf einen Versuch ankommen.« Ramses griff nach dem Becher Wein, der auf dem Tisch zu seiner Linken stand. »Wie geht es deinen Eltern, Amunhotep?«, erkundigte er sich und bemerkte zu seinem Erstaunen, dass sich Meritusirs Blick verschleierte. Überrascht wandte er sich ihr zu, bevor sein Freund zu einer Antwort ansetzen konnte. »Was ist geschehen?«, fragte er sie.
»Nichts, Majestät«, versuchte sich Meritusir der Frage zu entziehen. Da sich Ramses mit dieser Antwort nicht abspeisen ließ und weiterhin seinen Blick auf sie gerichtet hatte, fügte sie hinzu: »Ich habe nur in der letzten Zeit des Öfteren an meine Eltern denken müssen.« Betrübt senkte sie den Kopf. »Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als hier in dieser Zeit zusammen mit meinem Mann und meinem Sohn alt zu werden. Trotzdem würde ich meine Eltern so gerne noch einmal sehen, um ihnen zu sagen, dass es mir gut ergeht und dass sie sich keine Sorgen machen müssen. Wenn ich wenigstens wüsste, was nach meinem Verschwinden geschehen ist? Wie viel Zeit ist seit damals vergangen? Sind es ebenfalls die beinahe achteinhalb Jahre, die ich nun hier in Kemi bin, oder sind es vielleicht nur achteinhalb Augenblicke, die seitdem vergangen sind? Ich weiß es nicht, und das raubt mir in der letzten Zeit den Schlaf. Ich will nicht, dass meine Eltern, Verwandte und Freunde sich grämen, dass sie glauben, ich wäre tot. Ich möchte nur, dass sie wissen, dass ich in einer anderen Zeit gelandet bin, wo ich es gut habe, und selbst dieses Wissen würde sie zutiefst betrüben.«
Ramses sagte kein Wort, denn darüber hatte er sich noch niemals Gedanken gemacht. Er konnte aber Meritusirs Schmerz verstehen.
»Verzeih, Majestät«, riss sie ihn aus seinen Überlegungen, »du hattest Amunhotep etwas gefragt, und ich denke, dass er dir darauf antworten sollte.«
Sie sah zu ihrem Mann, der sich zu ihr beugte und ihr einen zärtlichen Kuss auf die Wange gab, bevor er antwortete: »Meinem Vater geht es gut, wenn man von seinem Bein absieht, das ihm hin und wieder zu schaffen macht, doch jeden Tag spreche ich Gebete für meine Mutter. Ihre Gesundheit wird immer schlechter. Es grenzte schon beinahe an ein Wunder, dass sie sich wieder erholt hat, nachdem sie völlig geschwächt und ausgemergelt darniederlag. Nun aber hat sie ein erneuter Schwächeanfall ans Bett gefesselt, und ich glaube, dieses Mal kommt sie nicht wieder auf die Beine.«
»Das tut mir leid zu hören. Bestelle ihr meine besten Wünsche, wenn du sie das nächste Mal siehst.«
»Danke, Ramses, das werde ich tun. Wenn du nichts dagegen einzuwenden hast, würde ich die beiden gerne mit Meritusir und meinem Sohn in Theben besuchen. Meine Mutter soll wenigstens noch ihren Enkel sehen, bevor sie in das Reich des Osiris geht. Bisher hatten wir keine Zeit dazu.«
»Begleitet mich und seid meine Gäste in Theben zum Schönen Fest vom Tal«, sprach Ramses spontan eine Einladung aus und fragte sich im selben Moment, ob es ratsam war, Meritusir und Amunhotep nach Theben einzuladen. Er hatte Sethi, dem er keinerlei Verfehlungen im vergangenen Jahr hatte nachweisen können, wieder sein Vertrauen ausgesprochen und ihm zudem erlaubt, in die südliche Königsstadt zu reisen, um an der Festlichkeit teilnehmen zu können. Nun war es zu spät. Er konnte seine Einladung nicht wieder zurückziehen. Er räusperte sich und fügte hinzu: »Dann kannst du deine Mutter und deinen Vater besuchen, und Meritusir und dein Sohn können an den Feierlichkeiten zu Ehren unserer lieben Verstorbenen teilnehmen.«
Meritusir, die noch eben bedrückt vor sich hingestarrt hatte, hob überrascht den Kopf, während ihre Augen begeistert zu leuchten begannen. »Darf ich dann auch mit ins Königstal, um mir unser Haus für die Ewigkeit anzusehen?«, fragte sie.
Ramses bejahte.