KAPITEL 4
Altvordere: Die Anasazi und ihre Nachbarn
Wüstenbauern ■ Baumringe ■ Bewässerungsmethoden für Nutzpflanzen ■ Chacos Probleme und Buschratten ■ Regionale Integration ■ Niedergang und Ende von Chaco ■ Was wir von Chaco lernen können
Unter den Schauplätzen von Gesellschaftszusammenbrüchen, die in diesem Buch betrachtet werden, wurden die beiden abgelegensten - die Inseln Pitcairn und Henderson - im letzten Kapitel beschrieben. Das andere Extrem sind jene, die einem Amerikaner geographisch am nächsten liegen: die Gebiete der Anasazi in New Mexico im Südwesten der USA, der Chaco Culture National Historical Park am Highway 57 und der Mesa Verde National Park am US-Highway 666. Beide sind noch nicht einmal 1000 Kilometer von meiner Heimatstadt Los Angeles entfernt. Wie die Mayastädte, die den Gegenstand des nächsten Kapitels bilden, sind auch diese und andere altamerikanische Ruinen beliebte Touristenattraktionen, die jedes Jahr von vielen tausend Bewohnern der modernen Industriestaaten besucht werden. Eine dieser früheren Kulturen im Südwesten, die Mimbreskultur, ist wegen ihrer schönen Keramik mit geometrischen Mustern und realistischen Darstellungen auch bei Kunstsammlern beliebt: Eine Gesellschaft von nur knapp 4000 Menschen begründete eine einzigartige Tradition und erlebte nur wenige Generationen lang eine Blütezeit, bevor sie ganz plötzlich verschwand.
Ich gebe zu, dass die Gesellschaften im Südwesten der USA in einem viel kleineren Ausmaß tätig waren als die Städte der Maya, denn ihre Bevölkerung war wesentlich kleiner. Deshalb haben die Mayastädte eine weitaus größere Fläche sowie üppigere Denkmäler und Kunstgegenstände. Sie waren das Produkt einer Gesellschaft mit viel stärker ausgeprägter Schichtstruktur, die von Königen geleitet wurde und bereits eine Schrift besaß. Aber den Anasazi gelang es, die größten und höchsten Bauwerke Nordamerikas zu errichten, die erst in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts von den Wolkenkratzern Chicagos mit ihren Stahlskeletten übertroffen wurden. Obwohl die Anasazi keine Schrift besaßen, sodass wir Inschriften nicht wie bei den Maya bis auf den Tag genau datieren können, lässt sich das Alter vieler Bauwerke im Südwesten der USA, wie wir noch genauer erfahren werden, bis auf ein Jahr genau feststellen, und deshalb können die Archäologen die Vergangenheit der Anasazi-Gesellschaft mit einer viel feineren zeitlichen Auflösung nachzeichnen als auf der Osterinsel, Pitcairn und Henderson.
Im Südwesten der USA haben wir es nicht nur mit einer einzigen Kultur und ihrem Zusammenbruch zu tun. Regionale Zusammenbrüche, tief greifende Umstrukturierungen und die völlige Vernichtung machten die Kulturen im Südwesten an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten durch: Die Mimbres erlebten es um 1130 n. Chr.; die Anasazi von Chaco Canyon, North Black Mesa und Virgin Mitte oder Ende des 12. Jahrhunderts; die Anasazi von Mesa Verde und Kayenta um 1300; die Mogollon um 1400; und noch im 15. Jahrhundert traf es vermutlich die Hohokam, die durch ihre raffinierten landwirtschaftlichen Bewässerungssysteme bekannt wurden. Zwar ereigneten sich alle diese Umwälzungen, bevor Kolumbus 1492 in die Neue Welt kam, aber als Volk verschwanden die Anasazi nicht: Ein Teil ihrer Nachkommen wurde von anderen Gesellschaften der amerikanischen Ureinwohner aufgenommen, die es noch heute gibt, beispielsweise von den Pueblo-Indianerstämmen der Hopi und Zuni. Was waren die Ursachen für den Niedergang oder derart abrupte Veränderungen in so vielen benachbarten Gesellschaften?
Als beliebteste Einzelursachen werden Umweltschäden, Dürre, Kriegsführung und Kannibalismus genannt. Aber eigentlich ist die Vorgeschichte des nordamerikanischen Südwestens ein Friedhof solcher Einzelfaktor-Erklärungen. In Wirklichkeit waren zahlreiche Faktoren am Werk, aber alle lassen sich auf das Grundproblem zurückführen, dass die Umwelt im Südwesten der USA empfindlich ist und sich nicht für die Landwirtschaft eignet - genau wie heute in vielen anderen Teilen der Welt. Der Niederschlag ist gering und unberechenbar, der Boden wird schnell ausgelaugt, und Wälder wachsen nur sehr langsam nach. Umweltprobleme, insbesondere größere Dürreperioden oder die Erosion von Flussbetten, wiederholen sich in der Regel in Zeitabständen, die viel länger sind als die Lebenszeit eines Menschen oder die Zeitspanne der mündlichen Überlieferung. Angesichts solcher Schwierigkeiten ist es erstaunlich, dass die Ureinwohner im Südwesten Nordamerikas derart vielschichtige bäuerliche Gesellschaften entwickelten. Für ihren Erfolg spricht unter anderem, dass heute in großen Teilen ihres Gebietes nur eine viel kleinere Bevölkerung vom Anbau eigener Lebensmittel leben kann als zur Zeit der Anasazi. Für mich war es ein bewegendes, unvergessliches Erlebnis, durch die Wüstengebiete mit den verstreuten Überresten früherer Steinhäuser, Dämme und Bewässerungssysteme der Anasazi zu fahren, die in einer heute praktisch völlig menschenleeren Landschaft stehen, wo nur hier und da gelegentlich ein Haus bewohnt ist. Der Zusammenbruch der Anasazi und anderer Gesellschaften im Südwesten der Vereinigten Staaten liefert uns nicht nur eine ergreifende Geschichte, sondern sie ist im Zusammenhang dieses Buches auch lehrreich, macht sie doch sehr gut unsere Themen deutlich: die Wechselbeziehungen zwischen Eingriffen der Menschen in die Umwelt und Klimaveränderungen; Umwelt- und Bevölkerungsprobleme, die in Kriege münden; Stärken und Schwächen komplizierter Gesellschaften, die sich nicht selbst erhalten können, sondern auf Import und Export angewiesen sind; und Gesellschaften, die nach einem Höhepunkt von Bevölkerungszahl und Macht sehr schnell in sich zusammenfallen.
Dass wir über die Vorgeschichte des Südwestens so detaillierte Kenntnisse besitzen, liegt daran, dass die Archäologen sich in dieser Region zweier Vorteile erfreuen können.
Eine ist die Buschratten-Abfallhaufenmethode, die ich im Folgenden noch genauer erläutern werde: Sie liefert uns wie eine Zeitkapsel Aufschlüsse über die Pflanzen, die wenige Jahrzehnte vor oder nach einem berechneten Datum im Umkreis weniger Dutzend Meter um einen Abfallhaufen wuchsen. Aufgrund dieses Vorteils konnten die Paläobotaniker den Wandel der örtlichen Vegetation nachzeichnen. Der zweite Vorteil ermöglicht es den Archäologen, bebaute Orte auf das Jahr genau zu datieren; dazu benutzen sie die Jahresringe der jeweils zum Bau verwendeten Holzbalken, sodass sie im Gegensatz zu den Archäologen in anderen Gebieten nicht auf die Radiokarbonmethode zurückgreifen müssen, die zwangsläufig eine Fehlerspanne von 50 bis 100 Jahren beinhaltet.
Grundlage der Jahresringe-Methode ist die Tatsache, dass Niederschlag und Temperatur im Südwesten jahreszeitlichen Schwankungen unterworfen sind, und entsprechend schwankt - genau wie an anderen Stellen in den gemäßigten Breiten - auch die Wachstumsgeschwindigkeit der Bäume je nach der Jahreszeit. Deshalb legen die Bäume in den gemäßigten Klimazonen neues Holz in jährlichen Wachstumsringen an, während das Wachstum der Bäume in den tropischen Regenwäldern nahezu kontinuierlich verläuft. Für Untersuchungen der Jahresringe eignen sich die Bäume im Südwesten aber besser als in den meisten anderen gemäßigten Zonen, denn das trockene Klima hat zur Folge, dass Holzbalken ausgezeichnet erhalten bleiben, selbst wenn der betreffende Baum schon vor über 1000 Jahren gefällt wurde.
Die Datierung mit Hilfe der Jahresringe, mit dem Fachausdruck Dendrochronologie genannt (von den griechischen Wörtern dendron = Baum und chronos = Zeit), funktioniert folgendermaßen. Wenn man heute einen Baum fällt, kann man ganz einfach von außen nach innen die Ringe zählen: Man beginnt an der Oberfläche des Baumes (die dem Wachstumsring des laufenden Jahres entspricht) und kann auf diese Weise feststellen, dass der 177. Ring auf dem Weg von außen zur Mitte im Jahr 2005 minus 177 entstanden ist, das heißt 1828. Weniger einfach ist es, einem bestimmten Ring in einem alten Holzbalken der Anasazi ein Datum zuzuordnen, denn zunächst weiß man ja nicht, in welchem Jahr der Baum gefällt wurde. Aber die Wachstumsringe sind von Jahr zu Jahr unterschiedlich breit, je nachdem, welche Niederschlags- oder Dürreverhältnisse in dem fraglichen Jahr herrschten. Die Reihenfolge der Ringe im Querschnitt durch einen Baum ähnelt also einer Nachricht im Morsecode, der früher für die Übermittlung von Telegrammen verwendet wurde: Punkt-Punkt-Strich-Punkt-Strich im Morsealphabet oder breitbreitschmalbreitschmal in der Abfolge von Baumringen.
Die Spezialisten für Baumringe, auch Dendrochronologen genannt, gehen folgendermaßen vor: Sie registrieren zunächst die Abfolge breiterer und schmalerer Ringe in einem Baum, der vor kurzer Zeit in einem bekannten Jahr gefällt worden ist. Ebenso halten sie die Abfolge in den Balken aus Bäumen fest, die zu unbekannten Zeitpunkten in der Vergangenheit abgeholzt wurden. Dann vergleichen sie die Abfolge breiter und schmaler Streifen in unterschiedlichen Balken. Nehmen wir beispielsweise an, wir hätten dieses Jahr (2005) einen Baum gefällt und ein Alter von 400 Jahren (400 Ringen) ermittelt; für die Zeit von 1643 bis zurück ins Jahr 1631 fällt uns eine besonders charakteristische Reihe von fünf breiten, zwei schmalen und wiederum sechs breiten Ringen auf. Findet man die gleiche Sequenz sieben Jahre vom äußersten Ring eines alten Balkens entfernt, der 332 Ringe besitzt und zu einem unbekannten Zeitpunkt gefällt wurde, dann kann man daraus schließen, dass der Baum, zu dem der alte Balken gehörte, im Jahr 1650 (sieben Jahre nach 1643) gefällt wurde und dass sein Wachstum im Jahr 1318 (332 Jahre vor 1650) begann. Dann sucht man nach Übereinstimmungen zwischen diesem Baum, der zwischen 1318 und 1650 gelebt hat, und noch älteren Balken; wieder bringt man das Muster der Jahresringe nach dem gleichen Prinzip zur Übereinstimmung, und nun findet man vielleicht einen Balken, dessen Baum dem Muster zufolge nach 1318 gefällt wurde, aber vor 1318 zu wachsen begann; auf diese Weise verschiebt man die zeitliche Abfolge der Baumringe immer weiter in die Vergangenheit. In manchen Teilen der Welt konnte man mit Hilfe der Jahresringe eine Zeittafel erstellen, die mehrere tausend Jahre zurückreicht. Ein solches Schema gilt jeweils nur für eine bestimmte geographische Region, und wie groß diese Region ist, hängt von den örtlichen Wetterverhältnissen ab - das Wetter und damit das Wachstum der Bäume ist von Ort zu Ort unterschiedlich. Das Grundmuster der Jahresringe im Südwesten Nordamerikas gilt beispielsweise (mit gewissen Abweichungen) für das Gebiet vom Norden Mexikos bis nach Wyoming.
Die Dendrochronologie hat den Vorteil, dass sich in der Breite und Feinstruktur der einzelnen Jahresringe nicht nur die Niederschlagsmenge widerspiegelt, sondern auch die Jahreszeit, in welcher der Regen in dem jeweiligen Jahr gefallen ist. Anhand der Jahresringe kann man also die Klimaverhältnisse früherer Zeiten rekonstruieren: Eine Reihe breiter Ringe spiegelt eine feuchte Periode wider, schmalere Ringe weisen auf eine Dürre hin. Mit Hilfe der Baumringe können die Archäologen im Südwesten der Vereinigten Staaten einzigartig genaue Rückschlüsse auf Zeitpunkt und jährliche Schwankungen der Umweltverhältnisse ziehen.
Die ersten Menschen kamen als Jäger und Sammler nach Amerika; den Südwesten der heutigen USA hatten sie spätestens 11 000 v. Chr. erreicht, möglicherweise aber auch schon früher. Es war die Zeit, als die Neue Welt von Asien aus durch die Vorfahren der amerikanischen Ureinwohner besiedelt wurde. Eine eigenständige Landwirtschaft entwickelte sich im Südwesten Nordamerikas nicht, denn es gab zu wenig wilde Pflanzen- und Tierarten, die man hätte domestizieren können. Stattdessen wurde die Landwirtschaft aus Mexiko übernommen, wo man Mais, Kürbisse, Bohnen und viele andere Arten domestiziert hatte - der Mais wurde um 2000 v. Chr. eingeführt, der Kürbis ungefähr 800 v. Chr. die Bohnen noch ein wenig später und die Baumwolle erst 400 n. Chr. Die Menschen hielten auch Truthähne; gewisse Meinungsverschiedenheiten gibt es dabei in der Frage, ob diese Tiere zuerst in Mexiko domestiziert wurden und sich dann in den Südwesten ausbreiteten, ob es umgekehrt war, oder ob man sie in beiden Gebieten unabhängig voneinander domestizierte. Ursprünglich bedienten sich die Ureinwohner im Südwesten der Landwirtschaft nur im Rahmen ihrer Lebensweise als Jäger und Sammler, ganz ähnlich wie die Apachen es auch im 18. und 19. Jahrhundert taten: Während der Wachstumssaison wurden sie sesshaft und ernteten die Pflanzen, während des übrigen Jahres zogen sie als Jäger und Sammler herum. Ungefähr um die Zeitenwende hatten manche Ureinwohner im Südwesten der USA sich bereits in den Dörfern eine sesshafte Lebensweise zu Eigen gemacht, sodass sie nun vorwiegend von der Landwirtschaft abhängig waren und ihre Felder mit Gräben bewässerten. Im weiteren Verlauf nahm die Bevölkerungszahl stark zu, und die Menschen verbreiteten sich in der Region, bis um 1117 n. Chr. der Rückgang begann.
Es entwickelten sich mindestens drei Formen der Landwirtschaft, mit denen das Grundproblem des Südwestens gelöst wurde: die Beschaffung von genügend Wasser zum Anbau von Pflanzen. Der Niederschlag ist in der Region so gering und so unberechenbar, dass dort heute wenig oder gar keine Landwirtschaft betrieben wird. Eine Lösung war der so genannte Trockenanbau: Man verließ sich auf den Niederschlag in höheren Lagen, wo es tatsächlich so viel regnete, dass die Pflanzen wachsen konnten. Bei einer zweiten Lösung musste der Regen nicht unmittelbar auf die Felder fallen; diese Art der Landwirtschaft setzte sich in Gebieten durch, wo der Grundwasserspiegel so dicht unter der Oberfläche lag, dass die Wurzeln der Pflanzen bis ins Wasser reichten. Solche Verhältnisse herrschten am Boden von Schluchten wie dem Chaco Canyon, wo jahreszeitliche oder ganzjährige Wasserläufe für einen hohen Grundwasserspiegel sorgten. Die dritte Lösung, die insbesonders von den Hohokam und ebenfalls im Chaco Canyon praktiziert wurde, bestand darin, abfließendes Wasser in Gräben oder Kanälen zu sammeln und auf die Felder zu leiten.
Im gesamten Südwesten bediente man sich dieser oder jener Abwandlung der genannten drei Methoden, um genügend Wasser für das Pflanzenwachstum bereitzustellen. Was ihre Anwendung anging, experimentierte man an verschiedenen Stellen mit mehreren Alternativen. Die Experimente wurden mindestens 1000 Jahre lang fortgesetzt, und viele erwiesen sich über Jahrhunderte als erfolgreich, aber am Ende fielen alle mit einer Ausnahme den Umweltproblemen zum Opfer, die auf die Einwirkung der Menschen oder auf Klimaveränderungen zurückgingen. Jede Alternative war mit anderen Risiken verbunden.
Eine Methode bestand darin, sich in größerer Höhe anzusiedeln, wo mehr Niederschlag fiel. Dies taten die Mogollon, die Menschen von Mesa Verde und die Vertreter jener Frühphase der Landwirtschaft, die als Pueblo I bezeichnet wird. Sie war aber mit der Gefahr verbunden, dass in höheren Lagen auch niedrigere Temperaturen herrschen, und in besonders kühlen Jahren war es unter Umständen so kalt, dass die Pflanzen überhaupt nicht wuchsen. Das andere Extrem waren die wärmeren Niederungen, wo der Niederschlag aber selbst für den Trockenanbau nicht ausreicht. Um dieses Problem zu umgehen, bauten die Hohokam das umfangreichste Bewässerungssystem, das es auf dem amerikanischen Kontinent außerhalb Perus gab. Es bestand aus einem fast 20 Kilometer langen, fünf Meter tiefen und 24 Meter breiten Hauptkanal, von dem Nebenkanäle mit vielen hundert Kilometern Länge abzweigten. Aber die Bewässerung barg ein anderes Risiko: Nach einem Gewitter konnten plötzlich abfließende, große Wassermassen die Kanäle weiter ausspülen, sodass so genannte Arroyos entstanden, tiefe Gräben, in denen der Wasserspiegel unter das Niveau der Felder sank. Dann war eine Bewässerung ohne Pumpen nicht mehr möglich. Außerdem besteht bei diesem System immer die Gefahr, dass besonders starke Regenfälle oder Überschwemmungen die Dämme und Kanäle zerstören, was bei den Hohokam wahrscheinlich auch tatsächlich geschah.
Eine konservativere Methode, der Anbau von Nutzpflanzen nur in Gebieten mit zuverlässigen Quellen und konstantem Grundwasserspiegel, wurde anfangs von den Mimbres praktiziert, aber auch im Chaco Canyon von den Menschen in der Phase der Landwirtschaft, die man Pueblo II nennt. Dann aber wuchs die gefährliche Verlockung, die Landwirtschaft in feuchten Jahrzehnten mit günstigen Wachstumsbedingungen auch auf Randgebiete auszuweiten, wo Wasserquellen und Grundwasser weniger zuverlässig waren. Die Bevölkerung, die sich in solchen Regionen stark vermehrte, konnte später keine Pflanzen mehr anbauen und musste hungern, wenn das unberechenbare Klima sich erneut änderte. Dieses Schicksal ereilte die Mimbres: Sie betrieben ihre Landwirtschaft anfangs ohne Risiko in der Flussniederung, aber als ihre Bevölkerung die Produktionskapazität des ursprünglichen Anbaugebietes überforderte, bebauten sie auch die benachbarten Regionen oberhalb davon. Während einer feuchten Klimaphase ging das Glücksspiel gut, und sie konnten die Hälfte ihres Nahrungsbedarfs außerhalb der Flussniederung decken. Als es jedoch wieder trockener wurde, überstieg der Bedarf der gewachsenen Bevölkerung die Produktion der Flussniederung um das Doppelte, und unter dieser Belastung brach die Gesellschaft der Mimbres abrupt zusammen.
Wiederum eine andere Lösung bestand darin, sich nur für wenige Jahrzehnte in einem Gebiet niederzulassen und den Ort zu wechseln, sobald Boden und Wildbestände erschöpft waren. Diese Methode war praktikabel, solange die Bevölkerungsdichte gering blieb, denn dann gab es noch viele unbewohnte Gebiete, die man besiedeln konnte; anschließend ließ man sie so lange unberührt, bis die Vegetation und die Nährstoffe im Boden sich wieder erholt hatten. Tatsächlich waren die meisten archäologischen Stätten im Südwesten Nordamerikas nur wenige Jahrzehnte bewohnt; die größte Aufmerksamkeit ziehen heute allerdings die wenigen großen Orte wie Pueblo Bonito im Chaco Canyon auf sich, in denen mehrere Jahrhunderte lang ununterbrochen Menschen lebten.
Eine weitere Alternative war die Praxis, Pflanzen trotz der lokal unvorhersehbaren Niederschläge an vielen verschiedenen Orten anzubauen und dann an den Stellen zu ernten, wo der Regen einen guten Ertrag ermöglicht hatte; ein Teil der Ernte wurde dann an die Bewohner der Stellen verteilt, die in dem fraglichen Jahr zufällig nicht genügend Niederschlag abbekommen hatten. Diese Methode setzte sich schließlich im Chaco Canyon durch. Aber auch sie war mit einer Gefahr verbunden: Die Umverteilung erforderte ein kompliziertes politisches und gesellschaftliches System, in dem die Aktivitäten der verschiedenen Orte zusammenflossen, und als dieses komplexe System schließlich zusammenbrach, litten viele Menschen Hunger.
Die letzte Methode schließlich war der Anbau von Pflanzen in der Nähe dauerhafter oder zuverlässiger Wasserquellen, wobei man aber in höheren Lagen oberhalb der Hauptwasserwege wohnte und so der Gefahr aus dem Weg ging, dass Überschwemmungen die Felder und Dörfer wegspülten; außerdem betrieb man eine vielfältige Wirtschaft und nutzte unterschiedliche ökologische Zonen aus, sodass jede Siedlung sich selbst versorgen konnte. Diese Lösung übernahmen die Vorfahren der heutigen Hopi- und Zuni-Pueblo-Indianer, und sie war über 1000 Jahre lang erfolgreich. Manche modernen Hopi- und Zuni-Indianer schütteln heute beim Blick auf die Übertreibungen der amerikanischen Gesellschaft den Kopf und sagen: »Wir waren hier, lange bevor ihr gekommen seid, und wir werden auch noch hier sein, wenn ihr längst wieder weg seid.«
Alle diese Alternativlösungen sind durch ein ähnliches, übergeordnetes Risiko bedroht: Eine Reihe guter Jahre mit ausreichendem Niederschlag oder ausreichend hohem Grundwasserspiegel kann zu Bevölkerungswachstum führen; das wiederum hat zur Folge, dass die Gesellschaft immer komplexer wird, immer mehr gegenseitige Abhängigkeiten entwickelt und sich lokal nicht mehr selbst versorgen kann. Folgen dann mehrere schlechte Jahre, kommt eine solche Gesellschaft nicht mehr damit zurecht, und sie kann sich anschließend nicht so gut regenerieren wie eine weniger bevölkerungsreiche, weniger von gegenseitigen Abhängigkeiten geprägte und eher autarke Gesellschaft. Wie wir noch genauer erfahren werden, war genau dieses Dilemma der Grund, warum die Anasazi ihre Siedlungen im Longhouse Valley und möglicherweise auch in anderen Gebieten aufgeben mussten.
Am eingehendsten hat man untersucht, wie die spektakulärsten und größten Ansiedlungen der Anasazi im Chaco Canyon im Nordwesten des US-Bundesstaates New Mexico aufgegeben wurden. Die Gesellschaft der Anasazi erlebte dort ungefähr seit dem Jahr 600 n. Chr. eine über fünf Jahrhunderte lange Blütezeit, bevor sie irgendwann zwischen 1150 und 1200 verschwand. Es war eine kompliziert organisierte, geographisch weit ausgedehnte Gesellschaft mit regionalem Zusammenhalt, und sie errichtete die größten präkolumbianischen Bauwerke Nordamerikas. Über die öde, baumlose Landschaft des Chaco Canyon mit ihren tief eingeschnitten Arroyos und dem spärlichen, niedrigen Bewuchs aus salztolerantem Buschwerk staunen wir noch mehr als über die öde, baumlose Landschaft der Osterinsel: Der Canyon ist heute, abgesehen von ein paar Häusern der Nationalpark-Ranger, vollkommen unbewohnt. Warum bauten Menschen in dieser Einöde eine hoch entwickelte Stadt, und warum gaben sie sie auf, nachdem die Errichtung so viel Arbeit gekostet hatte?
Als die Bauern um 600 n. Chr. in den Chaco Canyon kamen, lebten sie anfangs wie andere Ureinwohner des Südwestens in unterirdischen Höhlenwohnungen. Mit den Gesellschaften der Ureinwohner, die 1500 Kilometer weiter südlich im heutigen Mexiko steinerne Bauwerke errichteten, hatten die Anasazi von Chaco keinen Kontakt; unabhängig von diesen erfanden sie um 700 n. Chr. Methoden, um Häuser aus Steinen zu bauen, und schließlich setzte sich eine Technik mit einem Kern aus Geröll und Verkleidungen aus geschnittenen Steinplatten durch. Anfangs hatten die Gebäude nur ein Stockwerk, aber um 920 errichtete man im Pueblo Bonito, später der größten Siedlung von Chaco, bereits zwei Stockwerke, und in den folgenden beiden Jahrhunderten entstanden Gebäude mit fünf oder sechs Etagen und 600 Zimmern, deren Dächer von fünf Meter langen, bis zu 320 Kilo schweren Balken getragen wurden.
Warum war unter allen Siedlungen der Anasazi gerade der Chaco Canyon diejenige, an der Bautechnik sowie politische und gesellschaftliche Komplexität ihren Höhepunkt erreichten? Eine mutmaßliche Ursache sind gewisse ökologische Vorteile des Chaco Canyon, dessen Umwelt im Nordwesten von New Mexico anfangs eine angenehme Oase darstellte. Die enge Schlucht nimmt abfließendes Regenwasser von vielen Seitentälern und großen Hochflächen auf, und der so entstehende, hohe Grundwasserspiegel ermöglichte in manchen Gebieten unabhängig vom lokalen Niederschlag die Landwirtschaft. Außerdem beschleunigte das abfließende Wasser die Regeneration des Bodens. Die große bewohnbare Fläche des Canyons und des Gebietes in 80 Kilometern Umkreis konnte im Vergleich zu anderen trockenen Gebieten eine relativ große Bevölkerung ernähren. In der Chaco-Region lebt eine große Vielfalt wilder Pflanzen- und Tierarten, und die vergleichsweise niedrige Höhenlage verschafft den Nutzpflanzen eine lange Wachstumssaison. Anfangs lieferten die Kiefern- und Wacholdergehölze der Umgebung das Bau- und Feuerholz. Die ältesten Dachbalken, die man an den Jahresringen identifizieren konnte und die im trockenen Klima des Südwestens gut erhalten geblieben sind, stammen von den Arizonakiefern der Region, und auch bei den Überresten des Feuerholzes an alten Herdstellen handelt es sich um die lokalen Kiefern- und Wacholderarten. Die Ernährung der Anasazi bestand vor allem aus Mais mit ein wenig Kürbis und Bohnen, in den ältesten archäologischen Schichtungen erkennt man jedoch auch, dass viele Kiefernsamen (mit 75 Prozent Protein) und andere wilde Pflanzen verzehrt wurden; außerdem wurden Hirsche gejagt.
Diesen natürlichen Vorteilen des Chaco Canyon standen zwei wichtige Nachteile entgegen, die aus der ökologischen Empfindlichkeit des Südwestens erwuchsen. Der eine betraf die Bewirtschaftung der Wasservorräte. Anfangs bedeckte das abfließende Regenwasser in einer breiten Schicht den flachen Boden des Canyons, sodass die landwirtschaftlichen Flächen in den Flussniederungen sowohl durch dieses abfließende Wasser als auch durch das hoch stehende Grundwasser bewässert wurden. Als die Anasazi aber immer mehr Wasser zur Bewässerungszwecken in Kanäle leiteten, führte das konzentriert in diesen Kanälen abfließende Wasser in Verbindung mit der Rodung zu landwirtschaftlichen Zwecken und natürlichen Vorgängen ungefähr seit 900 n. Chr. dazu, dass tiefe Arroyos ausgewaschen wurden. In ihnen stand das Wasser unter dem Niveau der Bodenoberfläche, sodass eine landwirtschaftliche Bewässerung und auch eine auf Grundwasser basierende Landwirtschaft unmöglich wurden, bis die Arroyos wieder aufgefüllt waren. Solche tiefen Gräben können sich sehr plötzlich bilden. In der Stadt Tucson in Arizona beispielsweise gruben Siedler Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts einen so genannten Auffanggraben aus, der das hoch stehende Grundwasser aufnehmen und bergab auf die Flussniederung leiten sollte. Im Sommer 1890 führten schwere Regenfälle dazu, dass das obere Ende des Grabens tief eingeschnitten wurde, und der so entstehende Arroyo erstreckte sich bereits drei Tage später zehn Kilometer bergauf, sodass bei Tucson eine zerfurchte, landwirtschaftlich nutzlose Flussniederung zurückblieb. Ähnliche Auffanggräben legten wahrscheinlich auch die Ureinwohner im Südwesten an, und auch die Folgen dürften ähnlich gewesen sein. Die Chaco-Anasazi bewältigten das Problem der Arroyos in ihrem Canyon auf unterschiedliche Weise: In Seitentälern, über dem Niveau des Hauptcanyons errichteten sie Dämme, um das Regenwasser zu speichern; die Felder legten sie so an, dass das Regenwasser sie bewässern konnte; sie speicherten das Regenwasser, das zwischen den Seitentälern über die Klippen am Nordrand des Canyons floss; und schließlich bauten sie im Hauptcanyon aus Felsen einen Damm.
Das zweite große ökologische Probleme neben der Wasserbewirtschaftung, die Waldzerstörung, wird durch Analyse der Buschratten-Abfallhaufen deutlich. Wer (wie ich bis vor einigen Jahren) noch nie eine Buschratte gesehen hat, kennt auch ihre Abfallhaufen nicht und kann sich vermutlich nicht vorstellen, welch große Bedeutung sie für die Erforschung der Anasazi-Vorgeschichte haben. Deshalb möchte ich kurz erklären, was es mit der Untersuchung dieser Abfallhaufen auf sich hat. Als hungrige Goldsucher im Jahr 1849 die Wüste von Nevada durchquerten, entdeckten sie auf einer Klippe glitzernde Kugeln aus einer bonbonartigen Substanz. Sie leckten daran oder aßen sie und bemerkten, dass sie süß schmecken, aber dann wurde ihnen übel. Schließlich stellte sich heraus, dass es sich bei den Kugeln um die harten Exkremente der Buschratten handelte. Diese kleinen Nagetiere bauen sich ein schützendes Nest aus Stöcken, Pflanzenteilen und dem Dung von Säugetieren, die sie in ihrer Umgebung sammeln, und hinzu kommen auch Nahrungsreste, übrig gebliebene Knochen und ihre eigenen Ausscheidungen. Der Urin der Ratten kristallisiert beim Trocknen Zucker und andere Substanzen aus, und damit nehmen die Exkremente eine ziegelsteinähnliche Konsistenz an. Letztlich aßen die hungrigen Goldgräber also getrockneten Rattenurin, der mit Rattenkot und den Nahrungsresten der Ratten gewürzt war.
Natürlich wollen auch Buschratten sich so wenig Arbeit wie möglich machen und das Risiko, bei ihren Ausflügen aus dem Nest von natürlichen Feinden aufgegriffen zu werden, gering halten; deshalb sammeln sie Pflanzen nur in einem Umkreis von wenigen Dutzend Metern. Nach einigen Jahrzehnten geben die Nachkommen der Ratten ihren Bau auf und ziehen in ein neu gebautes Nest, und in der alten Behausung verhindert der kristallisierte Urin, dass das Material verrottet. Deshalb kann man die urinverkrusteten Überreste mehrerer Dutzend Pflanzenarten aus einem solchen Bau identifizieren und auf diese Weise eine Momentaufnahme der Vegetation rekonstruieren, die zu Lebzeiten der Ratten im Umfeld ihrer Behausung wuchs. Zoologen können aus den Resten von Insekten und Wirbeltieren auch Rückschlüsse auf die Tierwelt ziehen. Ein Buschrattenbau ist der Traum jedes Paläontologen: Eine Zeitkapsel mit einer Stichprobe der örtlichen Vegetation, die im Lauf weniger Jahrzehnte in einem Umfeld von wenigen Dutzend Metern gesammelt wurde, und das zu einer Zeit, die man durch die Radiokarbondatierung der Behausung ermitteln kann.
Im Jahr 1975 war der Paläoökologe Julio Betancourt als Tourist in New Mexico, und auf seiner Reise kam er zufällig auch in den Chaco Canyon. Als er auf die Baumlandschaft rund um den Pueblo Bonito hinunterblickte, dachte er bei sich: »Hier sieht es aus wie in einer öden mongolischen Steppe; woher hatten die Menschen ihr Bau- und Brennholz?« Die gleiche Frage hatten sich auch Archäologen bei der Untersuchung der Ruinen bereits gestellt. Drei Jahre später wurde Julio von einem Bekannten aus ganz anderen Gründen gebeten, einen Antrag für die Untersuchung von Buschrattenbehausungen zu schreiben, und dabei fiel ihm in einem Geistesblitz sein erster Eindruck vom Pueblo Bonito wieder ein. Mit einem schnellen Telefonanruf bei dem Buschrattenexperten Tom Van Devender fand er heraus, dass dieser auf dem Campingplatz des National Park Service nicht weit vom Pueblo Bonito bereits einige Bauten der Nagetiere untersucht hatte. In fast allen hatte er Nadeln der Arizonakiefer gefunden, die dort heute im Umkreis von vielen Kilometern nicht gedeiht; dennoch hatte sie in der frühen Bauphase des Pueblo Bonito die Dachbalken geliefert, und sie machte auch einen großen Teil der Holzkohle aus, die man in Feuerstellen und Abfallhaufen gefunden hatte. Wie Julio und Tom sofort erkannten, musste es sich hier also um alte Rattenbauten handeln: Sie waren in einer Zeit entstanden, als in der Nähe noch Kiefern wuchsen, aber niemand hatte eine Ahnung, wann das gewesen sein könnte. Die Wissenschaftler glaubten, es sei vielleicht nur ein Jahrhundert her. Also ließen sie einige Proben aus den Bauten mit der Radiokarbonmethode datieren. Als die Laborbefunde vorlagen, erfuhren die beiden zu ihrem großen Erstaunen, dass viele Buschrattenbauten mehr als 1000 Jahre alt waren.
Diese Zufallsbeobachtung wurde zum Auslöser für eine Fülle von Untersuchungen an den Exkrementen von Buschratten. Heute wissen wir, dass die Kugeln im trockenen Klima des nordamerikanischen Südwestens nur sehr langsam verrotten. Wenn sie unter einem Felsüberhang oder in einer Höhle vor den Elementen geschützt sind, bleiben sie unter Umständen bis zu 40 000 Jahre erhalten, viel länger, als irgendjemand zu hoffen gewagt hatte. Als Julio mir in Kin Kletso, einer Ausgrabungsstätte der Chaco-Anasazi, zum ersten Mal einen Buschrattenbau zeigte, empfand ich Ehrfurcht bei dem Gedanken, dass dieses scheinbar erst kürzlich gebaute Nest in Wirklichkeit zu einer Zeit entstanden war, als Mammuts, Riesenfaultiere, Amerikanische Löwen und andere ausgestorbene Eiszeit-Säugetiere im Gebiet der heutigen Vereinigten Staaten zu Hause waren.
Im weiteren Verlauf konnte Julio in der Region des Chaco-Canyon insgesamt fünfzig Buschratten-Behausungen aufspüren und mit der Radiokarbonmethode datieren; wie sich dabei herausstellte, deckte ihr Altersspektrum die gesamte Zeit des Aufstiegs und Niedergangs der Anasazi-Kultur von 600 bis 1200 n. Chr. ab. Auf diese Weise konnte Julio den Wandel der Vegetation im Chaco Canyon während der gesamten Anasazi-Zeit rekonstruieren. Bei den Untersuchungen wurde klar, dass der Waldverlust neben der Wasserbewirtschaftung das zweite große Umweltproblem war, das sich im Chaco-Canyon ungefähr seit 1000 n. Chr. durch die wachsende Bevölkerung entwickelte. Vor dieser Zeit, beispielsweise in dem Bau, den Julio als Ersten analysiert hatte, und auch in jenem, den er mir zeigte, finden sich noch Nadeln von Arizonakiefern und Wacholderbäumen. Die Siedlungen der Chaco-Anasazi entstanden also ursprünglich in einem Waldgebiet mit Kiefern und Wacholder, das ganz anders aussah als die heutige, baumlose Landschaft, sich aber gut für die Beschaffung von Brenn- und Bauholz eignete. Dagegen fehlen Reste von Kiefern und Wacholderbeeren in den Bauten, die auf die Zeit nach dem Jahr 1000 datiert wurden; demnach waren die Wälder zu jener Zeit restlos zerstört, und die Region hatte ihr heutiges Aussehen angenommen. Die schnelle Waldzerstörung hatte im Chaco-Canyon die gleichen Ursachen, die ich im Kapitel 2 im Zusammenhang mit der Frage erörtert habe, warum die Osterinsel und andere besiedelte, trockene Pazifikinseln viel stärker durch Entwaldung gefährdet waren als feuchtere Inseln: In trockenem Klima wachsen die Bäume auf abgeholzten Flächen so langsam nach, dass die Regeneration mit dem Verbrauch nicht Schritt halten kann.
Durch die Waldzerstörung gingen nicht nur die Kiefernnüsse als regionale Nahrungsquelle verloren, sondern die Bewohner des Chaco-Canyon mussten auch das Holz für ihre Bauvorhaben aus anderen Quellen beschaffen. Dies erkennt man daran, dass Kiefernbalken aus der Architektur der Gegend völlig verschwanden. Um das Problem zu lösen, legten die Bewohner nun große Entfernungen zurück und wechselten zu Goldkiefern, Gelbkiefern und Tannen, die bis zu 80 Kilometer entfernt im Gebirge wuchsen, und zwar in Gebieten, die über 1000 Meter höher lagen als der Chaco Canyon. Zugtiere gab es nicht. Ungefähr 200 000 Balken, jeder bis zu 320 Kilo schwer, wurden allein mit menschlicher Muskelkraft von den Bergen über diese Entfernung zum Chaco Canyon gebracht.
Kürzlich konnte Julios Student Nathan English in Zusammenarbeit mit Julio, Jeff Dean und Jay Quade genauer untersuchen, woher die großen Kiefern- und Tannenholzbalken stammten. Im Gebiet von Chaco kommen dafür drei Quellen infrage, wo sie in großer Höhe auf drei Gebirgszügen wachsen, die von dem Canyon nahezu gleich weit entfernt sind: in den Chuska-, San-Mateo- und San-Pedro-Bergen. Von welchen dieser drei Gebirge holten die Chaco-Anasazi nun tatsächlich ihre Nadelbäume? Die Bäume von allen drei Stellen gehören zur gleichen biologischen Art und sehen genau gleich aus. Als diagnostisches Kennzeichen verwendete Nathan das Strontium, ein Element, das chemisch stark dem Calcium ähnelt und mit diesem zusammen in das Gewebe von Pflanzen und Tieren eingebaut wird. Strontium kommt in unterschiedlichen Formen (Isotopen) vor, die sich in ihrem Atomgewicht geringfügig unterscheiden; in der Natur sind Strontium-87 und Strontium-86 am häufigsten. Aber das Verhältnis von Strontium-87 zu Strontium-86 schwankt je nach dem Alter und dem Rubidiumgehalt eines Gesteins, denn Strontium entsteht durch den radioaktiven Zerfall eines Rubidiumisotops. Wie sich herausstellte, lassen sich lebende Nadelbäume aus den drei Gebirgen an ihrem Verhältnis von Strontium-87 zu Strontium-86 eindeutig und ohne jede Überschneidung unterscheiden. Nathan untersuchte Nadelholzbalken aus sechs Ruinen im Chaco Canyon, die nach den Ergebnissen der Jahresringanalyse zwischen 974 und 1104 gefällt wurden. Dabei gelangte er zu dem Ergebnis, dass man zwei Drittel der Balken aufgrund ihres Strontiumgehalts in die Chuska-Berge zurückverfolgen konnte; ein Drittel stammte aus den San-Mateo-Bergen, aus den San-Pedro-Bergen dagegen kam kein Einziger. In einigen Fällen wurden Balken aus beiden Gebirgen in demselben Jahr in ein bestimmtes Bauwerk aufgenommen, oder man verwendete in einem Jahr die Balken aus dem einen Gebirge, im nächsten die aus dem anderen, wobei jeweils Holz aus einem Gebirge im gleichen Jahr in mehreren Gebäuden Verwendung fand. Damit haben wir einen eindeutigen Beleg, dass die Anasazi-Hauptstadt des Chaco Canyon durch ein gut organisiertes Ferntransportnetz versorgt wurde.
Obwohl die Nutzpflanzenerträge durch diese beiden Umweltprobleme zurückgingen und die Holzproduktion im Chaco Canyon selbst praktisch zum Erliegen kam, wuchs die Bevölkerung weiter, insbesondere wegen eines Baubooms, der im Jahr 1029 begann. Ermöglicht wurde dies vielleicht durch die Lösungen, welche die Anasazi für ihre Probleme gefunden hatten. Besonders in feuchten Jahrzehnten setzte ein Schub reger Bautätigkeit ein: Mehr Regen bedeutete mehr Nahrung, mehr Menschen und mehr Bedarf an Gebäuden. Von der großen Bevölkerungsdichte zeugen nicht nur die berühmten »Great Houses« (»Große Häuser«, beispielsweise das Pueblo Bonito), die in Abständen von ungefähr eineinhalb Kilometern auf der Nordseite des Chaco Canyon stehen, sondern auch die Löcher, die man als Halterung für Dachbalken in die nördliche Klippenwand bohrte: Sie zeigen, dass zwischen den Großen Häusern am unteren Ende der Klippen eine ununterbrochene Reihe von Behausungen stand, und die Überreste mehrerer hundert kleinerer Siedlungen findet man auf der Südseite des Canyons. Wie groß die Gesamtbevölkerung im Canyon war, ist nicht bekannt und heftig umstritten. Nach Ansicht vieler Archäologen lebten dort weniger als 5000 Menschen, und die riesigen Gebäude hatten außer Priestern kaum ständige Bewohner, sondern wurden nur zu bestimmten Jahreszeiten und zu Ritualen von der Landbevölkerung besucht. Andere Fachleute weisen daraufhin, dass schon das Pueblo Bonito, das nur eines der großen Häuser des Chaco Canyon ist, insgesamt 600 Zimmer besitzt; außerdem lassen die Pfostenlöcher nach ihrer Ansicht darauf schließen, dass der Canyon fast auf seiner ganzen Länge bebaut war, was für eine Bevölkerung von wesentlich mehr als 5000 Menschen spricht. Solche Diskussionen über die Abschätzung von Bevölkerungszahlen kommen in der Archäologie sehr häufig auf; in anderen Kapiteln dieses Buches wird das Thema auch im Zusammenhang mit der Osterinsel und den Maya erwähnt.
Unabhängig von ihrer tatsächlichen Größe konnte die zahlreiche Bevölkerung sich nicht mehr selbst versorgen, sondern sie wurde von weiter entfernten Satellitensiedlungen unterstützt, die in einem ähnlichen Architekturstil errichtet waren. Das sternförmige, mehrere hundert Kilometer lange Straßennetz, das sie mit dem Chaco Canyon verband, ist zum Teil heute noch zu sehen. Diese Außenposten verfügten über Dämme, mit denen sie den seltenen, unberechenbaren Niederschlag auffangen konnten: Ein Gewitter ließ unter Umständen in einem kleinen Abschnitt der Wüste ein Übermaß an Regen niedergehen, während es nur ein oder zwei Kilometer weiter überhaupt nicht regnete. Wenn nun ein bestimmtes Gebiet Glück hatte und ein solches Gewitter abbekam, konnte man das Regenwasser zum größten Teil hinter dem Damm speichern, und dann konnten die Bewohner schnell Nutzpflanzen anbauen und bewässern, sodass sie in dem betreffenden Jahr einen großen Nahrungsmittelüberschuss produzierten. Dieser Überschuss diente dann zur Versorgung der Menschen in den anderen Außenposten, bei denen es dieses Mal nicht geregnet hatte.
Der Chaco Canyon wurde zu einem schwarzen Loch, das Waren importierte, aber selbst nichts Greifbares abgab. Es schluckte Zehntausende von großen Bäumen zu Bauzwecken; es schluckte Keramik (in der Spätzeit existierten im Chaco Canyon ausschließlich importierte Keramikgegenstände, vermutlich weil es an Ort und Stelle kein Brennholz mehr gab, sodass man die Gefäße im Canyon selbst nicht brennen konnte); es schluckte hochwertige Steine zur Herstellung von Werkzeugen, Türkis aus anderen Regionen von New Mexico für Verzierungen; und als Luxusgüter Papageien, Schmuck aus Muschelschalen sowie Glocken aus Kupfer von den Hohokam und aus Mexiko. Dass sogar Lebensmittel importiert werden mussten, zeigte sich kürzlich in einer Untersuchung, in der man den Ursprung der beim Pueblo Bonito ausgegrabenen Maiskolben zurückverfolgte. Dazu verwendete man das gleiche Strontiumisotopenverfahren, mit dem Nathan English auch die Herkunft der Holzbalken im Pueblo Bonito festgestellt hatte. Wie sich herausstellte, wurde Mais bereits im 9. Jahrhundert aus den 80 Kilometer westlich gelegenen Chuska-Bergen importiert (die auch eine der beiden Quellen für Dachbalken waren), und ein Maiskolben aus der Spätzeit des Pueblo Bonito im 12. Jahrhundert stammte vom San Juan River, der rund 100 Kilometer weiter nördlich liegt.
Die Gesellschaft des Chaco Canyon wurde zu einem Miniatur-Kaiserreich: Sie gliederte sich in eine wohlgenährte Elite, die im Luxus lebte, und in eine arbeitende Landbevölkerung, die Lebensmittel produzierte und selbst viel weniger gut ernährt war. Am Straßennetz und der regionalen Verbreitung einer standardisierten Architektur erkennt man deutlich, in welch großem Gebiet die Wirtschaft und Kultur des Chaco Canyon und seiner Außenposten ein Gesamtsystem bildete. Der Baustil zeugt von einer dreistufigen Rangordnung: Die so genannten Großen Häuser im Chaco Canyon selbst waren möglicherweise die Residenzen der Häuptlinge; Große Häuser in den Außenposten außerhalb des Canyons könnten »Provinzhauptstädte« jüngerer Häuptlinge gewesen sein; und in kleinen Behausungen mit wenigen Zimmern lebten vermutlich die Bauern. Im Vergleich zu den kleineren Gebäuden waren die Großen Häuser durch eine raffiniertere Bauweise gekennzeichnet: verputztes Mauerwerk, große, als Great Kivas bezeichnete Bauwerke für religiöse Rituale (wie sie in ganz ähnlicher Form auch in den modernen Pueblos in Gebrauch sind) und mehr Lagerräume im Verhältnis zur Gesamtfläche. Ebenso gab es in den Großen Häusern weitaus mehr der bereits genannten, importierten Luxusgüter. Die meisten Luxusgüter fand man im Zimmer 33 des Pueblo Bonito: Dort befanden sich die Grabstätten von 14 Personen sowie 56 000 Türkisstücke und Tausende von Schmuckstücken aus Muschelschalen, darunter eine Halskette aus 2000 Türkisperlen und ein Korb, der mit einem Türkismosaik verziert und mit Türkis- und Perlmuttperlen gefüllt war. Weitere Belege, dass es den Häuptlingen besser ging als den Bauern, fand man in den Müllhaufen bei den Großen Häusern: Sie enthielten einen höheren Anteil an Hirsch- und Antilopenknochen als der Müll der einfachen Behausungen, und auch an den Grabstätten kann man erkennen, dass in den Großen Häusern besser ernährte, weniger schwindsüchtige Menschen lebten und dass auch die Säuglingssterblichkeit geringer war.
Warum versorgten die weiter entfernten Siedlungen das Zentrum im Chaco Canyon? Warum lieferten sie pflichtschuldigst Holz, Keramik, Steine, Türkis und Lebensmittel, ohne dass sie dafür im Gegenzug irgendetwas erhielten? Wahrscheinlich taten sie es aus dem gleichen Grund, aus dem auch heute die ländlichen Gebiete Italiens oder Großbritanniens Großstädte wie Rom oder London versorgen, die weder Holz noch Lebensmittel produzieren, aber als politische und religiöse Zentren dienen. Wie die heutigen Italiener und Briten, so waren auch die Bewohner des Chaco Canyon unwiderruflich auf das Leben in den gegenseitigen Abhängigkeiten einer komplexen Gesellschaft festgelegt. Zu dem ursprünglichen Zustand mit kleinen, beweglichen Gruppen, die sich selbst versorgten, konnten sie nicht mehr zurückkehren: Im Canyon gab es keine Bäume mehr, die Arroyos waren bis unter das Niveau der Felder eingeschnitten, und die wachsende Bevölkerung hatte sich über die Region verbreitet, sodass man nicht mehr in geeignete Gebiete ausweichen konnte. Als die Arizonakiefern und Wacholderbäume gefällt waren, wurden die Nährstoffe in dem Humus unter den Bäumen weggespült. Noch heute, über 800 Jahre später, wachsen diese Bäume hier nirgendwo -nur die Bauten der Buschratten enthalten noch ihre Zweige. An den archäologischen Fundstätten zeigen die Lebensmittelreste im Abfall, dass es für die Bewohner des Canyons im Lauf der Zeit problematischer wurde, sich zu ernähren: Hirsche machten einen immer geringeren Anteil der Ernährung aus, und an ihre Stelle traten kleinere Wildtiere, insbesondere Kaninchen und Mäuse. Überreste vollständiger, kopfloser Mäuse in menschlichen Koprolithen (eingetrockneten und deshalb erhaltenen Exkrementen) lassen darauf schließen, dass Menschen die Mäuse auf den Feldern fingen, ihnen den Kopf abschnitten und sie dann im Ganzen schluckten.
Am Pueblo Bonito fand in dem Jahrzehnt nach 1110 die letzte nachgewiesene Baumaßnahme statt: Die Südseite des Vorplatzes, die früher nach außen offen gewesen war, wurde durch eine Reihe von Räumen geschlossen. Das lässt auf Streit schließen: Offensichtlich kamen die Menschen jetzt nicht nur zum Pueblo Bonito, um an religiösen Zeremonien teilzunehmen und Befehle zu empfangen, sondern auch um Ärger zu machen. Der letzte Dachbalken am Pueblo Bonito und dem benachbarten Großen Haus Chetro Ketl, den man mit der Jahresringe-Methode datieren konnte, wurde im Jahr 1117 gefällt, und der letzte Balken, den man überhaupt im Chaco Canyon gefunden hat, stammt von 1170. An anderen Wohnorten der Anasazi findet man wesentlich mehr Spuren von Streit bis hin zu Anzeichen für Kannibalismus. Auch die Siedlungen der Kayenta-Anasazi, die auf steilen Klippen weit weg von Feldern und Wasser liegen, sind eigentlich nur unter dem Gesichtspunkt zu deuten, dass sie sich leicht verteidigen lassen. An diesen Orten im Südwesten, die Chaco überdauerten und bis zum Jahr 1250 überlebten, nahm die Kriegführung offensichtlich an Heftigkeit zu; dies zeigt sich an einer immer größeren Zahl von Abwehrmauern, Burggräben und Türmen; kleine Gehöfte schlossen sich zu größeren Festungen auf den Bergen zusammen, Dörfer wurden offenbar absichtlich unter Zurücklassung nicht bestatteter Leichen abgebrannt, Schädel tragen Schnittspuren, die durch das Skalpieren verursacht wurden, und ein Skelett hatte Pfeilspitzen in der Körperhöhle. Die explosionsartige Zunahme von Umwelt- und Bevölkerungsproblemen, die ihren Ausdruck in inneren Unruhen und Krieg finden, ist in diesem Buch ein immer wiederkehrendes Thema, sowohl in Verbindung mit früheren Gesellschaften (Osterinsel, Mangareva, Maya und Tikopia) als auch bei solchen aus unserer Zeit (Ruanda, Haiti und andere).
Die Anzeichen, dass es bei den Anasazi im Zusammenhang mit dem Krieg auch zum Kannibalismus kam, ergeben wiederum eine ganz eigene, interessante Geschichte. Dass verzweifelte Menschen in Notsituationen gelegentlich Kannibalismus praktizieren, würde jeder einräumen - Beispiele sind die Donner Party, Siedler, die im Winter 1846/47 auf dem Weg nach Kalifornien am Donner-Pass im Schnee stecken blieben, oder die hungernden Russen während der Belagerung Leningrads im Zweiten Weltkrieg; ob Kannibalismus jedoch auch außerhalb solcher Notlagen vorkommt, ist umstritten. In Wirklichkeit existierte er den Berichten zufolge in Hunderten nichteuropäischer Gesellschaften bis zu der Zeit in den letzten Jahrhunderten, als sie zum ersten Mal mit Europäern in Kontakt kamen. Es gab dabei zwei Formen: Entweder wurden die Leichen der im Krieg getöteten Feinde gegessen, oder man verzehrte die eigenen Angehörigen, die eines natürlichen Todes gestorben waren. Die Bewohner Neuguineas, mit denen ich schon seit 40 Jahren zusammenarbeite, haben mir ganz nüchtern ihre kannibalischen Praktiken geschildert, und gleichzeitig äußerten sie Abscheu gegenüber unserer abendländischen Sitte, Angehörige zu vergraben, anstatt sie zu ehren, indem man sie aufisst; einer meiner besten Mitarbeiter aus Neuguinea gab seine Tätigkeit bei mir 1965 auf, um sich am Verzehr seines kurz zuvor gestorbenen vorgesehenen Schwiegersohnes zu beteiligen. Auch in der Archäologie hat man alte Menschenknochen häufig in einem Zusammenhang gefunden, der auf Kannibalismus schließen lässt.
Aber da europäische und amerikanische Anthropologen in ihrer Gesellschaft mit der Vorstellung groß geworden sind, dass Kannibalismus etwas Entsetzliches ist, sind viele oder sogar die meisten von ihnen auch entsetzt über den Gedanken, dass er von Völkern praktiziert wird, die sie bewundern und untersuchen. Deshalb leugnen sie ihn und betrachten entsprechende Behauptungen als rassistische Verleumdungen. Alle Beschreibungen des Kannibalismus, die von nichteuropäischen Völkern selbst oder von den ersten europäischen Entdeckern verfasst wurden, tun sie als unzuverlässige Nacherzählungen ab; überzeugen lassen sie sich anscheinend nur durch ein Videoband, das von einem staatlichen Beamten oder - am überzeugendsten überhaupt -von einem Anthropologen aufgenommen wurde. Aber ein solches Videoband gibt es nicht, und das hat einen nahe liegenden Grund: Beim ersten Zusammentreffen mit Menschen, die den Berichten zufolge Kannibalen waren, äußerten Europäer regelmäßig ihre Abscheu und bedrohten die Betreffenden mit Verhaftung.
Solche Einwände führten zu einer heftigen Kontroverse um die vielen Berichte über menschliche Überreste, die an den Fundstätten der Anasazi gefunden wurden und Indizien für Kannibalismus liefern. Den stichhaltigsten Beleg lieferte eine Fundstätte, an der ein Haus mit allem, was darin war, zerstört wurde. In dem Haus lagen noch die verstreuten Knochen von sieben Menschen, was dafür spricht, dass sie nicht ordnungsgemäß bestattet, sondern bei einem kriegerischen Überfall getötet wurden. Einige dieser Knochen waren auf die gleiche Weise aufgebrochen wie Tierknochen, deren Knochenmark die Menschen verzehrten. Andere hatten glatte Enden, bei Tierknochen ein charakteristisches Merkmal, dass sie in einem Topf gekocht wurden. Auf der Innenseite der zerbrochenen Töpfe selbst, die an der gleichen Stelle ausgegraben wurden, fand man Reste des menschlichen Muskelproteins Myoglobin - offensichtlich war in den Gefäßen also Menschenfleisch gekocht worden. Skeptiker könnten immer noch einwenden, wenn Menschenfleisch in Töpfen gekocht wurde und wenn Menschenknochen aufgebrochen wurden, sei dies noch kein Beweis, dass andere Menschen tatsächlich das Fleisch verzehrten (aber warum hätten sie sich sonst die Mühe machen sollen, zu kochen und Knochen aufzubrechen, die dann verstreut auf dem Boden zurückgelassen wurden?). Die unmittelbarste Spur des Kannibalismus findet sich an dieser Stelle in getrockneten menschlichen Exkrementen, die man in der Feuerstelle des Hauses entdeckte; sie sind nach fast 1000 Jahren in trockenem Klima noch gut erhalten, und man konnte beweisen, dass sie Muskelprotein von Menschen enthielten - dieses fehlt im Stuhl normalerweise selbst dann, wenn der Betreffende wegen einer Verletzung an Darmblutungen leidet. Wer auch den Ort angegriffen haben mag, höchstwahrscheinlich tötete er die Bewohner, schlug ihre Knochen auf, kochte ihr Fleisch in Töpfen, verstreute die Knochen und erleichterte sich über der Feuerstelle, nachdem er das Fleisch der Opfer tatsächlich verzehrt hatte.
Den Todesstoß erhielt die Gesellschaft von Chaco durch eine Dürre, die den Baumringen zufolge um 1130 begann. Früher, um 1090 und 1040, hatte es bereits ähnliche Trockenzeiten gegeben, aber dieses Mal lebten im Chaco Canyon wesentlich mehr Menschen, die stärker von den umliegenden Siedlungen abhängig waren, und unbesiedeltes Land gab es nicht mehr. Die Dürre ließ den Grundwasserspiegel so weit sinken, dass die Pflanzenwurzeln ihn nicht mehr erreichten, und damit kam die Landwirtschaft zum Erliegen; auch Trocken- und Bewässerungsanbau, die vom Regen gespeist werden, wurden unmöglich. Eine Dürreperiode, die sich über mehr als drei Jahre erstreckte, musste in jedem Fall tödlich sein: Selbst heute können die PuebloIndianer ihren Mais höchstens zwei bis drei Jahre lagern, danach ist er so verdorben oder von Ungeziefer befallen, dass man ihn nicht mehr essen kann. Die Bewohner der Außenposten, die zuvor die politischen und religiösen Zentren des Chaco Canyon mit Lebensmitteln versorgt hatten, verloren zu dieser Zeit wahrscheinlich das Vertrauen in die Priester, deren Gebete um Regen nicht erhört wurden, und dann weigerten sie sich, weiterhin Nahrung zu liefern. Das Ende der Anasazi-Siedlungen im Chaco Canyon erlebten die Europäer nicht mit, aber eine gute Parallele bildet der Aufstand der Pueblo-Indianer gegen die Spanier im Jahr 1680, den Europäer genau beobachteten. Wie die Zentren der Chaco-Anasazi, so hatten auch die Spanier von den örtlichen Bauern Steuern in Form von Lebensmitteln eingetrieben, und diese duldeten die Praxis so lange, bis sie selbst wegen einer Dürre nicht mehr genug zu essen hatten; dann wurden die Abgaben zum Anlass für einen Aufstand.
Irgendwann zwischen 1150 und 1200 wurde der Chaco Canyon praktisch völlig aufgegeben, und danach blieb das Gebiet im Wesentlichen unbewohnt, bis Schafhirten vom Stamm der Navajo es 600 Jahre später in Besitz nahmen. Da die Navajo nicht wussten, wer die großen Ruinen gebaut hatte, die sie dort vorfanden, bezeichneten sie die verschwundenen früheren Bewohner als Anasazi, was nichts anderes als »die Alten« bedeutet. Welches Schicksal erlitten die vielen tausend Bewohner des Chaco Canyon? Zieht man eine Parallele zu der historisch dokumentierten Aufgabe anderer Pueblos während einer Dürreperiode in den siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts, dann starben vermutlich viele Menschen an Hunger, einige brachten sich gegenseitig um, und die Überlebenden flohen in andere besiedelte Gebiete des Südwestens. Es muss sich um eine geplante Evakuierung gehandelt haben, denn in den meisten Räumen der Anasazi-Ruinen fehlen die Keramikgegenstände und andere nützliche Dinge, die man bei einem solchen geplanten Abzug mitnimmt; an der oben erwähnten Fundstätte dagegen, deren unglückselige Bewohner getötet und aufgegessen wurden, sind die Keramikgegenstände in den Zimmern noch vorhanden. Die Überlebenden schafften es, an mehrere andere Stellen zu fliehen, so zu den Pueblos im Gebiet der heutigen Zuni-Indianer; die Häuser, die man dort fand, ähneln im Baustil denen des Chaco Canyon, und sie enthielten Keramik im gleichen Stil, wie man ihn auch im Chaco Canyon aus der Zeit des Abzuges gefunden hat.
Jeff Dean konnte zusammen mit seinen Kollegen Rob Axtell, Josh Epstein, George Gumerman, Steve McCarroll, Miles Parker und Alan Swedlund sehr genau rekonstruieren, was einer Gruppe von rund tausend Kayenta-Anasazi im Long House Valley im Nordosten von Arizona widerfuhr. Die Wissenschaftler berechneten die tatsächliche Bevölkerungszahl im Tal zu verschiedenen Zeitpunkten zwischen 800 und 1350. Als Grundlage diente ihnen dabei die Zahl der ausgegrabenen Häuser mit Keramikgegenständen, deren Stil sich im Lauf der Zeit änderte, sodass sie eine Datierung der Häuser ermöglichten. Aus den Jahresringen, die Rückschlüsse auf die Niederschlagsmenge zulassen, und aus Bodenuntersuchungen sowie den daraus gewonnenen Informationen über Ansteigen und Absinken des Grundwasserspiegels berechneten sie außerdem, wie viel Mais in dem fraglichen Zeitraum jedes Jahr geerntet wurde. Dabei stellte sich heraus, dass sich im Wachsen und Schrumpfen der Bevölkerungszahl nach 800 sehr genau das Auf und Ab der berechneten jährlichen Maisernte widerspiegelte; dies galt allerdings nicht für die Zeit um 1300, als die Anasazi das Tal völlig aufgaben, obwohl zu dieser Zeit noch eine verminderte Maisernte möglich war, die zur Ernährung eines Drittels der maximalen Bevölkerungszahl (400 bei einem Spitzenwert von 1070 Menschen) ausgereicht hätte.
Warum blieben diese letzten 400 Kayenta-Anasazi nicht im Long House Valley, als ihre Verwandten in ihrer Mehrzahl abzogen? Vielleicht war in dem Tal um 1300 nicht nur das landschaftliche Potenzial zurückgegangen, wie die Autoren es in ihrem Modell berechnet hatten, sondern es hatten sich auch andere Hindernisse für die Besiedlung entwickelt. Vielleicht war beispielsweise die Fruchtbarkeit des Bodens erschöpft, oder die früheren Wälder waren abgeholzt, sodass es in der Nähe kein Bau- und Brennholz mehr gab, wie es bekanntermaßen im Chaco Canyon der Fall war. Andererseits könnte es auch daran gelegen haben, dass komplexe Gesellschaften eine Mindestbevölkerung brauchen, weil nur dann die Institutionen aufrechterhalten werden können, die in den Augen der Bürger unentbehrlich sind. Wie viele New Yorker würden wohl noch in New York bleiben, wenn zwei Drittel ihrer Angehörigen und Freunde gerade verhungert oder geflüchtet sind, wenn weder U-Bahn noch Taxis fahren, wenn Büros und Geschäfte geschlossen sind?
Neben den Anasazi von Chaco Canyon und Longhouse Valley, deren Schicksal wir hier nachgezeichnet haben, habe ich zu Beginn dieses Kapitels noch viele andere Gesellschaften im Südwesten Nordamerikas erwähnt - die Indianer von Mesa Verde sowie die Mimbres, Hohokam, Mogollon und andere -, die zu verschiedenen Zeitpunkten zwischen 1100 und 1500 ebenfalls Zusammenbrüche erlebten, sich umstrukturierten und Wohngebiete aufgeben mussten. Wie sich herausstellt, hatten diese Zusammenbrüche und Wandlungen ihre Ursache in relativ wenigen verschiedenen Umweltproblemen und den entsprechenden kulturellen Reaktionen, wobei in den einzelnen Regionen unterschiedliche Faktoren wirksam waren. Die Waldzerstörung war beispielsweise für die Anasazi ein Problem, denn sie brauchten die Bäume, um die Holzbalken für ihre Häuser herzustellen. Viel weniger litten dagegen die Hohokam darunter, die zum Bau ihrer Häuser keine Balken verwendeten. Dafür traf die mit der landwirtschaftlichen Bewässerung verbundene Versalzung die Hohokam hart, denn sie mussten ihre Felder bewässern - im Gegensatz zu den Indianern von Mesa Verde, wo diese Notwendigkeit nicht bestand. In Mesa Verde und bei den Mogollon spielte die Kälte eine große Rolle, denn dort stellten die Temperaturen wegen der Höhenlage für die Landwirtschaft bereits ein gewisses Hindernis dar. Andere Völker des Südwestens wurden durch den sinkenden Grundwasserspiegel zugrunde gerichtet (dies galt beispielsweise für die Anasazi), oder der Nährstoffgehalt des Bodens war erschöpft (möglicherweise bei den Mogollon). Die tief eingeschnittenen Arroyos wurden für die Chaco-Anasazi zum Problem, nicht aber für die Bewohner von Mesa Verde.
Obwohl die Wohngebiete also im Einzelnen aus unterschiedlichen unmittelbaren Gründen verlassen wurden, lag die Ursache letztlich immer in der gleichen grundlegenden Schwierigkeit: Die Menschen lebten in einer empfindlichen, heiklen Umwelt und fanden dafür Lösungen, die »auf kurze Sicht« höchst verständlich und erfolgreich waren, langfristig aber versagten oder zu unlösbaren Problemen führten, weil man sich irgendwann mit natürlichen oder von Menschen verursachten Umweltveränderungen auseinander setzen musste, die in einer Gesellschaft ohne schriftlich festgehaltene Geschichte und ohne Archäologen nicht vorauszusehen waren. Ich setze die Worte »auf kurze Sicht« in Anführungszeichen, weil die Anasazi immerhin etwa 600 Jahre im Chaco Canyon lebten, beträchtlich länger, als die europäische Besetzung nach Columbus’ Landung im Jahr 1492 irgendwo in der Neuen Welt dauerte. Während der Zeit, in der es sie gab, experimentierten die verschiedenen Gruppen der amerikanischen Ureinwohner im Südwesten mit einem halben Dutzend verschiedener wirtschaftlicher Systeme. Es dauerte viele Jahrhunderte, bis man bemerkte, dass unter allen diesen Systemen nur jenes der Pueblo-Indianer »auf lange Sicht«, das heißt für mindestens 1000 Jahre, nachhaltig war. Diese Erkenntnis sollte uns heutige Amerikaner innehalten lassen. Eigentlich können wir nicht allzu zuversichtlich sein, was die Nachhaltigkeit unserer Industriegesellschaft und ihrer Wirtschaft angeht, insbesondere wenn wir bedenken, wie schnell die Gesellschaft von Chaco nach ihrer Blütezeit in den Jahren 1100 bis 1120 zusammenbrach und wie wenig plausibel die Gefahr den Chaco-Anasazi während dieses Jahrzehnts erschienen sein muss.
Betrachten wir unser System der fünf Faktoren, die zum Zusammenbruch von Gesellschaften beitragen, so spielten vier davon im Fall der Anasazi eine Rolle. Menschen hatten tatsächlich auf mehrfache Weise in die Umwelt eingegriffen, insbesondere durch Waldzerstörung und die nachfolgende Entstehung der Arroyos. Ein Klimawandel fand in Form einer Veränderung von Niederschlagsmenge und Temperatur statt, und seine Auswirkungen wirkten mit den Eingriffen der Menschen zusammen. Eine entscheidende Rolle für den Zusammenbruch spielte der Handel mit freundlich gesinnten Partnern: Die verschiedenen Gruppen der Anasazi tauschten untereinander Lebensmittel, Bauholz, Keramikgegenstände, Steine und Luxusgüter aus; auf diese Weise unterstützten sie sich gegenseitig in einer kompliziert verflochtenen Gesellschaft, setzten aber auch die ganze Gesellschaft der Gefahr des Zusammenbruches aus. Für die Aufrechterhaltung der komplexen Gesellschaft spielten religiöse und politische Faktoren offensichtlich eine entscheidende Rolle, denn durch sie wurde der Austausch von Waren koordiniert, und die Menschen in den Außengebieten wurden motiviert, Güter an die politischen und religiösen Zentren zu liefern. Der Einzige der fünf Faktoren, für dessen Mitwirkung es im Fall der Anasazi keine überzeugenden Belege gibt, sind äußere Feinde. Als ihre Bevölkerung wuchs und das Klima sich verschlechterte, griffen sie sich zwar gegenseitig an, die Kulturen des nordamerikanischen Südwestens waren aber von anderen bevölkerungsreichen Gesellschaften so weit entfernt, das äußere Feinde sie nicht ernsthaft bedrohen konnten.
Unter diesen Gesichtspunkten können wir auf die alte Entweder- oder- Frage, ob der Chaco Canyon wegen menschlicher Eingriffe in die Umwelt oder wegen einer Dürreperiode verlassen wurde, eine einfache Antwort geben: Beide Gründe spielten eine Rolle. Über sechs Jahrhunderte hinweg wuchs die Bevölkerung des Chaco Canyon, und mit ihr stiegen die Anforderungen an die Umwelt. Die ökologischen Ressourcen schrumpften, und die Menschen gerieten immer stärker an die Grenze dessen, was diese Umwelt leisten konnte. Das war der ursächliche Grund für den Zusammenbruch. Der unmittelbare Anlass, der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war die Dürre, die schließlich zum Untergang führte; eine Gesellschaft mit geringerer Bevölkerungsdichte hätte diese Dürre überleben können. Als der Zusammenbruch sich schließlich ereignete, konnten die Bewohner ihre Gesellschaft nicht so wiederaufbauen, wie die ersten Bauern im Gebiet von Chaco es getan hatten. Der Grund: Die Anfangsbedingungen waren nicht mehr vorhanden - die vielen Bäume in der Nähe, der hohe Grundwasserspiegel und die glatten Flussniederungen ohne Arroyos gab es nicht mehr.
Die gleiche Erkenntnis gilt wahrscheinlich auch für den Zusammenbruch vieler anderer früher Gesellschaften (darunter die Maya, von denen im nächsten Kapitel die Rede sein wird) und für unser eigenes Schicksal in heutiger Zeit. Wir modernen Menschen - Hausbesitzer, Investoren, Politiker, Hochschulverwalter und andere - können eine Menge Müll vertragen, solange es der Wirtschaft gut geht. Wir vergessen, dass die Bedingungen schwanken, und wann sie sich ändern werden, können wir unter Umständen nicht voraussehen. Wenn es dann so weit ist, hängen wir möglicherweise an einem aufwendigen Lebensstil, und als einziger Ausweg bleiben dann nur drastische Einschränkungen oder der Bankrott.