KAPITEL 8
Das Ende von Normannisch-Grönland
Der Anfang vom Ende ■ Waldzerstörung ■ Schäden an Boden und Wiesen ■ Die Vorgänger der Inuit ■ Lebensunterhalt bei den Inuit ■ Das Verhältnis zwischen Inuit und Wikingern ■ Das Ende ■ Die eigentlichen Ursachen des Unterganges
Im vorigen Kapitel haben wir erfahren, wie es den Wikingern in Grönland anfangs gut ging, weil im Umfeld ihrer Ankunft eine ganze Reihe glücklicher Umstände herrschte. Sie hatten das Glück, dass sie eine jungfräuliche Landschaft entdeckten, die noch nie abgeholzt oder abgegrast worden war und sich als Weideland eignete. Sie kamen zu einer Zeit mit relativ mildem Klima, die Heuproduktion reichte in den meisten Jahren aus, die Seewege nach Europa waren eisfrei, in Europa bestand Bedarf an dem exportierten Walrosselfenbein, und in der Nähe der normannischen Siedlungen und Jagdreviere gab es nirgendwo amerikanische Ureinwohner.
Alle diese anfänglichen Vorteile gingen im Lauf der Zeit verloren, und daran waren die Wikinger selbst nicht unschuldig. Auf die Klimaveränderungen, die wechselnde Nachfrage nach Elfenbein in Europa und die Ankunft der Inuit hatten sie zwar keinen Einfluss, aber es lag an ihnen, wie sie damit umgingen. Und für das, was sie mit der Landschaft machten, waren sie ganz allein verantwortlich. In dem nun folgenden Kapitel werden wir erfahren, wie das Schwinden der genannten Vorteile und die Reaktionen der Wikinger darauf zum Ende der normannisch-grönländischen Kolonie führten.
Die Wikinger schädigten ihre Umwelt in Grönland mindestens auf dreierlei Weise: Sie zerstörten die natürliche Pflanzenwelt, setzten die Bodenerosion in Gang und stachen den Rasen aus. Unmittelbar nach ihrer Ankunft brannten sie Wälder ab, um Land für Weideflächen zu gewinnen, und dann fällten sie einen Teil der verbliebenen Bäume, um sie als Bau- oder Brennholz zu verwenden. Dass neue Bäume nachwuchsen, verhinderte das Vieh, das die Schösslinge abweidete oder zertrampelte, insbesondere im Winter, wenn die Pflanzen besonders empfindlich waren und ohnehin ihr Wachstum einstellten.
Welche Auswirkungen solche Verhaltensweisen auf die natürliche Vegetation hatten, können unsere alten Freunde, die Pollenforscher, am besten einschätzen: Sie untersuchten radiokarbondatierte Sedimentstücke vom Boden der Seen und Sümpfe. In diesen Ablagerungen findet man mindestens fünf Arten ökologischer Beweisstücke: erstens Blätter, Pollen und andere Pflanzenteile, an denen man erkennen kann, welche Pflanzen zu jener Zeit an der betreffenden Stelle wuchsen; zweitens Holzkohleteilchen, einen Hinweis auf Feuer in der Nähe; drittens magnetische Eigenschaften, ein Spiegelbild der magnetischen Eisenmineralien im Sediment, die aus dem Boden ausgewaschen oder vom Wind in den See geweht wurden; und schließlich Sand, der auf ähnliche Weise ausgespült oder weggeweht wurde.
Solche Untersuchungen an Sedimenten aus Seen liefern für die Entwicklung der Pflanzenwelt rund um die Wikingerhöfe folgendes Bild: Als das Klima sich am Ende der letzten Eiszeit erwärmte, traten Bäume an die Stelle der Gräser und Seggen - dies ist an den Pollenarten eindeutig zu erkennen. In den folgenden 8000 Jahren veränderte sich die Vegetation nur wenig, und man findet zunächst kaum Spuren von Waldzerstörung oder Erosion. Dies ändert sich erst mit dem Eintreffen der Wikinger, das sich in einer Holzkohleschicht verrät, weil die Menschen Brandrodung betrieben, um Weideland für ihre Tiere zu schaffen. Die Menge der Weiden- und Birkenpollen geht zurück, die der Pollen von Gräsern, Seggen, Unkraut und Weidepflanzen, die von den Normannen als Tierfutter eingeführt wurden, nimmt zu. Die steigende magnetische Empfindlichkeit zeigt, dass der Boden zur gleichen Zeit in die Seen transportiert wurde, nachdem die Pflanzendecke verschwunden war, die ihn zuvor vor der Erosion durch Wind und Wasser geschützt hatte. Als schließlich ganze Täler frei von Pflanzenwuchs und Mutterboden waren, wurde auch der darunter liegende Sand abtransportiert. Im 15. Jahrhundert, nachdem die Wikinger ihre Siedlungen aufgegeben hatten, kehrten sich alle diese Veränderungen um, ein Anzeichen für die Erholung der Landschaft. Nach 1924 schließlich stellten sich die gleichen Veränderungen wie nach der Besiedlung durch die Normannen ein, weil die dänische Regierung fünf Jahrhunderte nach dem Verschwinden der Wikinger-Viehhirten wiederum Schafe einführte.
Ökologische Skeptiker könnten nun fragen: Na und? Das alles ist zwar traurig für die Weidenbäume, aber was ist mit den Menschen? Wie sich herausstellte, hatten Waldzerstörung, Bodenerosion und Rasenstechen für die Normannen schwer wiegende Folgen. Als Erstes führte die Waldzerstörung dazu, dass Bauholz genau wie in Island und auf Mangareva sehr schnell knapp wurde. Die kurzen, dünnen Stämme der verbliebenen Weiden, Birken und Wacholderbäume eigneten sich nur für kleine hölzerne Haushaltsgegenstände. Zur Herstellung von Balken für Häuser, Boote, Schlitten, Fässer, Wandverkleidungen und Betten waren die Wikinger nun auf Holz aus drei Quellen angewiesen: sibirisches Treibholz, das an die Strände gespült wurde, importierte Baumstämme aus Norwegen und Bäume, die von den Grönländern selbst auf ihren Reisen an die Küste von Labrador (»Markland«) gefällt wurden, nachdem sie diese bei ihrer Erkundung von Vinland entdeckt hatten. Offensichtlich war Holz so knapp, dass Gegenstände aus diesem Material nicht weggeworfen, sondern wiederverwendet wurden. Dies kann man aus der Beobachtung schließen, dass große Holzverkleidungen und Möbel in den meisten Ruinen der grönländischen Wikinger fehlen, mit Ausnahme der letzten Häuser, in denen die Normannen in der Westlichen Siedlung starben. In dem »Hof unter dem Sand«, einer berühmten Ausgrabungsstätte in der Westlichen Siedlung, die unter gefrorenem Flusssand fast vollständig erhalten blieb, fand man das Holz zum größten Teil nicht in den unteren, sondern in den oberen Schichten, auch dies ein Indiz, dass das Holz alter Räume und Gebäude kostbar war und nicht weggeworfen wurde, sondern bei Um- und Anbauten erneut Verwendung fand. Ein weiteres Mittel gegen die Holzknappheit bestand darin, dass Rasen als Material für die Mauern von Gebäuden verwendet wurde, aber wie wir noch genauer erfahren werden, warf auch diese Lösung ihre eigenen Probleme auf.
Eine andere Antwort auf die Frage »na und?« im Zusammenhang mit der Waldzerstörung lautet: Auch Brennholz wurde knapp. Im Gegensatz zu den Inuit, die gelernt hatten, Waltran zur Beheizung und Beleuchtung ihrer Behausungen zu verwenden, benutzten die Wikinger den Überresten in ihren Feuerstellen zufolge weiterhin Weiden- und Eschenholz als Brennstoff. Zusätzlicher Bedarf an Brennholz ergab sich aus einem Grund, an den ein moderner Stadtbewohner niemals denken würde: wegen der Milchverarbeitung. Milch ist ein heikles und potenziell gefährliches Lebensmittel: Sie ist sehr nährstoffreich, und zwar nicht nur für uns, sondern auch für Bakterien, und deshalb verdirbt sie sehr schnell, wenn man sie ohne die Pasteurisierung und Kühlung, die für uns selbstverständlich ist, stehen lässt - und beide Verfahren wurden von den Wikingern wie von allen anderen Menschen vor Beginn der Neuzeit nicht praktiziert. Deshalb mussten die Gefäße, in denen man Milch sammelte, lagerte und zu Käse verarbeitete, häufig mit kochendem Wasser gespült werden; bei Milcheimern war dies sogar zweimal am Tag erforderlich.
Aus diesem Grund konnte man die Tiere bei den saeters (den Sommerhäusern im Gebirge) nur in Höhen bis zu 400 Metern melken; darüber, und zwar bis in eine Höhe von rund 750 Metern, wuchs zwar ebenfalls noch Weidegras, aber Brennholz stand nicht mehr zur Verfügung. Aus Island und Norwegen wissen wir, dass saeters aufgegeben werden mussten, nachdem die Brennholzvorräte in der Umgebung erschöpft waren, und das Gleiche geschah wahrscheinlich auch in Grönland. Wie das knappe Bauholz, so wurde auch das rare Brennholz durch andere Materialien ersetzt - unter anderem verbrannte man Tierknochen, Dung und Rasen. Aber diese Lösungen hatten ebenfalls Nachteile: Mit Knochen und Dung hätte man sonst die Wiesen düngen und die Heuproduktion steigern können, und Rasen zu verbrennen, war gleichbedeutend mit der Zerstörung von Weideland.
Zu den weiteren schwer wiegenden Folgen der Waldzerstörung gehörte neben der Bau- und Brennholzknappheit auch ein Mangel an Eisen. Die Skandinavier gewannen ihr Eisen größtenteils aus Raseneisenerz: Das Metall wurde aus Sumpfsedimenten mit geringem Eisengehalt abgetrennt. Raseneisenerz steht in Grönland genau wie in Island und Skandinavien an manchen Stellen zur Verfügung: Christian Keller und ich sahen bei Gardar in der Östlichen Siedlung einen Sumpf in der Farbe von Eisen, und zwei weitere derartige Sümpfe fand Thomas McGovern in der Westlichen Siedlung. Das Problem bestand nicht darin, Raseneisenerz in Grönland zu finden, sondern in seiner Verarbeitung: Man brauchte riesige Holzmengen zur Herstellung der Holzkohle, mit der die erforderlichen hohen Temperaturen des Feuers zu erreichen waren. Selbst als die Grönländer diesen Schritt schließlich wegließen und Eisenwaren aus Norwegen importierten, brauchten sie immer noch Holzkohle, um das Metall zu Werkzeugen zu verarbeiten und um diese Werkzeuge zu schärfen, zu reparieren und umzubauen, was häufig erforderlich war.
Wir wissen, dass die Grönländer Eisenwerkzeuge besaßen und mit Eisen arbeiteten. Auf vielen großen Wikingerhöfen fand man Schmieden und Eisenschlacke, aber damit ist noch nicht geklärt, ob die Schmieden nur zur Verarbeitung importierten Eisens oder auch zu seiner Gewinnung aus Raseneisenerz verwendet wurden. An mehreren archäologischen Stätten fand man die üblichen Eisengegenstände, die man in einer mittelalterlichen skandinavischen Gesellschaft erwartet, beispielsweise Axtschneiden, Sensen, Messer, Schafscheren, Schiffsnieten, Zimmermannshobel, Ahlen zum Stechen von Löchern und Handbohrer.
Die gleichen Fundstätten lassen aber auch eindeutig erkennen, dass in Grönland, selbst nach den Maßstäben des mittelalterlichen Skandinavien, wo Eisen keineswegs reichlich war, eine entsetzliche Eisenknappheit herrschte. So findet man beispielsweise an Wikinger-Fundstätten in Großbritannien und auf den Shetlandinseln, ja selbst in Island und an der Ausgrabungsstätte L’Anse aux Meadows in Vinland erheblich mehr Nägel und andere Eisengegenstände als an entsprechenden Stellen in Grönland. In L’Anse aux Meadows sind weggeworfene Nägel die häufigsten Eisengegenstände, und selbst in Island, wo Holz und Eisen ebenfalls knapp waren, findet man sie in großer Zahl. In Grönland dagegen herrscht extremer Eisenmangel. Dort hat man in den untersten archäologischen Schichten einige Nägel entdeckt, in jüngeren Ablagerungen fehlen sie jedoch fast völlig, weil Eisen einfach so kostbar war, dass es nicht weggeworfen wurde. In Grönland wurde kein einziges Schwert, kein Helm, und nicht einmal ein Bruchstück eines solchen Gegenstandes gefunden, und auch von Kettenhemden kennt man nur wenige Stücke, die wahrscheinlich alle von einer einzigen Rüstung stammen. Eisenwerkzeuge wurden immer wieder geschärft und wieder verwendet, bis sie zu einem Stummel geschrumpft waren. Bei Ausgrabungen im Tal von Qorlortoq fiel mir beispielsweise ein Mitleid erregendes Messer auf: Die Schneide war abgenutzt und fast nicht mehr vorhanden, aber sie steckte in einem Handgriff, dessen Länge in keinem Verhältnis zu dem Stummel stand; offensichtlich war auch dieses Werkzeug noch so wertvoll, dass es immer wieder geschärft wurde.
Der Eisenmangel auf Grönland wird auch an vielen Gegenständen aus archäologischen Stätten deutlich, die in Europa normalerweise aus Eisen hergestellt wurden, in Grönland aber aus anderen, häufig überraschenden Materialien. So findet man beispielsweise Nägel aus Holz und Pfeilspitzen aus Karibugeweihen. Eine isländische Chronik berichtet aus dem Jahr 1189 voller Überraschung über ein grönländisches Schiff, das nach Island abgetrieben worden war: Es war nicht mit eisernen Nägeln gebaut, sondern mit Holzzapfen, und es wurde durch die Barten von Walen zusammengehalten. Für Wikinger, deren Selbstbild sich darauf konzentrierte, Gegner mit einer riesigen Streitaxt in Angst und Schrecken zu versetzen, muss es die größtmögliche Demütigung gewesen sein, solche Waffen aus Walknochen herzustellen.
Der Eisenmangel führte dazu, dass lebenswichtige wirtschaftliche Prozesse in Grönland mit geringerer Effizienz abliefen. Nachdem nur wenige eiserne Sensen, Beile und Scheren zur Verfügung standen, sodass man diese Werkzeuge aus Knochen oder Steinen herstellen musste, dauerte es wesentlich länger, das Heu zu ernten, ein geschlachtetes Tier zu zerlegen oder Schafe zu scheren. Auf kurze Sicht war es aber viel gefährlicher, dass die Wikinger mit dem Eisen auch ihre militärische Überlegenheit gegenüber den Inuit verloren. In anderen Regionen der Welt verschafften stählerne Schwerter und Rüstungen den europäischen Kolonialherren in unzähligen Kämpfen mit einheimischen Völkern einen gewaltigen Vorteil. Als die Spanier beispielsweise zwischen 1532 und 1533 in Peru das Inkareich eroberten, fanden insgesamt fünf Schlachten statt: Dabei metzelten kleine Verbände von 169, 80, 30, 110 bzw. 40 Spaniern jeweils Armeen von Tausenden oder Zehntausenden Inkas nieder, wobei kein einziger Europäer getötet und nur wenige verletzt wurden. Der Grund: Die stählernen Schwerter der Spanier durchtrennten die Baumwollrüstungen der Indios, und die Spanier selbst waren durch ihre Rüstungen gegen Schläge der Stein- oder Holzwaffen der Indianer geschützt. Dagegen gibt es keinen Beleg, dass die Wikinger in Grönland nach den ersten Generationen noch Waffen oder Rüstungen aus Stahl besaßen; die einzige Ausnahme ist das erwähnte Kettenhemd, das man ausgegraben hat und das möglicherweise keinem Grönländer, sondern einem Besucher von einem europäischen Schiff gehörte. Stattdessen kämpften sie genau wie die Inuit mit Pfeilen, Bogen und Lanzen. Ebenso gibt es keine Indizien, dass die Wikinger in Grönland ihre Pferde in Kämpfen einsetzten, auch dies ein entscheidender Vorteil der spanischen Eroberer in ihren Konflikten mit Inkas und Azteken; die Wikinger in Island taten es mit Sicherheit nicht. Außerdem fehlte den grönländischen Wikingern eine professionelle militärische Ausbildung. Deshalb besaßen sie gegenüber den Inuit am Ende nicht den geringsten militärischen Vorteil - was für ihr Schicksal gravierende Folgen hatte.
Durch ihren Umgang mit der natürlichen Vegetation hatten die Wikinger also am Ende zu wenig Bauholz, Brennstoffe und Eisen. Die beiden anderen wichtigen Eingriffe, in Boden und Rasen, führten zu einer Verknappung der nutzbaren Flächen. Wie wir in Kapitel 6 erfahren haben, kam es in Island wegen der empfindlichen, leichten Vulkanböden schnell zu einer höchst problematischen Bodenerosion. In Grönland ist der Boden zwar nicht so empfindlich wie in Island, im Vergleich mit anderen Gegenden der Welt muss er aber ebenfalls als sehr anfällig gelten, denn wegen des kühlen Klimas und der kurzen Vegetationsperiode verlangsamt sich mit dem Pflanzenwachstum auch die Bodenbildung, sodass die Mutterbodenschicht dünn bleibt. Außerdem führt das geringe Pflanzenwachstum dazu, dass der Boden wenig organischen Humus enthält, einen Bestandteil, der Wasser bindet und den Boden feucht hält. Deshalb trocknet der Boden in Grönland in dem häufig sehr starken Wind leicht aus.
Die Bodenerosion beginnt in Grönland mit dem Abholzen oder Abbrennen von Bäumen und Sträuchern, die den Boden noch besser festhalten als Gras. Sind sie verschwunden, weiden Tiere - insbesondere Schafe und Ziegen - das Gras ab, das im grönländischen Klima nur langsam nachwächst. Wenn der Grasteppich unterbrochen ist, wird der frei liegende Boden vom Wind weggetragen, und den gleichen Effekt haben auch die gelegentlichen starken Niederschläge. Das kann so weit gehen, dass der Boden aus einem ganzen Tal über eine Entfernung von mehreren Kilometern abtransportiert wird. Wo Sand frei liegt - beispielsweise in Flusstälern -, wird er vom Wind mitgenommen und setzt sich an anderer Stelle wieder ab.
Die Bodenprofile in Bohrkernen von Seeböden belegen, dass nach der Besiedelung Grönlands durch die Wikinger eine gravierende Bodenerosion einsetzte, wobei Mutterboden und dann auch Sand von Wind und Fließgewässern in die Seen gespült wurden. An der Mündung des Qoroq-Fjordes, im Windschatten eines Gletschers, kam ich beispielsweise an einem aufgegebenen Wikingerhof vorüber, wo der starke Wind so viel Boden weggeweht hatte, dass nur noch nacktes Gestein übrig war. Auch Sandverwehungen sind auf den Wikingerhöfen häufig: Im Gebiet von Vatnahverfi sind manche Ruinen drei Meter tief darin begraben.
Neben der Bodenerosion hatten die Wikinger noch eine zweite Methode, mit der sie das Land unabsichtlich nutzlos machten: Sie stachen Rasen, den sie wegen der Holzknappheit als Baumaterial oder Brennstoff verwendeten. In Grönland bestanden fast alle Gebäude aus Rasen; im besten Fall waren die Fundamente aus Stein, und ein paar Holzbalken trugen das Dach. Selbst die Mauern der St.-Nikolaus-Kathedrale in Gardar waren nur auf den untersten zwei Metern aus Stein errichtet, darüber bestanden sie aus Rasen; Holzbalken dienten als Stütze für das Dach, und die Vorderfront war mit Holz verkleidet. Die Kirche von Hvalsey war ungewöhnlich, weil ihre Mauern in voller Höhe aus Steinen bestanden, aber auch hier war das Dach mit Rasen gedeckt. Zum Schutz gegen die Kälte waren die Rasenmauern in Grönland bis zu zwei Meter dick.
Für den Bau eines großen grönländischen Wohnhauses brauchte man nach Schätzungen ungefähr vier Hektar Rasen. Außerdem wurde diese Menge nicht nur ein Mal benötigt, denn der Rasen zerfällt allmählich, sodass ein Gebäude alle paar Jahrzehnte neu »begrünt« werden muss. Diese Rasengewinnung zu Bauzwecken bezeichneten die Wikinger als »Schälen der Außenfelder« - eine zutreffende Beschreibung für die Schädigung von Flächen, die ansonsten als Weiden nützlich gewesen wären. Und da Gras in Grönland nur langsam nachwächst, waren die Schäden langfristiger Natur.
Wiederum könnte ein Skeptiker auf solche Berichte über Bodenerosion und Rasenstechen erwidern: »Na und?« Darauf gibt es eine einfache Antwort. Wie bereits erwähnt wurde, war Grönland von allen Wikingerinseln im Nordatlantik die kälteste, auf der das Gras schon vor der Besiedelung durch die Menschen am langsamsten wuchs; deshalb war sie auch am empfindlichsten gegenüber dem Vegetationsverlust durch Überweidung, Zertrampeln, Bodenerosion und Rasenstechen. Ein Hof musste so viele Weideflächen besitzen, dass er wenigstens die Mindestzahl von Tieren ernähren konnte, mit denen man die nach einem langen Winter dezimierten Bestände vor dem nächsten Winter wieder aufbauen konnte. Nach Schätzungen musste sowohl in der Östlichen als auch in der Westlichen Siedlung nur ein Viertel der gesamten Weideflächen verloren gehen, damit die Größe der Herden unter diese Mindestgrenze sank. Genau das geschah wahrscheinlich in der Westlichen und möglicherweise auch in der Östlichen Siedlung.
Wie in Island, so sind die Umweltprobleme, unter denen die Wikinger litten, auch im heutigen Grönland noch von Bedeutung. Nachdem die mittelalterlichen Wikinger von der Insel verschwunden waren, gab es dort während der Besiedelung durch die Inuit und später unter der dänischen Kolonialherrschaft keine Viehhaltung mehr. Im Jahr 1915 schließlich, noch bevor man die ökologischen Vorgänge im Mittelalter genauer untersucht hatte, führten die Dänen versuchsweise Schafe aus Island ein, und 1924 nahm der erste hauptberufliche Schafzüchter den Hof von Brattahlid wieder in Betrieb. Man versuchte es auch mit Rinderhaltung, aber diese wurde wegen des gewaltigen Arbeitsaufwandes wieder aufgegeben.
Heute sind in Grönland ungefähr 65 Familien im Hauptberuf als Schafzüchter tätig, und das hat zur Folge, dass Überweidung und Bodenerosion erneut zum Problem werden. Bohrkerne aus grönländischen Seen zeigen, dass sich nach 1924 die gleichen Veränderungen abspielten wie nach 984: Der Baumpollen geht zurück, Gras- und Unkrautpollen nimmt zu, und es wird mehr Mutterboden in die Seen gespült. Nach 1924 ließ man die Schafe anfangs auch im Winter im Freien, wo sie selbst nach Futter suchten, wenn ausreichend mildes Wetter herrschte. Dies führte gerade in der Zeit, in der die Vegetation sich am wenigsten regenerieren konnte, zu Überweidungsschäden. Besonders empfindlich sind in dieser Hinsicht die Wacholderbäume, denn die werden im Winter, wenn es nichts anderes zu fressen gibt, sowohl von Schafen als auch von Pferden abgegrast. Als Christian Keller 1976 nach Brattahlid kam, wuchs dort noch Wacholder; bei meinem Besuch im Jahr 2002 sah ich nur noch abgestorbene Wacholderbäume, aber keine lebenden Exemplare mehr.
Nachdem in dem kalten Winter 1966/67 mehr als die Hälfte der grönländischen Schafe verhungert war, gründete die Regierung auf der Insel eine Versuchsstation, um die ökologischen Auswirkungen der Schafhaltung zu untersuchen. Dazu verglich man Vegetation und Bodenqualität auf stark und schwach genutzten Weideflächen sowie auf Feldern, von denen die Schafe mit Zäunen fern gehalten wurden. An den Forschungsarbeiten wirkten auch Archäologen mit, die sich mit der Veränderung der Weideflächen in der Wikingerzeit beschäftigten. Nachdem man nun die Empfindlichkeit Grönlands besser einschätzen konnte, wurden die empfindlichsten Weideflächen eingezäunt, und man brachte die Schafe während des ganzen Winters in die Ställe, wo sie künstlich gefüttert wurden. Um die Heumenge für den Winter zu steigern, werden die natürlichen Weideflächen gedüngt, und man baut Hafer, Roggen, Wiesenlieschgras und andere Gräser an, die dort ursprünglich nicht heimisch sind.
Trotz solcher Bemühungen ist die Bodenerosion in Grönland auch heute ein großes Problem. An den Fjorden der Östlichen Siedlung sah ich Abschnitte mit nacktem Fels und Geröll, weil die Vegetation erst in jüngster Zeit durch weidende Schafe verloren gegangen war. In den letzten 25 Jahren hat Winderosion den modernen Bauernhof, der an der Mündung des Tales von Qorlortoq an der Stelle eines alten Wikingerhofes stand, zugrunde gerichtet und uns damit ein Musterbeispiel für die Vorgänge vor 700 Jahren geliefert. Sowohl die grönländische Regierung als auch die Bauern selbst wissen, welche langfristigen Schäden die Schafe anrichten, aber sie stehen auch unter dem Druck, in einer Gesellschaft mit hoher Arbeitslosigkeit neue Arbeitsplätze zu schaffen. Ironie des Schicksals: Schafzucht in Grönland zahlt sich auf kurze Sicht nicht einmal aus. Die Regierung muss jeder Schafzüchterfamilie etwa 11 000 Euro im Jahr zahlen, um Verluste auszugleichen, den Familien ein Einkommen zu sichern und sie zur Fortsetzung der Schafzucht zu motivieren.
Eine wichtige Rolle für den Untergang von Wikinger-Grönland spielten die Inuit. Sie bildeten den größten Unterschied in der Geschichte der Normannen von Grönland und Island: Die Isländer erfreuten sich im Vergleich zu ihren Vettern in Grönland zwar auch eines weniger rauen Klimas und kürzerer Handelsrouten nach Norwegen, ihr größter Vorteil aber bestand darin, dass sie nicht von den Inuit bedroht wurden. Zumindest stellen die Inuit eine verpasste Gelegenheit dar: Die Wikinger hätten in Grönland größere Überlebensaussichten gehabt, wenn sie von den Ureinwohnern gelernt oder mit ihnen Handel getrieben hätten, aber das geschah nicht. Im schlimmsten Fall könnten Angriffe oder Bedrohungen der Inuit unmittelbar zum Untergang der Wikinger beigetragen haben. Von Bedeutung sind die Inuit aber auch deshalb, weil sie uns beweisen, dass eine lebensfähige Gesellschaft im mittelalterlichen Grönland kein Ding der Unmöglichkeit war. Warum scheiterten die Wikinger am Ende, während die Inuit Erfolg hatten?
Heute sehen wir in den Inuit die Ureinwohner des arktischen Kanada. In Wirklichkeit waren sie das letzte von mindestens vier archäologisch bekannten Völkern, die sich quer durch Kanada nach Osten verbreiteten und im Lauf von fast 4000 Jahren vor der Ankunft der Wikinger den Nordwesten Grönlands besiedelten. Sie kamen in mehreren Wellen, blieben jeweils mehrere Jahrhunderte in Grönland und verschwanden dann, womit sie ganz ähnliche Fragen nach einem gesellschaftlichen Zusammenbruch aufwerfen wie die Wikinger, die Anasazi und die Bewohner der Osterinsel. Über diese früheren Vorgänge wissen wir jedoch so wenig, dass wir sie in diesem Buch nicht ausführlich erörtern können, sondern nur als Hintergrund für das Schicksal der Wikinger betrachten. Archäologen haben diese früheren Kulturen nach den Fundstätten ihrer Hinterlassenschaften auf Namen wie Point Independence I, Point Independence II und Saqquaq getauft, aber die Sprachen dieser Völker und die Namen, mit denen sie selbst sich bezeichneten, sind für alle Zeiten verloren.
Die unmittelbaren Vorgänger der Inuit waren die Vertreter einer Kultur, die von Archäologen als Dorset bezeichnet wird, weil man ihre Behausungen am Cape Dorset auf der kanadischen Baffininsel gefunden hat. Nachdem die Dorset-Menschen den größten Teil der kanadischen Arktis besiedelt hatten, stießen sie um 800 v. Chr. nach Grönland vor und bewohnten von da an etwa 1000 Jahre lang große Teile der Insel, darunter auch die Regionen im Südwesten, in denen sich später die Wikinger niederließen. Um 300 n. Chr. gaben sie Grönland und große Teile der kanadischen Arktis aus unbekannten Gründen auf und zogen sich nach Kanada auf wenige Kernregionen zurück. Ungefähr ab 700 n. Chr. verbreiteten sie sich erneut bis nach Labrador und in den Nordwesten Grönlands, aber diese Wanderung führte sie nicht nach Süden bis zu den späteren Siedlungen der Wikinger. Die ersten normannischen Siedler berichteten von der Westlichen und Östlichen Siedlung nur über unbewohnte Ruinen, Bruchstücke von Fellbooten und Steinwerkzeuge; sie vermuteten, diese Gegenstände seien von verschwundenen Ureinwohnern zurückgelassen worden, ähnlich jenen, die ihnen in Nordamerika während der Reisen nach Vinland begegnet waren.
Durch die Knochen aus archäologischen Fundstätten wissen wir, dass die Dorset-Menschen je nach Ort und Epoche die unterschiedlichsten Tierarten jagten: Walrosse, Robben, Karibus, Eisbären, Füchse, Enten, Gänse und Seevögel. Dass ihre verschiedenen Bevölkerungsgruppen im arktischen Kanada, Labrador und Grönland trotz der großen Entfernungen in Handelsbeziehungen standen, beweisen Werkzeuge aus Gestein, das an einem dieser Orte gebrochen wurde und sich 1000 Kilometer entfernt an anderen Stellen wiederfindet. Anders als ihre Nachfolger, die Inuit, und auch im Gegensatz zu manchen Vorläufern besaßen die Dorset-Menschen jedoch keine Hunde (und dementsprechend auch keine Hundeschlitten), und auch Pfeil und Bogen benutzten sie nicht. Ebenso fehlten ihnen, anders als den Inuit, Boote aus Fellen, die über ein Holzgerüst gespannt waren; sie konnten also weder zur See fahren noch Wale jagen. Ohne Hundeschlitten blieb ihre Mobilität gering, und ohne Walfang konnten sie keine großen Bevölkerungsgruppen ernähren. Stattdessen wohnten sie in kleinen Siedlungen mit nur einem oder zwei Häusern, die jeweils nicht mehr als zehn Menschen Platz boten, darunter nur wenige erwachsene Männer. Damit waren sie unter den drei Gruppen amerikanischer Ureinwohner, denen die Wikinger begegneten - Dorset-Menschen, Inuit und kanadische Indianer - die am wenigsten beeindruckende, und das ist sicher auch der Grund, warum die grönländischen Wikinger es mehr als drei Jahrhunderte lang wagten, zur Holzgewinnung an die Küste Labradors mit ihrer Dorset-Bevölkerung zu fahren, während sie »Vinland« weiter im Süden Kanadas wegen der dichteren, feindseligen Indianerbevölkerung schon seit langem nicht mehr aufsuchten.
Sind Wikinger und Dorset-Menschen einander im Nordwesten Grönlands begegnet? Handfeste Beweise dafür gibt es nicht, aber es erscheint plausibel, denn die Dorset-Menschen lebten dort noch 300 Jahre, nachdem die Wikinger den Südwesten besiedelt hatten, und die Wikinger reisten jedes Jahr zur Jagd in die Nordrseta-Reviere, die nur wenige hundert Kilometer südlich von den Siedlungsgebieten der Dorset-Menschen lagen; Erkundungsfahrten führten sie sogar noch weiter nach Norden. An anderer Stelle werde ich einen Bericht von Wikingern wiedergeben, die mit Ureinwohnern - vermutlich Dorset-Menschen - zusammentrafen. Weitere Indizien sind Gegenstände, die offensichtlich von den Wikingern stammen und an vielen Dorset-Fundstätten im Nordwesten Grönlands und in der kanadischen Arktis gefunden wurden, darunter insbesondere Stücke aus geschmolzenem Metall, die als Material für Werkzeuge sehr wertvoll waren. Natürlich wissen wir nicht, ob die Dorset-Menschen solche Gegenstände bei persönlichen - friedlichen oder unfriedlichen - Begegnungen erhielten, oder ob sie aus aufgegebenen Wohnorten der Wikinger mitgenommen wurden. Wie dem auch sei: Wir können davon ausgehen, dass in den Beziehungen zwischen Wikingern und Inuit mehr Gefahrenpotenzial steckte als in dem relativ harmlosen Verhältnis zu den Dorset-Menschen.
Kultur und Technologie der Inuit, darunter auch die Beherrschung des Walfangs auf offener See, entwickelten sich irgendwann vor 1000 n. Chr. im Bereich der Beringstraße. Mit Hundeschlitten und großen Booten konnten die Inuit an Land und auf dem Meer viel schneller reisen und Material transportieren als die Dorset-Menschen.
Als es im Mittelalter in der Arktis wärmer wurde und die zugefrorenen Wasserstraßen zwischen den Inseln Nordkanadas auftauten, folgten die Inuit den Grönlandwalen, ihren bevorzugten Beutetieren, durch diese Wasserstraßen quer durch Kanada nach Osten, und um 1200 waren sie im Nordwesten Grönlands angelangt. Danach wanderten sie an der Westküste der Insel nach Süden und erreichten die Nordrseta, dann um 1300 die Gegend der Westlichen Siedlung und um 1400 die Region rund um die Östliche Siedlung.
Die Inuit machten auf dieselben Tierarten Jagd wie die Dorset-Menschen, aber sie waren dabei vermutlich erfolgreicher, weil sie im Gegensatz zu ihren Vorgängern Pfeil und Bogen besaßen. Darüber hinaus erschlossen sie sich aber mit dem Walfang eine weitere wichtige Nahrungsquelle, die weder den Dorset-Menschen noch den Wikingern zur Verfügung stand. Deshalb konnten die Jäger der Inuit zahlreiche Frauen und Kinder ernähren, und sie wohnten in großen Siedlungen, die in der Regel Dutzende von Menschen beherbergten, darunter 10 bis 20 erwachsene männliche Jäger und Kämpfer. In den guten Jagdrevieren der Nordrseta errichteten die Inuit an einer Stelle namens Sermermiut eine riesige Ansiedlung, die allmählich auf mehrere hundert Behausungen anwuchs. Man kann sich gut vorstellen, welche Probleme es für die Jagd der Wikinger in der Nordrseta aufwarf, wenn eine Gruppe ihrer Jäger, die sicher kaum mehr als wenige Dutzend Männer umfasste, von einer derart großen Gruppe der Inuit aufgespürt wurde und dann keine guten Beziehungen knüpfen konnte.
Im Gegensatz zu den Wikingern repräsentierten die Inuit den Höhepunkt einer jahrtausendealten kulturellen Entwicklung, in deren Verlauf die Völker der Arktis gelernt hatten, die dort herrschenden Bedingungen zu meistern. In Grönland gab es wenig Holz zum Bauen, zum Heizen oder für die Beleuchtung der Häuser während der winterlichen Dunkelheit. Für die Inuit kein Problem: Auf ihren winterlichen Reisen bauten sie sich Iglus aus Schnee, und als Brennmaterial für Heizung und Beleuchtung diente ihnen Wal- und Robbentran. Wenig Holz zum Bau von Booten? Wiederum kein Problem für die Inuit: Sie bauten Kajaks aus Fellen, die über ein Gerüst gespannt waren, und ihre als umiaqs bezeichneten Boote waren so groß, dass sie sich damit zum Walfang in ungeschützte Gewässer begeben konnten.
Obwohl ich gelesen hatte, was für hervorragende Wasserfahrzeuge die Kajaks der Inuit waren, und obwohl ich selbst mit modernen Freizeitkajaks gefahren war, die aus Kunststoff bestehen und heute in den Industrieländern allgemein verfügbar sind, war ich höchst erstaunt, als ich in Grönland zum ersten Mal ein traditionelles Inuitkajak zu Gesicht bekam. Es wirkte auf mich wie die Miniaturausgabe der langen, schmalen, schnellen Kriegsschiffe der USS-Iowa-Klasse, die bei der amerikanischen Marine während des Zweiten Weltkrieges im Einsatz waren und auf deren Deck jeder verfügbare Platz mit Kanonen, Luftabwehrgeschützen und anderen Waffen besetzt war. Mit einer Länge von knapp sechs Metern war das schlanke Kajak im Vergleich zu einem Kriegsschiff winzig, aber dennoch viel länger, als ich es mir vorgestellt hatte, und sein Deck war ebenfalls mit Waffen angefüllt: ein Harpunenschaft mit einer Speerwerfer-Verlängerung am Griffende; ein getrennter, etwa 15 Zentimeter langer Harpunenkopf, den man mit einem Knebel an dem Schaft befestigen konnte; ein Wurfpfeil für die Jagd auf Vögel, der an seiner Spitze nicht nur eine Pfeilspitze trug, sondern weiter hinten an seinem Schaft auch mit drei nach vorn gerichteten, spitzen Haken ausgestattet war, für den Fall, dass die Spitze den Vogel knapp verfehlte; mehrere Schwimmer aus Robbenhaut, die man an harpunierten Walen oder Robben befestigen konnte; und eine Lanze, um dem harpunierten Tier den Gnadenstoß zu versetzen. Im Gegensatz zu einem Kriegsschiff oder irgendeinem anderen mir bekannten Wasserfahrzeug war das Kajak individuell auf Größe, Gewicht und Armkraft seines Paddlers zugeschnitten. Sein Eigentümer trug es fast wie ein Kleidungsstück: Der Sitz war ein genähtes Stück Stoff, das mit dem Anorak des Fahrers verbunden wurde und einen wasserdichten Verschluss bildete, sodass er von dem eiskalten, über das Deck spritzenden Wasser nicht nass wurde. Christian Keller versuchte vergeblich, moderne Kajaks »anzuziehen«, die für seine grönländischen Freunde maßgeschneidert waren: Er musste feststellen, dass er seine Füße unter dem Deck nicht unterbringen konnte und dass seine Oberschenkel zu groß waren, sodass er nicht in die Öffnung passte.
Mit ihren vielfältigen Jagdmethoden waren die Inuit die vielseitigsten, geschicktesten Jäger in der Geschichte der Arktis. Sie erlegten Karibus, Walrosse und Landvögel nicht nur auf ganz andere Weise als die Wikinger, sondern im Gegensatz zu diesen benutzten sie ihre schnellen Kajaks auch dazu, um Robben zu harpunieren und Seevögel über dem Ozean einzuholen; mit umiaqs und Harpunen erlegten sie Wale auf offener See. Einen gesunden Wal kann nicht einmal ein Inuit mit einem einzigen Lanzenstoß erstechen; die Waljagd begann vielmehr damit, dass ein Jäger das Tier von einem umiaq aus harpunierte, das von anderen Männern gerudert wurde. Dass dies keine einfache Aufgabe ist, weiß jeder Liebhaber von Sherlock-Holmes-Geschichten aus dem Buch Der schwarze Peter. Darin wird ein böser, pensionierter Schiffskapitän tot in seinem Haus aufgefunden, sauber durchbohrt von einer Harpune, die zuvor als Wandschmuck gedient hatte. Nachdem Sherlock Holmes in einem Metzgerladen einen Vormittag lang vergeblich versucht hat, selbst eine Harpune durch ein totes Schwein zu treiben, gelangt er zu der richtigen Schlussfolgerung, dass es sich bei dem Mörder um einen professionellen Harpunenschützen handeln muss, weil ein Ungeübter, ganz gleich wie stark er ist, die Harpune nicht tief genug hineinstoßen kann. Dass es den Inuit gelang, hatte zwei Gründe: Der Speerwerfergriff an der Harpune verlängerte beim Werfen den Hebelarm und damit Wurfkraft und Auftreffgeschwindigkeit; und sie hatten wie der Mörder des schwarzen Peter langjährige Übung. Für die Inuit begann diese Übung schon in der Kindheit, und sie hatte zur Folge, dass sich im Wurfarm ein als Überdehnung bezeichneter Zustand entwickelte: Der Arm wurde letztlich zu einem regelrechten Katapult.
Nachdem die Harpune den Wal getroffen hatte, wurde die klug konstruierte Knebelverbindung gelöst, sodass der Jäger den Harpunenschaft zurückziehen konnte, während der Kopf im Wal verblieb. Hätte der Schütze ein Seil festgehalten, das mit Kopf und Schaft der Harpunen verbunden war, hätte der wütende Wal das umiaq mit seiner gesamten Besatzung unter Wasser gezogen. Stattdessen befand sich am Harpunenkopf eine luftgefüllte Blase aus Robbenfell, deren Auftrieb dem Wal das Abtauchen schwer machte, sodass er ermüdete. Kam das Tier dann zum Atmen an die Oberfläche, schossen die Inuit eine weitere Harpune mit einer zweiten Schwimmblase ab, was den Wal noch stärker anstrengte. Erst wenn er schließlich völlig erschöpft war, wagten es die Jäger, mit ihrem Boot längsseits zu gehen und ihm mit der Lanze den Todesstoß zu versetzen.
Die Inuit entwickelten auch eine besondere Technik zur Jagd auf Ringelrobben, die häufigste Robbenart in grönländischen Gewässern, die aber wegen ihrer Lebensgewohnheiten schwer zu fangen war. Im Gegensatz zu anderen Robben überwintert diese Spezies vor der Küste Grönlands unter dem Eis; dazu legen die Tiere Atemöffnungen an, die gerade groß genug für den Kopf (aber nicht für den Körper) sind. Diese Öffnungen sind nicht ohne weiteres auszumachen, weil die Robben sie mit einem Schneekegel bedecken. Jede Robbe besitzt mehrere Atemöffnungen, ganz ähnlich wie ein Fuchs, der sich einen unterirdischen Bau mit mehreren Ausgängen anlegt. Ein Jäger darf den Schneekegel nicht vom Loch entfernen, denn sonst würde die Robbe erkennen, dass an dieser Stelle Gefahr droht. Also stellten sich die Jäger geduldig in der dunklen Kälte des arktischen Winters neben einen solchen Kegel und warteten bewegungslos notfalls viele Stunden lang, bis sie hörten, dass die Robbe näher kam, um einen schnellen Atemzug zu nehmen. Dann versuchten sie, das Tier mit der Harpune durch den Schneekegel hindurch zu treffen, ohne dass sie es sehen konnten. Wenn die verwundete Robbe davonschwamm, löste sich der Harpunenkopf vom Schaft, beide blieben aber durch ein Seil verbunden. Dieses konnte der Jäger locker lassen und wieder anziehen, bis die Robbe erschöpft war, sodass er sie zu dem Loch zerren und erstechen konnte. Die Methode zu erlernen und erfolgreich anzuwenden, ist schwierig; den Wikingern gelang es nie. In den wenigen Jahren, wenn die Bestände andere Robbenarten zurückgingen, konnten die Inuit sich also auf die Jagd von Ringelrobben umstellen; dagegen hatten die Wikinger diese Möglichkeit nicht, sodass sie durch Hunger bedroht waren.
Die Inuit hatten also gegenüber den Wikingern und den Dorset-Menschen einige Vorteile. Nachdem sie sich über Kanada bis nach Nordwestgrönland verbreitet hatten, verschwand innerhalb weniger Jahrhunderte die Dorset-Kultur, die zuvor in beiden Regionen heimisch gewesen war. Im Zusammenhang mit den Inuit stehen wir also nicht nur vor einem, sondern vor zwei Rätseln: Zuerst verschwanden die Dorset-Menschen und dann die Wikinger, und in beiden Fällen waren die Inuit kurz zuvor in die betreffenden Gebiete vorgedrungen. Im Nordwesten Grönlands überlebten einige Siedlungen der Dorset-Menschen noch ein bis zwei Jahrhunderte nach der Besiedelung durch die Inuit; dass diese beiden Völker voneinander nichts wussten, ist undenkbar, aber unmittelbare archäologische Belege für Kontakte, beispielsweise Gegenstände der Inuit an Dorset-Fundstätten aus der gleichen Zeit oder umgekehrt, kennt man nicht. Indirekte Indizien gibt es allerdings: Die grönländischen Inuit hatten sich am Ende einige Merkmale der Dorset-Kultur zu Eigen gemacht, die sie vor ihrer Ankunft in Grönland nicht besessen hatten; so verfügten sie beispielsweise über Knochenmesser zum Ausschneiden von Schneeblöcken, kuppelförmige Schneehäuser, die Specksteintechnik und die so genannten »Thule 5«-Harpunenköpfe. Die Inuit hatten also eindeutig nicht nur die Gelegenheit, von den Dorset-Menschen zu lernen, sondern sie müssen auch irgendetwas mit deren Verschwinden zu tun haben, nachdem Letztere zuvor 2000 Jahre lang in der Arktis gelebt hatten. Ich habe dazu eine Vermutung: Als die Dorset-Menschen in einem strengen Winter hungerten, verließen die Frauen möglicherweise einfach die Männer und gingen hinüber zu den Lagern der Inuit, weil sie wussten, dass die Leute dort dem Fleisch von Grönlandwalen und Ringelrobben zusprachen.
Welche Beziehungen bestanden zwischen den Inuit und den Wikingern? Unglaublich, aber wahr: Obwohl die beiden Völker sich Grönland mehrere Jahrhunderte lang teilten, werden die Inuit in den Annalen der Wikinger nur zwei- oder dreimal kurz erwähnt.
Die erste dieser drei Stellen könnte sich entweder auf die Inuit oder auf die Dorset-Menschen beziehen: Sie beschreibt einen Vorfall aus dem 11. oder 12. Jahrhundert, als im Nordwesten Grönlands noch eine Dorset-Bevölkerungsgruppe lebte, während die Besiedelung durch die Inuit gerade erst begonnen hatte. Eine »Geschichte Norwegens«, die sich in einem Manuskript aus dem fünfzehnten Jahrhundert erhalten hat, beschreibt die erste Begegnung zwischen Wikingern und grönländischen Ureinwohnern: »Weiter im Norden, jenseits der normannischen Siedlungen, sind die Jäger kleinen Menschen begegnet, die sie skraelings nennen. Bringt man ihnen eine Wunde bei, welche nicht tödlich ist, wird die Wunde weiß, und sie bluten nicht, aber wenn sie tödlich verletzt sind, bluten sie unaufhörlich. Sie haben kein Eisen, sondern benutzen Walrossstoßzähne als Geschosse und scharfe Steine als Werkzeuge.«
So kurz und prägnant dieser Bericht auch ist, er lässt doch darauf schließen, dass die Wikinger eine »negative Einstellung« hatten, und das war ein schlechter Anfang im Verhältnis zu den Menschen, mit denen sie sich Grönland teilen mussten. Das altnordische Wort »skraelings«, das die Wikinger auf alle drei Ureinwohnergruppen der Neuen Welt anwendeten, die ihnen in Vinland und Grönland begegneten (Inuit, Dorset-Menschen und Indianer), lässt sich ungefähr mit »Wichte« übersetzen. Ebenso ist es ein schlechter Ausgangspunkt für friedliche Beziehungen, wenn man den erstbesten Inuit oder Dorset-Menschen nimmt, den man sieht, und ihm dann als Experiment eine Stichwunde beibringt, weil man wissen will, wie er blutet. Wie bereits in Kapitel 6 erwähnt wurde, begannen die Wikinger auch in Vinland bei ihrer ersten Begegnung mit Indianern die Freundschaft damit, dass sie acht der neun Menschen umbrachten. Diese ersten Kontakte erklären bereits weitgehend, warum es den Wikingern nicht gelang, gute Handelsbeziehungen mit den Inuit aufzubauen.
Die zweite der drei Erwähnungen ist ebenso kurz und bringt die skraelings mit der Zerstörung der Westlichen Siedlung um das Jahr 1360 in Verbindung; diesen Vorfall werden wir im Folgenden noch genauer betrachten. In diesem Fall kann es sich bei den skraelings nur um Inuit gehandelt haben, denn die Dorset-Menschen waren zu jener Zeit aus Grönland bereits verschwunden. Die letzte Stelle schließlich ist ein einziger Satz in den Annalen Islands aus dem Jahr 1379: »Die skraelings griffen die Grönländer an, töteten 18 Männer und nahmen zwei Jungen sowie eine Leibeigene gefangen, um sie zu Sklaven zu machen.« Wenn die Annalen nicht fälschlich einen Angriff, den das Volk der Saami in Norwegen ausführte, nach Grönland verlegt haben, muss dieser Vorfall sich vermutlich in der Nähe der Östlichen Siedlung ereignet haben, denn die Westliche Siedlung existierte 1379 nicht mehr, und zu einer Gruppe normannischer Jäger in der Nordrseta hätte vermutlich keine Frau gehört. Wie sollen wir diese knappe Geschichte interpretieren? Für uns heute, die wir ein Jahrhundert der Weltkriege mit zigmillionen Opfern hinter uns haben, hört sich die Tötung von 18 Wikingern nicht nach einer großen Angelegenheit an. Aber man muss bedenken, dass die Bevölkerung der Östlichen Siedlung insgesamt vermutlich aus nicht mehr als 4000 Menschen bestand, und 18 Männer entsprachen demnach einem Anteil von etwa zwei Prozent der erwachsenen männlichen Bewohner. Würde heute ein Feind die Vereinigten Staaten mit ihrer Bevölkerung von 280 Millionen Menschen angreifen und den gleichen Anteil an Männern töten, entspräche dies 1 260 000 toten Amerikanern. Mit anderen Worten: Der einzige belegte Überfall im Jahr 1379 bedeutete für die Östliche Siedlung eine Katastrophe, ganz gleich, wie viele weitere Männer bei den Angriffen der Jahre 1380, 1381 und so weiter ums Leben kamen.
Die drei erwähnten kurzen Textstellen sind die einzigen schriftlichen Informationsquellen über das Verhältnis zwischen Wikingern und Inuit. Die archäologischen Informationen stammen aus Produkten der Wikinger oder Kopien solcher Produkte, die man an Ausgrabungsstätten der Inuit gefunden hat, und umgekehrt. Insgesamt kennt man von Inuit-Fundstätten 170 Gegenstände normannischen Ursprungs; darunter sind einige vollständige Werkzeuge (ein Messer, eine Schere und ein Feueranzünder), vorwiegend handelt es sich aber um einzelne Metallstücke (aus Eisen, Kupfer, Bronze oder Zinn), die für die Inuit zur Herstellung eigener Werkzeuge sehr wertvoll waren. Solche normannischen Gegenstände findet man nicht nur an InuitFundstellen in Gebieten, in denen die Wikinger lebten (Östliche und Westliche Siedlung) oder häufig zu Besuch waren (Nordrseta), sondern auch in Regionen, die nie von den Wikingern aufgesucht wurden, so in Ostgrönland und auf der Ellesmere-Insel. Die Gegenstände der Wikinger müssen also für die Inuit von so großem Interesse gewesen sein, dass sie durch den Handel unter Inuitgruppen, die viele hundert Kilometer voneinander entfernt waren, weitergegeben wurden. In den meisten Fällen können wir heute nicht mehr feststellen, ob die Inuit die Gegenstände von den Wikingern selbst durch Handel, Mord oder Raub erhielten, oder indem sie normannische Siedlungen durchsuchten, nachdem die Wikinger diese aufgegeben hatten. Zehn Metallstücke stammen jedoch eindeutig von Glocken der Kirchen in der Östlichen Siedlung, und die hätten die Wikinger sicher nicht verkauft. Vermutlich holten sich die Inuit die Glocken, nachdem die Wikinger verschwunden waren, beispielsweise als sie selbst in Häusern lebten, die sie in den normannischen Ruinen errichtet hatten.
Handfestere Belege für persönliche Kontakte zwischen den beiden Völkern bieten neun von Inuit geschnitzte menschliche Figuren; dass es sich bei ihnen unverkennbar um Wikinger handelt, kann man an der Darstellung der charakteristischen Haartracht, der Kleidung und dem schmückenden Kruzifix ablesen. Die Inuit lernten von den Wikingern auch einige nützliche technische Verfahren. Werkzeuge in der Form eines europäischen Messers oder einer Säge konnten sie möglicherweise anhand geplünderter Gegenstände nachahmen, ohne dass es freundliche Kontakte zu lebenden Normannen geben musste, aber Fassdauben und Pfeilspitzen mit Schraubgewinde lassen darauf schließen, dass die Inuit tatsächlich zusahen, wie Wikinger ihre Fässer und Schrauben herstellten oder benutzten.
Umgekehrt hat man so gut wie nie Gegenstände der Inuit an Wikinger-Ausgrabungsstätten gefunden. Ein Hirschgeweih, zwei Wurfpfeile für Vögel, ein Seilgriff aus Elfenbein und ein Stück Meteoriteneisen - diese fünf Gegenstände sind meines Wissens alles, was man in Normannisch-
Grönland aus den Jahrhunderten der Koexistenz von Inuit und Wikingern gefunden hat. Und auch bei diesen fünf Gegenständen handelt es sich offensichtlich nicht um kostbare Handelswaren, sondern um weggeworfene Kuriositäten, die irgendein Wikinger aufgesammelt hatte. Erstaunlich ist, dass die vielen nützlichen Produkte der Inuit-Technologie völlig fehlen, obwohl die Wikinger von ihrer Nachahmung stark profitiert hätten. So gibt es beispielsweise an den Wikinger-Fundstätten keine einzige Harpune, kein Speer-Katapult, kein Kajak oder umiaq.
Hätte sich zwischen Inuit und Wikingern tatsächlich ein Handel entwickelt, wäre es dabei höchstwahrscheinlich auch um Walrosselfenbein gegangen, denn die Inuit waren geschickte Jäger, und für die Wikinger war es das Wertvollste, was sie nach Europa exportieren konnten. Unmittelbare Belege für einen solchen Handel wären für uns leider nur schwer zu erkennen: Ob die Elfenbeinstücke, die man auf vielen Wikingerhöfen gefunden hat, von Wahlrossen stammen, die von den Wikingern selbst oder von Inuit erlegt wurden, lässt sich nicht feststellen. Mit Sicherheit finden wir aber an den Wikinger-Fundstätten nicht die Knochen der Tiere, die nach meiner Überzeugung das Kostbarste waren, was die Inuit den Wikingern hätten verkaufen können: Ringelrobben, im Winter die am weitesten verbreiteten Robben Grönlands, die von den Inuit erfolgreich gejagt wurden, nicht aber von den Wikingern; sie standen zu einer Jahreszeit zur Verfügung, als bei den Wikingern stets die Gefahr drohte, dass die Nahrungsvorräte zur Neige gingen und eine Hungersnot ausbrach. Für mich liegt deshalb die Vermutung nahe, dass es zwischen den beiden Völkern nur einen sehr geringen oder gar keinen Handel gab. Was die archäologischen Anhaltspunkte für Kontakte betrifft, hätten die Inuit ebenso gut auf einem anderen Planeten leben können als die Wikinger, und das, obwohl sie sich in Wirklichkeit dieselbe Insel und dieselben Jagdreviere teilten. Ebenso wenig haben wir anatomische oder genetische Anhaltspunkte für Eheschließungen zwischen Inuit und Wikingern. Die Schädel der Wikinger, die in Grönland auf den Friedhöfen beigesetzt wurden, ähneln eingehenden Untersuchungen zufolge den Schädeln europäischer Skandinavier; eine Vermischung von Inuit und Wikingern wurde in keinem einzigen Fall nachgewiesen.
Dass die Wikinger weder Handelsbeziehungen zu den Inuit aufbauten noch von ihnen lernten, stellt aus unserer Sicht einen gewaltigen Verlust dar, sie selbst schätzten es aber offensichtlich nicht so ein. Dass es nicht dazu kam, lag nicht an mangelnden Gelegenheiten. Normannische Jäger müssen die Jäger der Inuit in der Nordrseta gesehen haben, und dann tauchten die Inuit auch an den Fjordmündungen bei der Westlichen Siedlung auf. Angesichts ihrer eigenen schweren hölzernen Ruderboote und ihrer Methoden zur Jagd auf Walrosse und Robben müssen die Wikinger erkannt haben, dass die Inuit ihnen mit ihren Jagdmethoden und den leichten Fellbooten überlegen waren: Den Inuit gelang genau das, was die normannischen Jäger vergeblich anstrebten. Als europäische Entdecker Ende des 16. Jahrhunderts wieder nach Grönland kamen, waren sie sofort verblüfft über die Geschwindigkeit und Manövrierfähigkeit der Kajaks. Sie beschrieben die Inuit als halbe Fische, die viel schneller durch das Wasser schossen als jedes europäische Boot. Ebenso beeindruckt waren sie von den umiaqs der Inuit, ihrer Treffsicherheit, ihren Kleidungsstücken, Booten und Handschuhen aus Tierhäuten, ihren Harpunen, blasenförmigen Schwimmern, Hundeschlitten und Methoden für die Robbenjagd. Als die Dänen ab 1721 Grönland kolonisierten, machten sie sich sofort die Inuit-Technologie zu Eigen: Sie fuhren mit Inuitumiaqs an der Küste der Insel entlang und trieben Handel mit den Ureinwohnern. Schon nach wenigen Jahren hatten die Dänen mehr über Harpunen und Ringelrobben gelernt als die Wikinger in Jahrhunderten. Aber manche dänischen Siedler waren rassistische Christen: Genau wie die mittelalterlichen Wikinger verachteten sie die heidnischen Inuit.
Wenn man vorurteilsfreie Vermutungen darüber anstellen will, welche Form die Beziehungen zwischen Wikingern und Inuit hätten annehmen können, kommt man aufzahlreiche Möglichkeiten; diese verwirklichten sich in späteren Jahrhunderten, als Europäer - Spanier, Portugiesen, Franzosen, Briten, Russen, Belgier, Niederländer, Deutsche und Italiener, aber auch Dänen und Schweden selbst - in anderen Regionen der Erde auf Ureinwohner trafen. Viele europäische Siedler wurden zu Vermittlern und entwickelten eine zusammenhängende Handelswirtschaft: Europäische Kaufleute ließen sich nieder oder besuchten Regionen der Ureinwohner, brachten europäische Waren mit, die von den Ureinwohnern geschätzt wurden, und erhielten im Gegenzug einheimische Produkte, die in Europa einen hohen Wert hatten. Die Inuit waren beispielsweise so begierig auf Metall, dass sie sich die Mühe machten, kalt geschmiedete Eisenwerkzeuge aus dem Eisen des Meteors von Kap York herzustellen, der im Norden Grönlands niedergegangen war. Man hätte sich also gut einen Handel vorstellen können, bei dem die Wikinger Walross- und Narwalzähne, Robbenfelle und Eisbären von den Inuit erhielten und diese Güter im Tausch für das Eisen, dass die Inuit so schätzten, nach Europa schickten. Ebenso hätten die Wikinger den Inuit Kleidung und Milchprodukte liefern können: Selbst wenn die Inuit wegen ihrer Lactoseintoleranz keine Milch tranken, hätten sie lactosefreie Milchprodukte wie Käse und Butter verzehren können, die Dänemark heute nach Grönland exportiert. Nicht nur für die Wikinger, sondern auch für die Inuit bestand in Grönland häufig die Gefahr von Hungersnöten, und die Inuit hätten Milchprodukte der Wikinger eintauschen können, um so diese Gefahr zu verringern und ihre Ernährung vielfältiger zu gestalten. Nach 1721 entwickelte sich ein solcher Handel zwischen Skandinaviern und Inuit in Grönland sehr schnell: Warum gab es ihn nicht bereits im Mittelalter?
Eine Antwort liegt in den kulturellen Hindernissen, die Eheschließungen und sogar dem Lernen zwischen Wikingern und Inuit im Wege standen. Eine Inuitfrau wäre für einen Wikinger nicht annähernd so nützlich gewesen wie eine Ehefrau aus seinem eigenen Volk: Die Wikinger verlangten von ihren Frauen, dass sie weben und Wolle spinnen konnten, Kühe und Schafe versorgten und molken, skyr, Butter und Käse herstellten - alles Fähigkeiten, welche die Mädchen bei den Wikingern von klein auf erlernten, bei den Inuit aber nicht. Selbst wenn ein normannischer und ein Inuit-Jäger sich anfreundeten, konnte der Wikinger sich nicht einfach von seinem Freund das Kajak leihen und dessen Benutzung erlernen, denn das Kajak war, wie erwähnt, letztlich ein sehr kompliziertes, individuell angefertigtes Kleidungsstück, das mit einem Boot verbunden war und nur diesem einen Jäger passte; hergestellt hatte es die Ehefrau des Inuit, die (im Gegensatz zu Wikingermädchen) seit frühester Kindheit gelernt hatte, wie man Tierhäute zusammennäht. Der normannische Jäger, der ein Kajak der Inuit gesehen hatte, konnte also nicht nach Hause gehen und seiner Frau sagen, sie solle ihm »auch so etwas nähen«.
Wer eine Inuitfrau dazu veranlassen wollte, ein Kajak nach den eigenen Körpermaßen herzustellen, oder wer gar ihre Tochter heiraten wollte, hätte zunächst einmal eine freundliche Beziehung herstellen müssen. Aber wie wir bereits erfahren haben, hatten die Wikinger von Anfang an eine »negative Einstellung«: Sie bezeichneten sowohl die nordamerikanischen Indianer in Vinland als auch die Inuit in Grönland als »Wichte« und töteten an beiden Stellen die ersten Einheimischen, die ihnen begegneten. Als kirchlich orientierte Christen hegten auch die Wikinger gegenüber den Heiden jene tiefe Verachtung, die im mittelalterlichen Europa weit verbreitet war.
Außerdem dürfte zu der negativen Haltung noch ein anderer Faktor beigetragen haben: Die Wikinger hielten sich selbst für die ursprünglichen Bewohner der Nordrseta, und die Inuit galten ihnen als Eindringlinge. Als diese einwanderten, gingen die Wikinger schon seit mehreren Jahrhunderten in den nördlichen Revieren auf die Jagd. Als die Inuit schließlich aus dem Nordwesten Grönlands hinzukamen, mochten die Wikinger ihnen verständlicherweise keine Gegenleistung für die Wahlrosszähne zugestehen, deren Jagd sie für ihr eigenes Privileg hielten. Als die Wikinger mit den Inuit zusammentrafen, litten sie auch selbst unter verzweifelter Eisenknappheit, und gerade Eisen war die Handelsware, die bei den Inuit am höchsten geschätzt wurde.
In unserer heutigen Welt, in der alle »indigenen Völker« mit Ausnahme weniger Stämme in den abgelegensten Teilen des Amazonasgebietes und Neuguineas bereits mit Europäern in Kontakt gekommen sind, liegen die Schwierigkeiten bei der Herstellung von Kontakten nicht ohne weiteres auf der Hand. Was mag der erste Wikinger, der in der Nordrseta eine Gruppe von Inuit sah, getan haben? Rief er »Hallo!«, ging er zu ihnen, lächelte er, bediente er sich der Gebärdensprache, zeigte er auf einen Wahlrossstoßzahn und hielt er ein Stück Eisen in die Höhe? Im Rahmen meiner biologischen Feldforschungen in Neuguinea habe ich solche »Erstkontaktsituationen« erlebt, und ich fand sie gefährlich und absolut entsetzlich. Die »Eingeborenen« betrachten die Europäer anfangs als Eindringlinge und gehen zu Recht davon aus, dass diese für ihre Gesundheit, ihr Leben und ihr Eigentum eine Gefahr darstellen. Keine Seite weiß, was die andere tun wird, beide sind angespannt und verängstigt, beide sind unsicher, ob sie flüchten oder schießen sollen, und beide suchen beim Gegenüber nach der geringsten Bewegung, die darauf hindeuten könnte, dass der andere in Panik gerät und als Erster schießt. Um eine solche Erstkontaktsituation zu einer freundlichen Beziehung zu machen oder auch nur zu überleben, braucht man äußerste Vorsicht und Geduld. Spätere europäische Kolonialherren eigneten sich gewisse Erfahrungen mit derartigen Situationen an, aber die Wikinger schossen offensichtlich als Erste. Kurz gesagt, mussten sich die Dänen im Grönland des 18. Jahrhunderts und die Europäer, die an anderen Stellen mit einheimischen Völkern zusammentrafen, mit den gleichen Problemen auseinander setzen wie die Wikinger: mit ihren eigenen Vorurteilen gegen »primitive Heiden«, mit der Frage, ob man sie töten und ausrauben oder ob man besser Handel mit ihnen treiben solle, sie heiratet und ihr Land in Besitz nimmt, und mit der Frage, wie man sie dazu bringt, nicht zu flüchten oder zu schießen. Später gingen die Europäer solche Probleme an, indem sie das ganze Spektrum der Möglichkeiten kultivierten und sich jeweils für diejenige entschieden, die unter den gegebenen Umständen am besten geeignet war; dies hing davon ab, ob die Europäer in der Über- oder Unterzahl waren, ob sie eine ausreichende Zahl von Europäerinnen als Ehefrauen bei sich hatten, ob die Einheimischen über Handelswaren verfügten, die in Europa geschätzt wurden, und ob das Land der Einheimischen für die Europäer als Siedlungsgebiet attraktiv war. Die mittelalterlichen Wikinger verfügten noch nicht über derart vielseitige Möglichkeiten. Da sie sich weigerten oder nicht in der Lage waren, von den Inuit zu lernen, und da sie gleichzeitig auch keinen militärischen Vorteil auf ihrer Seite hatten, verschwanden am Ende nicht die Inuit, sondern die Wikinger.
Das Ende der Wikingerkolonie in Grönland wird häufig als »rätselhaft« bezeichnet. Das stimmt aber nur zum Teil: Es gilt zu unterscheiden zwischen den eigentlichen Gründen (das heißt den langfristigen Faktoren, die zum allmählichen Niedergang der Wikingergesellschaft in Grönland führten) und den unmittelbaren Anlässen (das heißt dem letzten Schlag für die geschwächte Gesellschaft, bei dem die letzten Menschen ums Leben kamen oder gezwungen waren, ihre Siedlungen aufzugeben). Nur die unmittelbaren Anlässe sind teilweise ein Rätsel; die tieferen Gründe dagegen liegen klar zu Tage. Es handelt sich um die fünf Faktoren, die wir bereits ausführlich erörtert haben: die Eingriffe der Wikinger in ihre Umwelt, Klimaveränderungen, Abnahme der freundlichen Kontakte zu Norwegen, Zunahme der feindseligen Kontakte mit den Inuit und die konservative Grundeinstellung der Wikinger.
Kurz gesagt, betrieben die Wikinger unabsichtlich Raubbau mit den ökologischen Ressourcen, auf die sie angewiesen waren: Sie fällten Bäume, stachen Rasen, ließen die Überweidung zu und verursachten Bodenerosion. Schon in der Anfangszeit der Wikingersiedlungen reichten die natürlichen Ressourcen Grönlands nur knapp aus, um eine bäuerliche europäische Gesellschaft in lebensfähiger Größe zu ernähren, und die Heuproduktion ist in Grönland von Jahr zu Jahr starken Schwankungen unterworfen. Deshalb wurde die Dezimierung der ökologischen Ressourcen in schlechten Jahren zu einer existenziellen Gefahr für die Gesellschaft. Zweitens wissen wir aus Klimaberechnungen an den grönländischen Eisbohrkernen, dass es bei Ankunft der Wikinger auf der Insel relativ mild war (das heißt so »mild« wie heute): im 14. Jahrhundert folgten dann mehrfach mehrere kalte Jahre aufeinander, und im 15. Jahrhundert begann die so genannte »kleine Eiszeit«, die bis ins 19. Jahrhundert anhielt. In dieser Zeit ging die Heuproduktion noch weiter zurück, und die Schifffahrtsrouten zwischen Grönland und Norwegen waren durch Meereis blockiert. Aber diese Hindernisse für die Schifffahrt - der dritte Faktor - waren nur einer der Gründe für den Rückgang und schließlich das Ende des Handels mit Norwegen, auf den die Grönländer angewiesen waren, weil er ihnen Eisen, eine gewisse Menge Holz und ihre kulturelle Identität verschaffte. In Norwegen raffte der »Schwarze Tod« (eine Pestepidemie) in den Jahren 1349/50 etwa die Hälfte der Bevölkerung hin. Im Jahr 1397 vereinigten sich Norwegen, Schweden und Dänemark unter einem einzigen König, der Norwegen, die ärmste der drei Provinzen, im weiteren Verlauf links liegen ließ. Die Nachfrage nach Walrosselfenbein, Grönlands wichtigster Exportware, ging in Europa zurück, als die Christen sich durch die Kreuzzüge Zugang zu dem Elefantenelfenbein aus Asien und Ostafrika verschafften, dessen Lieferung nach Europa zuvor durch die arabische Eroberung der Mittelmeerküste zum Erliegen gekommen war. Im 15. Jahrhundert waren Elfenbeinschnitzereien aller Arten, ob von Wahlrosszähnen oder Elefanten, in Europa aus der Mode. Alle diese Faktoren trugen dazu bei, dass man in Norwegen immer weniger über Finanzmittel und Motivation verfügte, Schiffe nach Grönland zu schicken. Die grönländischen Wikinger waren bei weitem nicht das einzige Volk, das feststellen musste, dass seine Wirtschaft (oder sogar sein Überleben) bedroht war, weil wichtige Handelspartner in Schwierigkeiten gerieten; das Gleiche erlebten die Vereinigten Staaten 1973 durch das Ölembargo der Golfstaaten, die Bewohner von Pitcairn und Henderson zu der Zeit, als in Mangareva der Wald zerstört wurde, und viele andere.
Die Zahl derartiger Fälle wird sich durch die moderne Globalisierung sicher vervielfachen. Mit der Ankunft der Inuit und der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Wikinger, tief greifende Veränderungen zuzulassen, war das Quintett der Faktoren, die hinter dem Untergang der grönländischen Kolonie standen, schließlich komplett.
Alle fünf Faktoren entwickelten sich allmählich und waren über lange Zeit hinweg wirksam. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass einzelne Wikingerhöfe bereits zu verschiedenen Zeitpunkten vor der endgültigen Katastrophe aufgegeben wurden. Auf dem Fußboden eines großen Hauses im größten Anwesen des Vatnahverfi-Distrikts der Östlichen Siedlung fand man den Schädel eines 25-jährigen Mannes, der mit der Radiokarbonmethode auf das Jahr 1275 datiert wurde. Man kann also annehmen, dass der ganze Vatnahverfi-Distrikt bereits zu dieser Zeit aufgegeben wurde und dass es sich bei dem Fund um einen der letzten Bewohner handelte - Überlebende hätten den Toten sicher bestattet und die Leiche nicht einfach auf dem Fußboden liegen lassen. Die letzten Radiokarbondatierungen von Höfen im Qorlortoq-Tal der Östlichen Siedlung häufen sich um das Jahr 1300. Der »Hof unter dem Sand« in der Westlichen Siedlung wurde um 1350 aufgegeben und unter ausgewaschenem Gletschersand begraben.
Von den beiden Ansiedlungen der Wikinger verschwand die kleinere Westliche Siedlung als Erste völlig. Unsere Informationen über ihr Ende stammen aus zwei Quellen: schriftlichen Überlieferungen und archäologischen Befunden. Der schriftliche Bericht stammt von einem Geistlichen namens Ivar Bardarson, den der Bischof von Bergen aus Norwegen nach Grönland schickte, wo er als Vertrauensmann und Steuereintreiber des Königs arbeiten und gleichzeitig über den Zustand der Kirche berichten sollte. Kurz nachdem Bardarson 1362 nach Norwegen zurückgekehrt war, verfasste er eine Beschreibung Grönlands-, der ursprüngliche Text dieses Werkes ist nicht erhalten; wir kennen es nur aus späteren Abschriften. Bei den noch vorhandenen Teilen handelt es sich vorwiegend um Listen grönländischer Kirchen und Grundbesitztümer, und dazwischen versteckt sich ein empörend kurzer Bericht über das Ende der Westlichen Siedlung: »In der Westlichen Siedlung steht ein großes Gotteshaus, die Kirche von Stensnes [Sandnes]. Diese Kirche war eine Zeit lang Kathedrale und Bischofssitz. Jetzt haben die skraelings [Wichte, das heißt die Inuit] die ganze Westliche Siedlung in Besitz genommen ... Alles zuvor Genannte wurde uns von Ivar Bardarson Grönländer berichtet, der viele Jahre der Aufseher der bischöflichen Einrichtungen von Gardar war; er hat das alles gesehen und war einer von denen, welche der Gesetzeshüter [ein hochrangiger Beamter] angewiesen hatte, zur Westlichen Siedlung zu gehen und gegen die skraelings zu kämpfen, um sie aus der Westlichen Siedlung zu vertreiben. Bei ihrer Ankunft fanden sie keinen Menschen vor, weder Christen noch Heiden .«
Am liebsten würde ich vor lauter Frustration Ivar Bardarsons Leiche schütteln, weil er so viele Fragen unbeantwortet gelassen hat. In welchem Jahr ging er dorthin, und in welchem Monat? Fand er noch gelagertes Heu oder Käse vor? Wie konnten tausend Menschen einfach verschwinden, sodass kein Einziger mehr übrig war? Gab es Spuren von Kämpfen, niedergebrannte Gebäude oder Leichen? Das alles erfahren wir von Bardarson nicht.
Stattdessen müssen wir uns an die Befunde der Archäologen halten, die auf mehreren Höfen der Westlichen Siedlung die obersten Trümmerschichten ausgegraben haben. Diese enthalten die Überreste, die die verbliebenen normannischen Bewohner in der Siedlung während der letzten Monate zurückließen. In den Ruinen findet man Türen, Pfosten, Dachbalken, Möbel, Geschirr, Kruzifixe und andere große Gegenstände aus Holz. Das ist ungewöhnlich: Wenn ein Bauernhof in Nordskandinavien absichtlich aufgegeben wird, nehmen die Bewohner solche Gegenstände in der Regel mit und verwenden sie an ihrem neuen Wohnort wieder, einfach weil Holz so kostbar ist. Wie bereits erwähnt, enthielt das Wikingerlager von L’Anse aux Meadows in Neufundland, das nach einer geplanten Evakuierung aufgegeben wurde, kaum Wertgegenstände mit Ausnahme von 99 zerbrochenen Nägeln, einem vollständigen Nagel und einer Stricknadel. Die Westliche Siedlung dagegen wurde offensichtlich sehr eilig verlassen, oder die letzten Bewohner konnten ihre Möbel nicht mehr abtransportieren, weil sie dort starben.
Die Tierknochen in diesen obersten Schichten erzählen eine grausige Geschichte. Unter ihnen sind die Fußknochen von Wildvögeln und Kaninchen, die so klein waren, dass sie normalerweise nicht gejagt wurden und nur als letzte Zuflucht bei einer Hungersnot dienten; weiterhin fand man Knochen eines neugeborenen Kalbes und eines Lamms, die im späten Frühjahr zur Welt gekommen waren, die Zehenknochen mehrerer Kühe, deren Zahl ungefähr der Zahl von Verschlagen im Kuhstall des Hofes entspricht - demnach wurden wohl alle Kühe geschlachtet und bis hin zu den Beinen aufgegessen -, und Teilskelette großer Jagdhunde, an deren Knochen man Messerspuren entdeckte. Hundeknochen fehlen ansonsten in Wikingerhäusern praktisch völlig, denn diese Menschen waren ebenso wenig bereit, ihre Hunde zu essen, wie wir. Als die letzten Bewohner die Hunde töteten, auf die sie im Herbst bei der Karibujagd angewiesen waren, und als sie außerdem die Jungtiere schlachteten, die sie zum Neuaufbau ihrer Herden benötigten, gestanden sie letztlich ein, dass sie vor lauter Hunger nicht mehr an die Zukunft denken konnten. In den tieferen Trümmerschichten der Häuser fand man zusammen mit menschlichen Exkrementen auch Aas fressende Fliegen, die zu wärmeliebenden Arten gehörten; die oberste Schicht dagegen enthält nur kältetolerante Fliegenarten, ein Indiz, dass den Bewohnern nicht nur die Nahrung, sondern auch das Brennmaterial ausgegangen war.
Aus allen diesen archäologischen Einzelheiten können wir ablesen, dass die letzten Bewohner jener Höfe in der Westlichen Siedlung im Frühjahr verhungerten und erfroren. Entweder war es ein kaltes Jahr, und die Robben kamen nicht, oder im Fjord herrschte starker Eisgang; vielleicht erinnerte sich auch eine Gruppe von Inuit daran, dass ihre Verwandten von den Wikingern in einem Experiment erstochen worden waren, weil man wissen wollte, wie stark sie bluteten, und nun versperrten sie ihnen den Zugang zu den Robbenherden im äußeren Teil der Fjorde. Wahrscheinlich hatte ein kalter Sommer im Jahr zuvor dazu geführt, dass die Bauern nicht genügend Heu hatten, um ihr Vieh den ganzen Winter über zu füttern. Sie mussten ihre letzten Kühe schlachten und sogar die Füße essen, sie töteten und aßen ihre Hunde, und sie machten Jagd auf Vögel und Kaninchen. Wenn es so war, muss man sich allerdings fragen: Warum fanden die Archäologen in den zusammengebrochenen Häusern nicht auch die Skelette der letzten Wikinger? Nach meiner Vermutung erwähnte Ivar Bardarson nicht, dass er mit seiner Gruppe aus der Östlichen Siedlung in der Westlichen Siedlung aufräumte und seinen Landsleuten ein christliches Begräbnis zuteil werden ließ - oder vielleicht ließ auch der Schreiber, der Bardarsons verlorenes Original abschrieb und kürzte, diesen Bericht unter den Tisch fallen.
Wie sah nun das Ende der Östlichen Siedlung aus? Im Jahr 1368 schickte der norwegische König zum letzten Mal ein königliches Handelsschiff nach Grönland; dieses Schiff sank im folgenden Jahr. Danach sprechen die Berichte nur noch von vier weiteren Seereisen nach Grönland (in den Jahren 1381, 1382, 1385 und 1406); in allen Fällen handelte es sich um private Schiffe, und die Kapitäne behaupteten, ihr eigentlicher Bestimmungsort sei Island gewesen - nach Grönland seien sie unabsichtlich gelangt, weil sie durch den Wind vom Kurs abgekommen seien. Wenn man bedenkt, dass der norwegische König für sich das ausschließliche Recht auf den Grönlandhandel als königliches Monopol beanspruchte und dass es privaten Schiffen nicht erlaubt war, Grönland anzulaufen, müssen wir solche »unabsichtlichen« Reisen als erstaunlichen Zufall betrachten. Die Behauptungen der Kapitäne, sie seien zu ihrem tiefen Bedauern in dichtem Nebel vom Weg abgekommen und am Ende fälschlich nach Grönland gelangt, waren höchstwahrscheinlich nur Ausreden, mit denen sie von ihren wirklichen Absichten ablenken wollten. Zweifellos wussten die Seeleute, dass nur sehr wenige Schiffe nach Grönland fuhren und dass die Inselbewohner großen Bedarf an Handelsgütern hatten, sodass man die norwegischen Importe dort mit hohem Gewinn verkaufen konnte. Thorstein Olaffson, der Kapitän des Schiffes von 1406, kann über seinen Navigationsfehler nicht allzu traurig gewesen sein: Er blieb fast vier Jahre in Grönland und kehrte erst 1410 nach Norwegen zurück.
Dabei brachte Kapitän Olaffson drei Neuigkeiten aus Grönland mit. Erstens hatte man einen Mann namens Kolgrim im Jahr 1407 auf dem Scheiterhaufen verbrannt, weil er angeblich mit Zauberei eine Frau namens Steinnunn verführt hatte, die Tochter des Gesetzeshüters Ravn und Ehefrau von Thorgrim Sölvason. Zweitens verfiel die arme Steinnunn in geistige Umnachtung und starb. Und schließlich wurde Olaffson selbst am 14. September 1408 in der Kirche von Hvalsey mit dem grönländischen Mädchen Sigrid Björnsdotter getraut, wobei Brand Halldorsson, Thord Jorundarson, Thorbjorn Bardarson und Jon Jonsson als Trauzeugen fungiert hatten, nachdem zuvor an drei Sonntagen das Aufgebot für das glückliche Paar verlesen worden war, ohne dass jemand Einspruch erhoben hätte. Die knappen Berichte über die Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen, die Geisteskrankheit und die Eheschließung waren im europäischen Mittelalter das Alltagsgeschäft jeder christlichen Gesellschaft und liefern keinen Anhaltspunkt für Probleme. Sie sind die letzten eindeutigen schriftlichen Belege aus Normannisch-Grönland.
Wann die Östliche Siedlung verschwand, wissen wir nicht genau. Zwischen 1400 und 1420 wurde das Klima im Nordatlantik kälter und stürmischer, und über Schiffsreisen nach Grönland wird nicht mehr berichtet. Ein weibliches Kleidungsstück, das man auf dem Friedhof von Herjolfsnes ausgegraben hatte, wurde mit der Radiokarbonmethode auf das Jahr 1435 datiert; man kann also annehmen, dass einige Wikinger noch etliche Jahrzehnte überlebten, nachdem das letzte Schiff 1410 von Grönland abgelegt hatte, aber man sollte sich auf das Datum von 1435 nicht allzu sehr fixieren, denn bei der Radiokarbondatierung besteht immer eine statistische Unsicherheit von mehreren Jahrzehnten. Die nächsten eindeutig belegten Besuche von Europäern fanden erst zwischen 1576 und 1587 statt, als die britischen Entdecker Martin Frobisher und John Davis die Insel sichteten und dort an Land gingen. Sie stießen auf Inuit, waren von deren Fähigkeiten und Technologie sehr beeindruckt, trieben Handel mit ihnen und nahmen einige Ureinwohner gefangen, um sie nach England zu bringen und dort zur Schau zu stellen. Im Jahr 1607 machte sich eine dänischnorwegische Expedition gezielt auf den Weg zur Östlichen Siedlung, aber man ließ sich von dem Namen täuschen und nahm an, sie müsse an der Ostküste Grönlands liegen; deshalb fand sie keine Spuren der Wikinger. Von nun an und während des ganzen 17. Jahrhunderts machten immer wieder dänisch - norwegische Expeditionen sowie niederländische und britische Walfänger in Grönland Station und nahmen weitere Inuit gefangen; trotz ihres völlig anderen Äußeren und ihrer fremden Sprache nahm man (für uns heute völlig unverständlicherweise) an, sie seien nichts Geringeres als die Nachfahren der blauäugigen, blonden Wikinger.
Im Jahr 1721 schließlich reiste der norwegische lutherische Missionar Hans Egede nach Grönland. Er war überzeugt, die entführten Inuit seien tatsächlich katholische Wikinger, die von den Europäern vor der Reformation im Stich gelassen worden waren, zum Heidentum zurückgekehrt waren und nun erpicht darauf sein müssten, dass ein christlicher Missionar sie zur lutherischen Lehre bekehrte. Zufällig landete er zuerst an den Fjorden der Westlichen Siedlung, und dort fand er zu seiner Überraschung nur Menschen vor, die eindeutig Inuit und keine Wikinger waren, ihm aber die Ruinen der früheren Wikingerhöfe zeigten. Da auch Egede glaubte, die Östliche Siedlung müsse an der Ostküste der Insel liegen, suchte er dort und fand keine Spuren der Wikinger. Im Jahr 1723 zeigten die Inuit ihm an der Südwestküste, wo nach unserer heutigen Kenntnis die Östliche Siedlung lag, noch größere normannische Ruinen, darunter auch die Kirche von Hvalsey. Nun musste er sich eingestehen, dass die Wikingersiedlung tatsächlich verschwunden war, und er begann nach des Rätsels Lösung zu suchen. Von den Inuit hörte Egede mündlich überlieferte Geschichten über wechselnde Phasen der Konflikte und der friedlichen Beziehungen zur früheren Wikingerbevölkerung, und er fragte sich, ob die Normannen wohl von den Inuit ausgerottet worden waren. Seither haben Generationen von Besuchern und Archäologen sich darum bemüht, die Antwort zu finden.
Man muss sich darüber im Klaren sein, worin das Rätsel besteht. Die tieferen Ursachen für den Niedergang der Wikinger stehen außer Zweifel, und aus den archäologischen Untersuchungen an den obersten Schichten der Westlichen Siedlung erfahren wir etwas über den unmittelbaren Anlass des Zusammenbruchs im letzten Jahr der Siedlung. Entsprechende Informationen über die Vorgänge im letzten Jahr der Östlichen Siedlung besitzen wir jedoch nicht, denn dort wurden die oberen Schichten bisher nicht untersucht. Nachdem ich die Geschichte bis hierher erzählt habe, kann ich der Versuchung nicht widerstehen, das Ende mit einigen Spekulationen auszuschmücken.
Für mich sieht es so aus, als sei die Östliche Siedlung nicht allmählich, sondern sehr plötzlich zusammengebrochen, ganz ähnlich, wie es in der Westlichen Siedlung und auch beim Zusammenbruch der Sowjetunion geschah. Die grönländische Wikingergesellschaft war ein heikel ausbalanciertes Kartenhaus, das letztlich nur durch die Autorität der Kirche und der Häuptlinge stehen blieb. Als die versprochenen Schiffe aus Norwegen nicht mehr kamen und das Klima kälter wurde, muss der Respekt vor diesen beiden Autoritäten ins Wanken geraten sein. Der letzte Bischof von Grönland starb um 1378, und aus Norwegen kam kein Nachfolger mehr. Aber soziale Legitimität hing in der normannischen Gesellschaft von einer ordnungsgemäß funktionierenden Kirche ab: Geistliche mussten von einem Bischof geweiht werden, und ohne geweihten Priester gab es keine Taufen, keine Eheschließungen und keine christlichen Bestattungen mehr. Wie konnte eine solche Gesellschaft weiterhin funktionieren, wenn schließlich der letzte Priester, der vom letzten Bischof geweiht worden war, starb ? Auch die Autorität eines Häuptlings hing davon ab, dass dieser über genügend Mittel verfügte, die er in schlechten Zeiten an seine Anhänger verteilen konnte. Angenommen, die Menschen auf armen Höfen verhungerten, während der Häuptling nebenan auf einem reicheren Hof überlebte: Hätten die ärmeren Bauern dann ihrem Anführer noch bis zum letzten Atemzug gehorcht?
Die Östliche Siedlung lag viel weiter südlich als die Westliche, eignete sich besser für die Heuproduktion, beherbergte mehr Menschen (4000 im Vergleich zu 1000) und war deshalb weniger stark durch einen Zusammenbruch gefährdet. Auf lange Sicht war das kältere Klima für die Östliche Siedlung natürlich ebenso schädlich wie für die Westliche, aber in der Östlichen Siedlung war eine längere Reihe kalter Jahre notwendig, bis die Herden dezimiert waren und die Menschen hungerten. Man kann sich ausmalen, wie die kleineren Höfe am Rand der Östlichen Siedlung allmählich aushungerten. Aber was könnte in Gardar geschehen sein, wo zwei Kuhställe 160 Tieren Platz boten und wo man Herden mit unzähligen Schafen hielt?
Nach meiner Vermutung ähnelte Gardar am Ende einem überfüllten Rettungsboot. Als die Heuproduktion in der Östlichen Siedlung zurückging und alle Tiere der ärmeren Höfe gestorben oder aufgegessen waren, dürften deren Siedler sich in die besten Höfe gedrängt haben, die noch ein paar Tiere besaßen: Brattahlid, Hvalsey, Herjolfsnes und zuletzt Gardar. Die Autorität der Kirchenbeamten in der Kathedrale von Gardar und des dortigen Landbesitzers wurden so lange anerkannt, wie sie und die Macht Gottes ihre Untergebenen und Anhänger sichtbar schützten. Aber Hungersnot und die damit verbundenen Krankheiten führten dazu, dass der Respekt vor Autoritäten schwand, ganz ähnlich wie der griechische Historiker Thukydides es 2000 Jahre zuvor in seinem erschreckenden Bericht über die Pest in Athen beschrieben hatte. Hungernde Menschen strömten nach Gardar, und die Häuptlinge und Kirchenoberen, die nun in der Minderzahl waren, konnten nicht mehr verhindern, dass die letzten Rinder und Schafe geschlachtet wurden. Die Versorgung hätte in Gardar vermutlich ausgereicht, um die eigenen Bewohner am Leben zu erhalten, wenn man die Nachbarn hätte aussperren können, so aber wurden die Vorräte im letzten Winter verbraucht: Alle wollten in das überbesetzte Rettungsboot klettern und aßen Hunde, neu geborenes Vieh und die Beine der Kühe, wie sie es am Ende in der Westlichen Siedlung getan hatten.
Ich stelle mir in Gardar eine ganz ähnliche Szene vor, wie sie sich in meiner Heimatstadt Los Angeles 1991 zur Zeit der so genannten Rodney-King-Unruhen abspielte: Damals provozierte der Freispruch von Polizisten, die wegen Misshandlung eines armen Menschen angeklagt waren, Tausende von empörten Menschen aus armen Stadtvierteln zum Marsch auf wohlhabende Firmen und reiche Wohnviertel. Die Polizei war hoffnungslos in der Minderzahl und konnte nicht mehr tun, als die Zufahrtsstraßen zu reichen Stadtvierteln mit gelben Kunststoffbändern abzusperren, eine nutzlose Geste mit dem Ziel, die Plünderer fern zu halten. Ein ähnliches Phänomen beobachten wir heute zunehmend im globalen Maßstab: Einwanderer aus armen Ländern strömen in die Rettungsboote, zu denen die reichen Staaten geworden sind, und unsere Grenzpolizei ist kaum besser in der Lage, den Zustrom aufzuhalten, als die Häuptlinge von Gardar und die gelben Bänder von Los Angeles. Diese Parallele ist ein weiterer Grund, warum wir das Schicksal von Normannisch-Grönland nicht als Problem einer kleinen Randgesellschaft in einer empfindlichen Umwelt abtun sollten, das für unsere große Gesellschaft ohne Bedeutung ist. Auch die Östliche Siedlung war größer als die Westliche, aber das Ergebnis war das Gleiche; es dauerte nur länger.
Waren die Wikinger in Grönland von Anfang an zum Untergang verdammt? Wollten sie eine Lebensweise praktizieren, mit der sie keinen Erfolg haben konnten, sodass es letztlich nur eine Frage der Zeit war, bis sie verhungerten? Waren sie hoffnungslos im Nachteil gegenüber sämtlichen amerikanischen Ureinwohnern, die als Jäger und Sammler schon Jahrtausende vor der Ankunft der Normannen immer wieder von Grönland Besitz ergriffen hatten?
Das glaube ich nicht. Wie gesagt: Vor den Inuit waren amerikanische Jäger und Sammler bereits in mindestens vier Wellen aus der kanadischen Arktis nach Grönland eingewandert, und ein Volk nach dem anderen war ausgestorben. Klimaschwankungen in der Arktis hatten dazu geführt, dass die großen Beutetiere, die für Jäger lebenswichtig sind - Karibus, Robben und Wale - weit wanderten, in stark schwankender Zahl vorkamen oder ganze Gebiete vorübergehend verließen. Die Inuit konnten sich zwar nach ihrer Ankunft acht Jahrhunderte lang in Grönland halten, aber auch auf sie wirkten sich die Schwankungen in der Zahl der Beutetiere aus. Die Archäologen haben viele Inuithäuser entdeckt, die wie Zeitkapseln dicht verschlossen waren; im Inneren fanden sie ganze Familien, die in dem Haus während eines strengen Winters verhungert waren. Während der dänischen Kolonialzeit kam es häufig vor, dass ein Inuit mit letzter Kraft in eine dänische Siedlung wankte und erklärte, er sei der letzte Überlebende einer Siedlung, in der alle anderen Bewohner verhungert seien.
Im Vergleich zu den Inuit und allen früheren Gesellschaften von Jägern und Sammlern in Grönland hatten die Wikinger den großen Vorteil, dass sie über eine zusätzliche Nahrungsquelle verfügte: das Vieh. Die amerikanischen Ureinwohner konnten sich als Jäger nur auf eine einzige Weise die biologische Produktivität der grönländischen Landpflanzen zunutze machen: indem sie die Karibus (und als kleinere Nahrungslieferanten die Hasen) erlegten, die sich von den Pflanzen ernährten. Die Wikinger aßen ebenfalls Karibus und Hasen, aber zusätzlich sorgten sie dafür, dass ihre Kühe, Schafe und Ziegen die Pflanzen in Milch und Fleisch verwandelten. Deshalb verfügten die Wikinger potenziell über eine breitere Nahrungsgrundlage als alle früheren Bewohner Grönlands, und entsprechend besser waren ihre Überlebensaussichten. Hätten sie nicht nur einige wilde Nahrungsmittel verzehrt, die auch die amerikanischen Ureinwohner in Grönland nutzten (insbesondere Karibus, wandernde Robben und Seehunde), sondern darüber hinaus auch noch die anderen Nahrungsmittel der Ureinwohner ausgebeutet (insbesondere Fisch, Ringelrobben und nicht nur jene Wale, die strandeten), hätten sie wahrscheinlich überlebt. Dass sie auf Ringelrobben, Fische und Wale keine Jagd machten, obwohl sie sahen, dass die Inuit es taten, war ihre eigene Entscheidung. Die Wikinger verhungerten inmitten einer Fülle ungenutzter Nahrungsressourcen. Warum trafen sie diese Entscheidung, die aus unserer Sicht im Rückblick der reine Selbstmord war?
Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Beobachtungen, Werte und früheren Erfahrungen waren die Entscheidungen der Wikinger nicht stärker selbstmörderisch als jene, die wir heute treffen. Ihre Sichtweise war von vier Überlegungen geprägt. Erstens ist es selbst für moderne Ökologen und Agrarwissenschaftler schwierig, unter den wechselnden Umweltbedingungen Grönlands den Lebensunterhalt zu sichern. Die Wikinger hatten das Glück oder das Pech, dass sie zu einer Zeit mit relativ mildem Klima nach Grönland kamen. Da sie in den vorangegangenen 1000 Jahren nicht dort gelebt hatten, verfügten sie nicht über die Erfahrung der Zyklen von Kalt und Warm, und sie konnten nicht voraussehen, dass sie mit ihrer Viehhaltung später auf Probleme stoßen würden, wenn das Klima in Grönland den kalten Teil des Zyklus durchlief. Nachdem die Dänen im 20. Jahrhundert wieder Schafe und Kühe nach Grönland eingeführt hatten, begingen sie ebenfalls Fehler: Mit zu hohen Schafbeständen setzten sie die Bodenerosion in Gang, und die Rinderhaltung gaben sie sehr schnell wieder auf. Heute kann Grönland sich nicht selbst versorgen, sondern es ist stark auf dänische Entwicklungshilfe und auf die Zahlungen der Europäischen Union für die Fischereikonzessionen angewiesen. Selbst nach heutigen Maßstäben vollbrachten also die Wikinger, die im Mittelalter eine vielschichtige Mischung von Tätigkeiten entwickelten und sich damit 450 Jahre lang am Leben erhielten, eine beeindruckende und keineswegs selbstmörderische Leistung.
Zweitens kamen die Wikinger nicht mit einem unvoreingenommenen Bewusstsein nach Grönland, das sie für jede Lösung der Probleme ihres Landes aufgeschlossen gemacht hätte. Wie alle Völker, die in der Geschichte Kolonien gründeten, brachten sie ihre eigenen Kenntnisse, ihre kulturellen Werte und ihre bevorzugte Lebensweise mit, die sich auf die Erfahrungen vieler Generationen in Norwegen und Island stützten. Sie hielten sich für Milchbauern, Christen, Europäer und insbesondere für Normannen. Ihre norwegischen Vorfahren praktizierten schon seit 3000 Jahren erfolgreich die Milchwirtschaft. Sie waren durch gemeinsame Sprache, Religion und Kultur an Norwegen gebunden, genau wie Amerikaner und Australier, die durch die gleichen Attribute jahrhundertelang an Großbritannien gebunden waren. Alle grönländischen Bischöfe waren Norweger, die man auf die Insel entsandt hatte, aber keine Wikinger, die dort groß geworden waren. Ohne ihre gemeinsamen norwegischen Werte hätten die Wikinger in Grönland nicht zusammenarbeiten und überleben können. Unter diesem Gesichtspunkt versteht man, dass sie in Kühe, in die Jagd in der Nordrseta und in Kirchen investierten, obwohl sie ihre Energie damit nach rein wirtschaftlichen Kriterien nicht optimal nutzten. Und ihren Untergang verdankten die Wikinger dem gleichen sozialen Zusammenhalt, der sie auch in die Lage versetzt hatte, die Schwierigkeiten Grönlands zu meistern. Wie sich herausstellt, ist dies ein gemeinsames Thema in der gesamten Geschichte und auch in unserer heutigen Welt. Wir haben es bereits im Zusammenhang mit Montana (Kapitel 1) erfahren: Die Werte, an denen die Menschen unter ungeeigneten Bedingungen am hartnäckigsten festhalten, sind genau jene, durch die sie zuvor ihre größten Triumphe über widrige Umstände gefeiert haben. Auf dieses Dilemma werden wir im nächsten Kapitel im Zusammenhang mit Gesellschaften zurückkommen, die erfolgreich waren, weil sie herausfanden, an welchen innersten Werten sie nicht festhalten konnten.
Drittens verachteten die Wikinger wie andere Christen aus dem mittelalterlichen Europa die nichteuropäischen Heidenvölker, und sie hatten keine Erfahrungen im Umgang mit ihnen. Erst nachdem 1492 mit Kolumbus’ Reisen das Zeitalter der Entdeckungen begonnen hatte, lernten die Europäer die machiavellistischen Methoden, mit denen man indigene Völker zum eigenen Vorteil ausbeuten konnte, obwohl man sie weiterhin verachtete. Deshalb weigerten sich die Wikinger, von den Inuit zu lernen, und vermutlich verhielten sie sich so, dass die feindseligen Gefühle bestätigt wurden. Später gingen auch viele andere Gruppen von Europäern in der Arktis auf ganz ähnliche Weise zugrunde, weil sie die Inuit ignorierten oder bekämpften. Am deutlichsten wird dies an den 138 britischen Mitgliedern der finanziell gut ausgestatteten Franklin-Expedition von 1845: Sie starben ohne Ausnahme, als sie Bereiche der kanadischen Arktis durchqueren wollten, die von Inuit bevölkert waren. Am besten kamen jene europäischen Entdecker und Siedler in der Arktis zurecht, die wie Robert Peary und Roald Amundsen in besonders großem Umfang die Methoden der Inuit übernahmen.
Und schließlich konzentrierte sich die Macht in Normannisch-Grönland an der Spitze, in den Händen der Häuptlinge und Geistlichen. Ihnen gehörte das meiste Land (darunter ohne Ausnahme die besten Höfe), sie besaßen die Boote, und sie kontrollierten den Handel mit Europa. Ein großer Teil dieses Handels diente dem Import von Waren, die ihnen mehr Prestige verschafften: Luxusgüter für die reichsten Haushalte, Gewänder und Schmuck für die Geistlichen, Glocken und farbiges Glas für die Kirchen. Die wenigen Boote wurden unter anderem für die Jagd in der Nordrseta genutzt, bei der man sich die Luxus-Exportgüter (beispielsweise Elfenbein und Eisbärfellen) zur Bezahlung der Importe beschaffte. Die Häuptlinge hatten zwei Motive, große Schafherden zu halten, die das Land durch Überweidung schädigen konnte: Wolle war Grönlands zweites wichtiges Exportgut, mit dem man die Importe bezahlen konnte, und unabhängige Bauern konnte man auf überweidetem Land leichter in ein Lehensverhältnis zwingen, sodass sie als Gefolgsleute in der Konkurrenz mit anderen Häuptlingen von Nutzen waren. Die Wikinger hätten ihre materiellen Bedingungen durch zahlreiche Neuerungen verbessern können, beispielsweise wenn sie mehr Eisen und weniger Luxusgüter importiert hätten, wenn sie die Boote während längerer Zeit dazu benutzt hätten, nach Markland zu fahren und dort sowohl Eisen als auch Holz zu holen, oder wenn sie die Inuit nachgeahmt oder andere Verfahren für Bootsbau und Jagd entwickelt hätten. Aber solche Neuerungen hätten die Macht, das Ansehen und die eng gefassten Interessen der Häuptlinge bedroht. In der streng kontrollierten, verflochtenen Gesellschaft von Normannisch-Grönland konnten die Häuptlinge verhindern, dass andere solche Neuentwicklungen ausprobierten.
Durch die Gesellschaftsstruktur der Wikinger entstand also ein Konflikt zwischen den kurzfristigen Interessen der Machthaber und den langfristigen Interessen der Gesamtgesellschaft. Vieles von dem, was Häuptlinge und Geistliche schätzten, erwies sich für die Gesellschaft als schädlich. Aber die Werte der Gesellschaft bildeten die Wurzel sowohl für ihre Stärken als auch für ihre Schwäche. Es gelang den Wikingern, in Grönland eine einzigartige Form einer europäischen Gesellschaft zu schaffen und 450 Jahre lang als abgelegenster Außenposten Europas zu überleben. Wir modernen Amerikaner sollten ihr Schicksal nicht allzu voreilig als Versagen brandmarken: Ihre Gesellschaft überlebte in Grönland länger, als es unserer Englisch sprechenden Gesellschaft in Nordamerika bisher gelungen ist. Am Ende jedoch standen die Häuptlinge ohne Gefolgsleute da. Das letzte Recht, das sie für sich selbst in Anspruch nehmen konnten, war das Recht, als Letzte zu verhungern.