- wenn auch geringen - Überschuss erwirtschaftet haben. Ärmere Bauern dagegen hatten dann nicht mehr genug Heu, um alle Tiere über den Winter zu bringen: Sie mussten im Herbst einen Teil ihrer Viehbestände schlachten und besaßen im schlimmsten Fall im Frühjahr überhaupt keine lebenden Tiere mehr. Im besten Fall mussten sie die gesamte Milchproduktion ihrer Herde für die Aufzucht von Kälbern, Lämmern und Kindern verwenden, und die Bauern selbst konnten sich nicht mehr von Milchprodukten ernähren, sondern mussten auf Robben- oder Karibufleisch zurückgreifen.
Diese Rangordnung in der Qualität der Höfe spiegelt sich in den unterschiedlich großen Kuhställen der heutigen Ruinen wider. Das bei weitem beste Anwesen mit dem Platz für die meisten Rinder war Gardar: Es hatte als Einziges zwei riesige Ställe, die insgesamt 160 Kühe aufnehmen konnten. Auf Höfen aus der »zweiten Liga« wie Brattahlid und Sandnes boten die Ställe Platz für jeweils 30 bis 50 Kühe. Ärmere Anwesen dagegen hatten nur Räumlichkeiten für wenige Rinder, unter Umständen auch nur für ein Einziges. Deshalb mussten die guten Anwesen in schlechten Jahren die ärmeren unterstützen und ihnen im Frühjahr Tiere ausleihen, damit sie ihre Bestände wieder aufbauen konnten.
Die grönländische Gesellschaft war also durch ein hohes Maß an gegenseitiger Abhängigkeit und Austausch gekennzeichnet: Robben und Seevögel wurden ins Landesinnere transportiert, Karibus gelangten von den Bergen in die Niederungen, Walrossstoßzähne brachte man nach Süden und Vieh von den reicheren zu den ärmeren Höfen. Aber wie in anderen Regionen der Erde, wo reiche und arme Menschen voneinander abhängig sind, so besaßen Arme und Reiche auch in Grönland am Ende nicht den gleichen durchschnittlichen Wohlstand. Wie man an der Anzahl der Knochen verschiedener Tierarten in den Abfällen erkennt, machten angesehene und weniger angesehene Lebensmittel in der Ernährung der einzelnen Menschen unterschiedliche Anteile aus. Auf den guten Höfen war der Anteil der hoch geschätzten Kühe gegenüber den weniger geschätzten Schafen und dieser gegenüber den noch weniger geschätzten Ziegen höher als auf den ärmeren Anwesen, und ebenso war er auf den Anwesen der Östlichen Siedlung höher als auf denen der Westlichen. Karibu- und insbesondere Robbenknochen sind in der Westlichen Siedlung zahlreicher als in der Östlichen, denn die Westliche Siedlung eignete sich für die Viehhaltung schlechter und war außerdem nicht weit von großen Lebensräumen der Karibus entfernt. Von diesen beiden Produkten wilder Tiere ist das Karibufleisch auf den reichen Höfen (insbesondere Gardar) stärker repräsentiert, die Bewohner der ärmeren Anwesen dagegen ernährten sich in größerem Umfang von Robbenfleisch. Während meines Grönlandaufenthaltes zwang ich mich aus Neugier, Robbenfleisch zu probieren, aber dabei gelangte ich nicht weiter als bis zum zweiten Bissen; anschließend verstand ich viel besser, warum Menschen mit europäischer Ernährungstradition das Wildbret gegenüber den Robben bevorzugen, wenn sie die Wahl haben.
Ich möchte diese allgemeinen Erkenntnisse mit einigen realen Zahlen belegen: Nach den Abfällen eines armen Hofes in der Westlichen Siedlung zu urteilen, der unter dem Namen W48 oder Niaquusat bekannt ist, bestand die Ernährung seiner unglückseligen Bewohner zu dem entsetzlich hohen Anteil von 85 Prozent aus Robbenfleisch; sechs Prozent stammten von Ziegen, nur fünf Prozent von Karibus, drei Prozent von Schafen und ein Prozent (welch seltener Festtag!) von Rindern. Zur gleichen Zeit erfreute sich die Oberschicht in Sandnes, dem reichsten Hof der Westlichen Siedlung, einer Ernährung mit 32 Prozent Karibufleisch, 17 Prozent Rindfleisch, sechs Prozent Schaffleisch und sechs Prozent Ziegenfleisch, sodass nur noch 39 Prozent auf die Robben entfielen. Am besten war die Elite der Östlichen Siedlung auf dem Hof Eriks des Roten in Brattahlid dran: Ihr gelang es, den Rindfleischkonsum über die Mengen von Karibu- und Schaffleisch zu steigern, und Ziegenfleisch wurde dort überhaupt nicht in nennenswerten Mengen verzehrt.
Wie hoch gestellte Personen dazu kamen, bevorzugte Lebensmittel zu verzehren, die niedriger gestellten Menschen selbst auf dem gleichen Hof in weitaus geringerem Umfang zur Verfügung standen, wird an zwei pikanten Anekdoten deutlich. Als Archäologen die Ruinen der St.-Nikolaus-Kathedrale von Gardar ausgruben, fanden sie unter dem steinernen Fußboden das Skelett eines Mannes mit Bischofsstab und Ring; vermutlich handelte es sich um Johann Arnason Smyrill, der von 1189 bis 1209 Bischof von Grönland war. Aus der Kohlenstoffisotopenanalyse seiner Knochen konnte man ablesen, dass er sich zu 75 Prozent von an Land produzierten Lebensmitteln (vermutlich vorwiegend Rindfleisch und Käse) ernährt hatte, während Nahrung aus dem Meer (vor allem Robbenfleisch) nur 25 Prozent beigesteuert hatte. Ein Mann und eine Frau aus der gleichen Zeit, die unmittelbar unter dem Bischof bestattet waren und demnach vermutlich ebenfalls hochrangige Personen gewesen waren, hatten einen etwas größeren Anteil (45 Prozent) von Lebensmitteln aus dem Meer verzehrt, aber bei anderen Skeletten aus der Östlichen Siedlung reichte dieser Anteil bis zu 78 Prozent und in der Westlichen Siedlung sogar bis zu 81 Prozent. Und zweitens konnte man in Sandnes, dem reichsten Hof der Westlichen Siedlung, anhand der Tierknochen aus dem Abfallhaufen vor dem Haupthaus beweisen, dass die Bewohner viel Karibufleisch und das Fleisch der Haustiere aßen, aber nur wenig Robbenfleisch. Nur 50 Meter entfernt befand sich ein Stall, wo das Vieh wahrscheinlich während des Winters gehalten wurde und wo Landarbeiter zwischen den Tieren und ihrem Dung hausten. Der Abfallhaufen vor dem Stall lässt erkennen, dass diese Arbeiter sich mit Robbenfleisch zufrieden geben mussten und sich nur selten über Karibus, Rindfleisch oder Hammelfleisch freuen konnten.
Mit einer solchen vielschichtig integrierten Wirtschaftsordnung, die sich auf Viehhaltung, Jagd an Land und Tierfang auf den Fjorden stützte, konnten die grönländischen Wikinger sich in einer Umwelt halten, in der keiner dieser Bestandteile allein zum Überleben ausgereicht hätte. Die gleiche Wirtschaft liefert aber auch Anhaltspunkte dafür, welche Ursachen schließlich zum Niedergang der Grönländer beigetragen haben könnten, denn ein Versagen eines dieser Bestandteile stellte stets eine erhebliche Bedrohung dar. Viele Unwägbarkeiten des Klimas konnten das Gespenst der Hungersnot heraufbeschwören: ein kurzer, kühler nebliger Sommer oder ein feuchter August mit verminderter Heuproduktion; ein langer, schneereicher Winter, der sowohl dem Vieh als auch den Karibus zusetzte und bei den Haustieren zu einem erhöhten Heubedarf führte; Eisgang auf den Fjorden, der in der Robbenfangsaison im Mai und Juni den Zugang zum äußeren Teil der Fjorde behinderte; Schwankungen der Wassertemperatur im Meer, die sich auf die Fischbestände und damit auch auf die Bestände der Fisch fressenden Robben auswirkte; oder eine Klimaänderung im weit entfernten Neufundland mit Auswirkungen auf die Paarungsgebiete der Sattelrobben und Klappenmützen. Aus moderner Zeit sind für Grönland mehrere derartige Ereignisse dokumentiert: So kamen beispielsweise in dem kalten Winter 1966/67 mit seinen starken Schneefällen insgesamt 22 000 Schafe ums Leben, und die Zahl der wandernden Sattelrobben sank in den kalten Jahren von 1959 bis 1974 auf zwei Prozent des früheren Wertes. Selbst in den besten Jahren lag die Westliche Siedlung mit ihrer Heuproduktion enger an der Grenze des Möglichen als die Östliche, und eine nur um ein Grad niedrigere Sommertemperatur reichte aus, um die Heuproduktion der Westlichen Siedlung unter das Minimum zu drücken.
Nach einem einzigen schlechten Sommer oder Winter wurden die Wikinger mit dem Verlust an Vieh fertig, vorausgesetzt, es folgte eine Reihe von guten Jahren, in denen sie ihre Herden wieder aufbauen konnten, während sie gleichzeitig genügend Robben- und Karibufleisch zu essen hatten. Gefährlicher war es, wenn in einem einzigen Jahrzehnt mehrere schlechte Jahre aufeinander folgten oder wenn sich an einen Sommer mit geringer Heuproduktion ein langer, schneereicher Winter anschloss, sodass man in den Ställen viel Heu als Futter für die Tiere brauchte. Noch stärker wurde die Bedrohung, wenn die Robbenbestände zusammenbrachen oder der Zugang zum äußeren Teil der Fjorde im Frühjahr aus irgendwelchen Gründen behindert war. Wie wir noch genauer erfahren werden, geschah genau das am Ende in der Westlichen Siedlung.
Die normannisch - grönländische Gesellschaft kann man mit fünf Adjektiven charakterisieren, die einander teilweise ein wenig widersprechen: gemeinschaftsbewusst, gewalttätig, hierarchisch, konservativ und eurozentrisch. Alle diese Eigenschaften wurden von den Herkunftsgesellschaften in Island und Norwegen übernommen, fanden aber in Grönland eine besonders extreme Ausdrucksform.
Insgesamt lebten ungefähr 5000 Menschen auf250 Höfen; diese hatten also im Durchschnitt jeweils 20 Bewohner und waren ihrerseits zu Gemeinden zusammengeschlossen, die sich um 14 Hauptkirchen gruppierten, sodass jeweils ungefähr 20 Höfe zu einer Kirche gehörten. Die Wikingergesellschaft auf Grönland war stark gemeinschaftsorientiert: Ein Einzelner konnte sich nicht von ihr entfernen und selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen. Einerseits war die Zusammenarbeit aller Bewohner eines Hofes oder einer Gemeinde unentbehrlich für die Robbenjagd im Frühjahr, die Nordrseta-Jagd im Sommer (von der noch genauer die Rede sein wird), die spätsommerliche Heuernte und die Karibujagd im Herbst sowie für die Bautätigkeit, alles Tätigkeiten, die nur in gemeinschaftlicher Arbeit ausgeführt werden konnten und für einen Einzelnen nur schlecht oder gar nicht zu bewältigen gewesen wären. (Man braucht sich nur vorzustellen, wie eine Herde wilder Karibus oder Robben zusammengetrieben werden muss oder wie ein vier Tonnen schwerer Stein an seinen Platz in einer Kathedrale gebracht wird.) Andererseits war die Kooperation aber auch für die wirtschaftliche Integration der Höfe und insbesondere der einzelnen Gemeinden notwendig: An den verschiedenen Stellen in Grönland wurden unterschiedliche Dinge produziert, sodass die Bewohner dieser Orte wegen der Dinge, die sie nicht selbst erzeugten, aufeinander angewiesen waren. Die 160 Rinder, für die es in den Ställen von Gardar Verschläge gab, gingen weit über den lokalen Bedarf hinaus. Wie wir noch genauer erfahren werden, wurden Walrosszähne, Grönlands kostbarste Exportware, von wenigen Jägern aus der Westlichen Siedlung in den Jagdrevieren von Nordrseta beschafft und dann unter den Höfen beider Siedlungen zur aufwendigen Weiterverarbeitung verteilt, bevor man sie exportierte.
Zu einem Bauernhof zu gehören, war sowohl für das Überleben als auch für die gesellschaftliche Identität unerlässlich. Jedes Stückchen der wenigen nutzbaren Landflecken in der Westlichen und Östlichen Siedlung gehörte entweder zu einem einzelnen Hof oder war Gemeinschaftseigentum einer Gruppe von Höfen, die damit ein Recht auf alle Ressourcen dieses Landes hatten, nicht nur auf seine Weiden und sein Heu, sondern auch auf Karibus, Torf, Beeren und sogar das Treibholz. Ein Grönländer, der allein zurechtkommen wollte, hätte also nicht einfach auf die Jagd und zum Sammeln gehen können. Wer in Island seinen Hof verlor oder von der Gemeinschaft geächtet wurde, konnte es an einer anderen Stelle versuchen - auf einer Insel, einem aufgegebenen Hof oder in dem Hochland des Landesinneren. Diese Möglichkeit bestand in Grönland nicht - es gab kein »anderswo«, wohin man hätte gehen können.
Dies führte zu einer streng kontrollierten Gesellschaft: Die wenigen Oberhäupter der reichsten Höfe konnten verhindern, dass irgendjemand etwas tat, das ihre Interessen zu bedrohen schien; so konnte auch niemand mit Neuerungen experimentieren, die für die Häuptlinge keinen Nutzen versprachen. An der Spitze der Westlichen Siedlung stand Sandnes, ihr reichster Hof, der als Einziger Zugang zum unteren Teil des Fjordes hatte, und die Östliche Siedlung wurde von Gardar beherrscht, das nicht nur der reichste Hof, sondern auch der Sitz des Bischofs war. Wie wir noch sehen werden, liefern diese Tatsachen zumindest teilweise eine Erklärung für das Schicksal, das die grönländischen Wikingergesellschaft schließlich ereilte.
Mit dem Gemeinschaftsgefühl kam auch ein starker Hang zur Gewalttätigkeit aus Island und Norwegen nach Grönland. In diesem Zusammenhang verfügen wir über einige schriftliche Belege: Als der norwegische König Sigurd Jorsalfar im Jahr 1124 einem Priester namens Arnald nahe legte, dieser solle als erster ständiger Bischof nach Grönland gehen, führte Arnald für seinen Widerwillen auch das Argument an, die Grönländer seien so streitsüchtige Menschen. Darauf erwiderte der eigenwillige König: »Je größere Prüfungen dir von Menschenhand auferlegt werden, desto größer werden deine eigenen Verdienste und Belohnungen sein.« Daraufhin willigte Arnald ein, allerdings unter der Bedingung, dass Einar Sokkason, der Sohn eines angesehenen grönländischen Häuptlings, mit einem Eid gelobte, ihn und das Eigentum der Kirche in Grönland zu verteidigen und seine Feinde zu vernichten. Wie die Saga von Einar Sokkason berichtet (siehe Kasten), wurde Arnald nach seiner Ankunft in Grönland tatsächlich in die üblichen gewalttätigen Konflikte verwickelt, aber er ging damit so geschickt um, dass die wichtigsten Beteiligten (unter ihnen auch Einar Sokkason) sich am Ende gegenseitig umbrachten, während Arnald sein Leben und seine Autorität behielt.
Es gibt aber auch handgreiflichere Belege für die Gewalttätigkeit in Grönland. Der Friedhof bei der Kirche von Brattahlid umfasst nicht nur viele Einzelgräber mit säuberlich angeordneten, vollständigen Skeletten, sondern auch ein Massengrab aus der Anfangsphase der grönländischen Siedlung, das die auseinander gerissenen Knochen von 13 erwachsenen Männern und einem neunjährigen Kind enthält. Vermutlich handelt es sich dabei um eine Großfamilie, die in einer Fehde den Kürzeren zog. An fünf der Skelette erkennt man Schädelverletzungen, die von scharfen Gegenständen stammen, vermutlich von Äxten oder Schwertern. In zwei Fällen erkennt man Spuren der Knochenheilung, was darauf schließen lässt, dass die Opfer den Schlag überlebten und erst später starben; an den drei anderen sind jedoch nur geringe oder keine Heilungsspuren zu erkennen, das heißt, die Betreffenden starben wahrscheinlich sehr schnell. Dieses Ergebnis ist nicht verwunderlich, wenn man sich die Fotos der Schädel ansieht: Aus einem davon wurde ein Knochenstück von fünfmal acht Zentimetern herausgetrennt. Die Verletzungen befinden sich stets entweder links vorn oder rechts hinten am Schädel, wie man es erwartet, wenn ein rechtshändiger Angreifer von vorn oder hinten zuschlägt. (Das Gleiche beobachtet man bei den meisten Verwundungen aus Schwertkämpfen, denn die Menschen sind in ihrer Mehrzahl Rechtshänder.)
Bei einem anderen männlichen Skelett auf dem gleichen Friedhof steckt eine Messerschneide zwischen den Rippen. Zwei weibliche Skelette aus dem Friedhof von Sandness mit ähnlichen Schädelverletzungen sind der Beweis, dass nicht nur Männer, sondern auch Frauen bei solchen Konflikten ums Leben kamen. Aus späteren Jahren der grönländischen Kolonie, als Äxte und Schwerter wegen der Eisenknappheit bereits äußerst selten waren, kennt man Schädel von vier erwachsenen Frauen und einem achtjährigen Kind, die jeweils ein oder zwei scharfkantige Löcher mit einem Durchmesser von eineinhalb bis zweieinhalb Zentimetern tragen; diese Verletzungen stammen offensichtlich von Armbrustbolzen oder Pfeilen. Auf häusliche Gewalt lässt das Skelett einer fünfzigjährigen Frau in der Kathedrale von Gardar schließen, bei dem das Zungenbein zerbrochen ist; Gerichtsmediziner deuten ein gebrochenes Zungenbein heute als Beleg, dass das Opfer mit bloßen Händen erdrosselt wurde.
Neben diesem Hang zur Gewalt, der neben der gemeinschaftlichen Zusammenarbeit existierte, brachten die Wikinger aus Island und Norwegen auch eine streng in Schichten gegliederte, hierarchische Gesellschaftsstruktur mit nach Grönland: Wenige Häuptlinge herrschten über die Besitzer der kleineren Bauernhöfe, die Landarbeiter ohne eigenen Grundbesitz und (anfangs) die Sklaven. Außerdem war Grönland wie Island politisch nicht als Staat organisiert, sondern als ein lockeres Bündnis aus Fürstentümern mit Feudalherrschaft. Geld gab es ebenso wenig wie eine Marktwirtschaft. In den ersten ein oder zwei Jahrhunderten nach der Besiedlung verschwand die Sklaverei, und die Sklaven wurden zu freien Menschen. Die Zahl selbständiger Bauern nahm aber vermutlich im Lauf der Zeit ab, weil sie gezwungen wurden, zu Lehensnehmern der Häuptlinge zu werden, eine Entwicklung, die auch in Island gut belegt ist. Entsprechende Aufzeichnungen aus Grönland besitzen wir nicht, aber dort dürfte sich eine ähnliche Entwicklung abgespielt haben, denn die Kräfte, die sie vorantrieben, waren in Grönland sogar noch stärker ausgeprägt als in Island. Bei diesen Kräften handelte es sich um Klimaschwankungen, die arme Bauern in schlechten Jahren zu Schuldnern der reicheren Bauern machten, weil diese ihnen Heu und Tiere liehen und später ihre Forderungen geltend machen konnten. Anhaltspunkte für eine solche Hierarchie der Bauernhöfe ist noch heute an den Ruinen in Grönland zu erkennen: Im Vergleich zu ärmeren Anwesen hatten größere Höfe gute Weideflächen, größere Ställe für Kühe und Schafe mit Verschlägen für mehr Tiere, größere Häuser, größere Kirchen und eine Schmiede. Außerdem erkennt man die Hierarchie heute an dem größeren Anteil der Rinder- und Karibuknochen im Verhältnis zu den Knochen von Schafen und Robben in den Abfallhaufen der reicheren Höfe.
Die Parallelen zu Island reichen noch weiter: Auch das Grönland der Wikinger war eine konservative Gesellschaft, die sich Veränderungen widersetzte und im Vergleich zu der Wikingergesellschaft im heimatlichen Norwegen stärker an der alten Lebensweise festhielt. Die Machart von Werkzeugen und Schnitzereien veränderte sich über Jahrhunderte hinweg kaum. Die Fischerei gab man schon in den ersten Jahren der Siedlung auf, und diese Entscheidung wurde in den ganzen viereinhalb Jahrhunderten, in denen die Gesellschaft der Grönländer existierte, nicht revidiert. Sie lernten nicht von den Inuit, wie man Ringelrobben oder Wale jagt, obwohl das sogar bedeutete, dass sie auf reichlich vorhandene Nahrungsmittel verzichteten und deshalb hungern mussten. Letztlich dürfte hinter dieser konservativen Grundeinstellung der Grönländer die gleiche Ursache stehen, die meine isländischen Bekannten auch für die konservative Haltung ihrer eigenen Gesellschaft verantwortlich machen. Noch stärker als die Isländer befanden sich die Grönländer in einer äußerst schwierigen Umwelt. Ihnen gelang zwar die Entwicklung einer Wirtschaft, mit deren Hilfe sie über viele Generationen hinweg am Leben bleiben konnten, aber sie stellten fest, dass Abweichungen mit viel größerer Wahrscheinlichkeit katastrophale Folgen hatten, als dass sie Vorteile brachten. Das war ein stichhaltiger Grund, konservativ zu sein.
Eine typische Woche im Leben eines grönländischen Bischofs: Die Saga von Einar Sokkason
Als Sigurd Njalsson mit 14 Freunden auf der Jagd war, fand er ein gestrandetes Schiff voller wertvoller Fracht. Nicht weit davon, in einer Hütte, lagen die stinkenden Leichen der Besatzung und des Schiffskapitäns Arnbjorn. Sie waren verhungert. Sigurd brachte die Gebeine der Seeleute zur Bestattung in die Kathedrale von Gardar, und das Schiff selbst stiftete er dem Bischof Arnald für das Seelenheil der Verstorbenen. Was die Ladung anging, so beanspruchte er das Recht des Finders und teilte sie unter sich und seinen Freunden auf.
Als Arnbjorns Neffe Ozur davon erfuhr, kam er mit Angehörigen anderer Besatzungsmitglieder nach Gardar. Sie sagten dem Bischof, ihrer Ansicht nach hätten sie als Erben ein Anrecht auf die Ladung. Darauf erwiderte der Bischof, in grönländischen Gesetzen seien die Rechte des Finders festgelegt; Fracht und Schiff sollten jetzt der Kirche gehören, damit sollten die Messen für die Seelen der toten Eigentümer der Ladung bezahlt werden, und es sei schäbig von Ozur und seinen Freunden, dass sie jetzt Anspruch auf die Ladung erhoben. Daraufhin erhob Ozur Klage bei der Grönländischen Volksversammlung, an der Ozur mit allen seinen Leuten teilnahm, aber auch Bischof sein Freund Einar Sokkason und viele ihrer Leute. Das Gericht entschied gegen Ozur, aber dem gefiel das Urteil überhaupt nicht und er fühlte sich gedemütigt; also zerstörte er Sigurds Schiff (das jetzt dem Bischof Arnald gehörte), indem er seitlich auf ganzer Länge Planken herausschnitt. Darüber wurde der Bischof so wütend, dass er erklärte, Ozur habe sein Leben verwirkt.
Als der Bischof in der Kirche die Feiertagsmesse las, saß Ozur unter den Gläubigen und beschwerte sich beim Diener des Bischofs darüber, wie schlecht der Bischof ihn behandelt habe. Daraufhin nahm Einar einem anderen Gläubigen eine Axt aus der Hand und versetzte Ozur einen tödlichen Schlag. Der Bischof fragte Einar: »Einar, hast du Ozurs Tod verursacht?« - »Wohl wahr«, erwiderte Einar, »das habe ich.« Darauf antwortete der Bischof: »Solche Mordtaten sind nicht recht. Aber diese ist nicht ohne Rechtfertigung.« Der Bischof wollte Ozur keine kirchliche Bestattung gewähren, aber Einar warnte ihn, es stehe Ärger vor der Tür.
Tatsächlich erklärte Simon, ein Verwandter Ozurs und ein großer, kräftiger Mann, jetzt sei nicht die Zeit für große Reden. Er sammelte seine Freunde Kolbein Thorljotsson, Keitel Kalfsson und viele Männer aus der Westlichen Siedlung um sich. Ein alter Mann namens Sokki Thorisson bot an, zwischen Simon und Einar zu vermitteln. Als Entschädigung für die Ermordung Ozurs bot Einar einige Gegenstände an, darunter eine alte Rüstung, die Simon zurückwies, weil sie Schrott sei. Kolbein schlich sich hinter Einar und schlug ihm seine Axt zwischen die Schultern, gerade als Einar seine eigene Axt auf Simons Kopf niederfahren ließ. Als sowohl Einar als auch Simon im Sterben lagen, sagte Einar: »Nichts anderes hatte ich erwartet.« Einars Pflegebruder Thord stürzte auf Kolbein zu, aber der konnte ihn sofort töten, indem er ihm seine Axt in den Hals trieb.
Nun begannen Einars und Kolbeins Männer gegeneinander zu kämpfen. Ein Mann namens Steingrim sagte, sie sollten doch bitte aufhören zu streiten, aber beide Parteien waren so verrückt, dass sie Steingrim mit einem Schwert durchbohrten. Auf Kolbeins Seite waren am Ende außer Simon auch Krak, Thorir und Vighvat tot. Auf Einars Seite starben neben Einar auch Björn, Thorarin, Thord und Thorfinn, und auch Steingrim zählte zu Einars Partei. Viele Männer trugen schlimme Verletzungen davon. Bei einer Friedenskonferenz, die ein vernünftiger Bauer namens Hall organisierte, wurde Kolbeins Seite zur Zahlung einer Entschädigung verurteilt, weil Einars Partei mehr Männer verloren hatte. Dennoch war Einars Partei von dem Urteil tief enttäuscht. Kolbein stach nach Norwegen in See und nahm einen Eisbären mit, den er dem König Harald Gilli schenken wollte, aber dabei beklagte er sich immer noch, wie grausam er behandelt worden sei. König Harald hielt Kolbeins Geschichte für ein reines Lügengespinst und weigerte sich, für den Eisbären eine Prämie zu bezahlen. Also griff Kolbein den König an und verwundete ihn; dann segelte er nach Dänemark, aber unterwegs ertrank er.
Das ist das Ende der Geschichte.
Das letzte Adjektiv, das die Normannen in Grönland charakterisiert, lautet »eurozentrisch«. Die Grönländer bezogen aus Europa materielle Handelsgüter, aber noch wichtiger waren die ideellen Importe: ihre Identität als Christen und Europäer. Betrachten wir zunächst den materiellen Handel. Welche Waren wurden nach Grönland importiert, und mit welchen Exporten bezahlten die Grönländer dafür?
Die Reise von Grönland nach Norwegen dauerte mit einem mittelalterlichen Segelschiff mindestens eine Woche und war sehr gefährlich; die Aufzeichnungen sprechen häufig von Schiffbrüchen oder von Schiffen, die ablegten und für immer verschwanden. Deshalb kamen jedes Jahr höchstens einige Schiffe aus Europa nach Grönland, manchmal sogar nur alle paar Jahre eines. Außerdem hatten europäische Frachtschiffe zu jener Zeit nur eine geringe Ladekapazität. Stellt man begründete Schätzungen über die Häufigkeit der Besucher, die Ladefähigkeit der Schiffe und die Bevölkerung Grönlands an, so kann man berechnen, dass die Importe sich auf etwa drei Kilo Fracht je Kopf und Jahr beliefen - im Durchschnitt. Die meisten Grönländer erhielten viel weniger, denn bei einem großen Teil der eintreffenden Ladungen handelte es sich um Material für die Kirchen und um Luxusgüter für die Oberschicht. Bei den Importen konnte es sich deshalb nur um wertvolle Gegenstände handeln, die relativ wenig Platz einnahmen. Insbesondere musste Grönland sich mit der Nahrung selbst versorgen und konnte sich nicht auf den Import von Massenwaren wie Getreide und anderen Grundnahrungsmitteln verlassen.
Unsere Kenntnisse über die Importe nach Grönland stammen aus Listen in norwegischen Aufzeichnungen und aus Gegenständen europäischer Herkunft, die man an archäologischen Stätten in Grönland gefunden hat. Insbesondere handelte es sich dabei um dreierlei Güter: Eisen, das die Grönländer nur unter großen Schwierigkeiten selbst herstellen konnten, gutes Holz für Bauwerke und Möbel, das ebenfalls knapp war, und Teer als Schmiermittel sowie zur Konservierung von Holz. Sofern die Importwaren nicht der Wirtschaft dienten, waren sie vielfach für die Kirchen bestimmt: Kirchenglocken, farbige Glasfenster, Kerzenleuchter aus Bronze, Messwein, Leinen, Seide, Silber sowie Gewänder und Schmuck für die Geistlichen. Unter den weltlichen Luxusgütern, die man an archäologischen Stätten bei den Bauernhöfen gefunden hat, waren Zinn- und Keramikgefäße, Glasperlen und Knöpfe. Als Luxuslebensmittel importierte man in kleinen Mengen wahrscheinlich Salz als Konservierungsmittel sowie Honig, der zu Met vergoren wurde.
Die gleichen Beschränkungen des Schiffsladeraumes wirkten sich natürlich auch auf die Gegenleistungen für diese Importe aus: Anders als das mittelalterliche Island und das heutige Grönland konnten die Bewohner keine großen Mengen von Fisch exportieren, selbst wenn sie diesem positiv gegenübergestanden hätten. Auch bei den Exportgütern musste es sich um Gegenstände mit geringem Volumen und hohem Wert handeln. Das waren unter anderem die Häute von Ziegen, Rindern und Robben; diese konnte man in Europa zwar auch aus anderen Ländern beziehen, aber sie wurden im Mittelalter auch in großen Mengen zur Herstellung von Lederkleidung, Schuhen und Gürteln gebraucht. Wie Island, so exportierte auch Grönland Wollkleidung, die wegen ihrer Wasser abstoßenden Eigenschaften geschätzt war. Aber als kostbarste grönländische Exportwaren werden in norwegischen Aufzeichnungen fünf Produkte von arktischen Tieren erwähnt, die im größten Teil Europas selten waren oder völlig fehlten: Elfenbein aus den Stoßzähnen von Wahlrossen, Walrossfelle (die man schätzte, weil sie die stärksten Schiffstaue lieferten), lebende Eisbären oder ihre Felle als spektakuläre Statussymbole, die Stoßzähne von Narwalen (einer kleinen Walart), die man in Europa damals für die Hörner von Einhörnern hielt, und lebende Gerfalken (die größte Falkenart der Welt). Nachdem Moslems die Kontrolle über den Mittelmeerraum übernommen hatten und der Nachschub an Elefantenelfenbein ins christliche Europa praktisch zum Erliegen gekommen war, blieben Walrossstoßzähne das einzige Elfenbein, das für Schnitzereien noch zur Verfügung stand. Welchen Wert man den Gerfalken aus Grönland beimaß, wird an einem Beispiel deutlich: Zwölf solcher Vögel reichten 1396 aus, um den Sohn des Herzogs von Burgund freizukaufen, nachdem dieser von den Sarazenen gefangen genommen worden war.
Walrosse und Eisbären kamen praktisch ausschließlich in geographischen Breiten weit nördlich der beiden Wikingersiedlungen vor. Das Gebiet, das als Nordrseta (nördliches Jagdrevier) bezeichnet wurde, begann mehrere hundert Kilometer von der Westlichen Siedlung entfernt und erstreckte sich an der Westküste Grönlands nach Norden. Deshalb schickten die Grönländer jeden Sommer kleine Gruppen von Jägern in offenen Booten mit sechs Paar Rudern und Segeln auf die Reise. Diese konnten pro Tag etwa 30 Kilometer zurücklegen und bis zu eineinhalb Tonnen Fracht mitnehmen. Die Jäger machten sich im Juni auf den Weg, nachdem die Jagd auf Sattelrobben weitgehend vorüber war. Von der Westlichen Siedlung brauchten sie zwei und von der Östlichen vier Wochen, um die Nordrseta zu erreichen, und Ende August kehrten sie wieder zurück. Natürlich konnten sie in ihren kleinen Booten nicht Hunderte von erlegten Wahlrossen und Eisbären mitnehmen, die jeweils eine halbe bis eine Tonne wiegen. Stattdessen wurden die Tiere an Ort und Stelle zerlegt, und nur die Walrosskiefer mit den Stoßzähnen sowie die Bärenfelle mit den Pranken (sowie hin und wieder ein lebender, gefangener Bär) wurden nach Hause gebracht, wo man während des langen Winters nach Belieben die Stoßzähne entnehmen und die Felle reinigen konnte. Außerdem brachten sie das Baculum der Walrossmännchen mit, einen stabförmigen, etwa 30 Zentimeter langen Knochen, der bei diesen Tieren den Kern des Penis bildet und sich mit seiner Größe und Form (aber, so hat man den Verdacht, auch wegen seines Unterhaltungswertes) gut als Axtgriff oder Haken eignet.
Die Jagd in der Nordrseta war in vielerlei Hinsicht gefährlich und aufwendig. Zunächst einmal muss es ein großes Risiko gewesen sein, Walrosse und Eisbären ohne Feuerwaffen zu jagen. Man braucht sich nur vorzustellen, wie Menschen mit Lanze, Speer, Pfeil und Bogen oder Knüppeln darangehen, ein riesiges, wütendes Walross oder einen Bären zu töten, bevor dieser den Jäger umbringt. Oder stellen wir uns vor, wir müssten mehrere Wochen in einem kleinen Ruderboot mit einem lebenden, gefesselten Eisbären oder seinen Jungen verbringen. Schon ohne einen lebenden Bären als Reisegefährten war die Schiffsfahrt entlang der kalten, stürmischen Westküste Grönlands für die Jäger mit der Gefahr verbunden, Schiffbruch zu erleiden und ums Leben zu kommen oder mehrere Wochen festzusitzen. Neben solchen Gefahren war die Reise mit einem gewaltigen Aufwand für Boote, Arbeitskraft und Arbeitszeit verbunden, drei Ressourcen, die sämtlich knapp waren. Da es in Grönland so wenig Holz gab, besaßen nur die wenigsten Bewohner ein Boot, und wenn man diese kostbaren Verkehrsmittel zur Walrossjagd verwendete, standen sie für andere Zwecke nicht zur Verfügung, beispielsweise für Reisen nach Labrador zur Beschaffung von Bauholz. Die Jagd fand im Sommer statt, wenn die Männer auch für die Heuernte gebraucht wurden, damit sie das Vieh im Winter füttern konnten. Andererseits erhielten die Grönländer als materiellen Gegenwert für die Walrossstoßzähne und Bärenfelle aus Europa vorwiegend Luxusgüter für Kirchen und Häuptlinge. Aus heutiger Sicht können wir uns des Gedankens nicht erwehren, dass die Grönländer Boote und Arbeitszeit sinnvoller hätten nutzen können. Aus ihrer Sicht jedoch verschaffte die Jagd den einzelnen Jägern offenbar großes Ansehen, und gleichzeitig hielt sie für die ganze Gesellschaft den psychologisch unentbehrlichen Kontakt nach Europa aufrecht.
Der grönländische Handel mit Europa lief vorwiegend über die norwegischen Häfen Bergen und Trondheim. Anfangs wurde die Fracht in seetüchtigen Schiffen transportiert, die Isländern und den Grönländern selbst gehörten, aber als diese Schiffe älter wurden, konnte man sie wegen des Holzmangels auf den Inseln nicht ersetzen, sodass man den Handel norwegischen Schiffen überlassen musste. Mitte des 13. Jahrhunderts kam häufig mehrere Jahre lang kein einziges Schiff nach Grönland. Im Jahr 1257 war der norwegische König Haakon Haakonsson bestrebt, seine Macht über alle Gesellschaften auf den Nordatlantikinseln zu festigen, und im Rahmen dieser Bemühungen schickte er drei Kommissare nach Grönland, die die bis dahin unabhängigen Inselbewohner veranlassen sollten, seine Herrschaft anzuerkennen und Tribut zu zahlen. Das Übereinkommen zwischen beiden Parteien ist nicht in allen Einzelheiten erhalten, manche Schriftstücke lassen aber darauf schließen, dass Grönland im Jahr 1261 die norwegische Herrschaft anerkannte, und im Gegenzug versprach der König, jedes Jahr zwei Schiffe auf die Reise zu schicken; ganz ähnlich sah ein gleichzeitig geschlossener Vertrag mit Island aus, den wir genau kennen und der sechs Schiffe pro Jahr vorsah. Von nun an wurde der Handel mit Grönland zu einem Monopol der norwegischen Krone. Aber Grönland blieb nur locker an Norwegen gebunden, und der Herrschaftsanspruch war wegen der großen Entfernung nur schwer durchzusetzen. Mit Sicherheit wissen wir nur, dass im 14. Jahrhundert mehrmals königliche Agenten in Grönland ansässig waren.
Mindestens ebenso wichtig wie die europäischen Warenexporte nach Grönland waren die psychologischen Exporte einer christlichen und europäischen Identität. Diese Identität war wahrscheinlich der Grund, warum die Grönländer sich - jedenfalls aus heutiger Sicht mit dem Vorteil des Rückblicks - schlecht angepasst verhielten, was sie letztlich ihr Leben kostete, sie zuvor jedoch viele Jahrhunderte lang in die Lage versetzte, unter schwierigeren Bedingungen als alle anderen mittelalterlichen Europäer eine funktionierende Gesellschaft aufrechtzuerhalten.
Grönland bekehrte sich um das Jahr 1000 zum Christentum, ungefähr zur gleichen Zeit wie Island und die anderen Wikingerkolonien im Atlantikraum sowie Norwegen selbst. Als Kirchen gab es auf der Insel mehr als ein Jahrhundert lang nur kleine Bauwerke, die man aus Grassoden auf dem Land von Bauern - vorwiegend der größten Höfe - errichtete. Ganz ähnlich wie in Island handelte es sich um so genannte Eigentümerkirchen, die von dem Bauern und Landbesitzer errichtet wurden; dieser blieb der Eigentümer und hatte Anspruch auf einen Teil der Abgaben, die von den örtlichen Kirchenmitgliedern entrichtet wurden.
Zunächst gab es in Grönland noch keinen ortsansässigen Bischof, aber ein solcher war notwendig, damit Firmungen vorgenommen werden konnten und damit eine Kirche als geweiht galt. Deshalb schickten die Grönländer um das Jahr 1118 den gleichen Einar Sokkason, der uns schon als Sagenheld begegnet ist und hinterrücks durch einen Axthieb getötet wurde, nach Norwegen: Er sollte den König veranlassen, der Kolonie einen Bischof zuzuteilen. Als Anreiz brachte Einar dem König einen großen Vorrat an Elfenbein, Wahlrosszähnen und - das Beste von allem - einen lebenden Eisbären mit. Das Geschenk hatte die gewünschte Wirkung. Der König überzeugte nun seinerseits den Geistlichen Arnald, den wir in Einar Sokkasons Saga kennen gelernt haben, als erster ständiger Bischof nach Grönland zu gehen; ihm folgten im Lauf der weiteren Jahrhunderte mindestens neun andere. Alle waren in Europa geboren und ausgebildet, und nach Grönland kamen sie erst durch ihre Ernennung zum Bischof. Wie nicht anders zu erwarten, diente Europa ihnen als Vorbild: Sie aßen lieber Rind- als Robbenfleisch und verwendeten die Ressourcen der grönländischen Gesellschaft für die Jagd in der Nordrseta, um Wein und Kleidung für sich selbst sowie farbige Glasfenster für ihre Kirchen kaufen zu können.
Auf Arnalds Ernennung folgte eine große Welle von Kirchenneubauten nach europäischen Vorbildern. Diese setzten sich ungefähr bis 1300 fort, als die hübsche Kirche von Hvalsey als eine der letzten errichtet wurde. Am Ende gab es in Grönland als kirchliche Einrichtungen eine Kathedrale, ungefähr 13 große Gemeindekirchen, viele kleinere Kirchen und sogar jeweils ein Kloster für Mönche und Nonnen. Bei den meisten Kirchen wurde der untere Teil der Mauern aus Stein und der obere aus Gras errichtet, das Bauwerk von Hvalsey und mindestens drei weitere besaßen jedoch ausschließlich steinerne Wände. Die Ausmaße dieser großen Kirchen standen in keinem Verhältnis mehr zur Größe der winzigen Gesellschaft, die sie errichtete und in Stand hielt.
Die St.-Nikolaus-Kathedrale von Gardar zum Beispiel ist mit einer Länge von 32 Metern und einer Breite von 16 Metern größer als die beiden Kathedralen in Island, das zehn Mal so viele Einwohner hat wie Grönland. Das Gewicht der größten Steinblöcke im unteren Teil der Mauern, die man sorgfältig in die passende Form gebracht und über mindestens eineinhalb Kilometer aus Sandsteinbrüchen herantransportiert hatte, schätzte ich auf etwa drei Tonnen. Noch größer - etwa zehn Tonnen schwer - war ein Markierungsstein vor dem Bischofssitz. Weiterhin gab es einen 25 Meter hohen Glockenturm und die größte Versammlungshalle Grönlands, die mit einer Grundfläche von 130 Quadratmetern drei Viertel der Halle des Erzbischofs von Trondheim erreichte. Ähnlich üppige Ausmaße hatten die beiden Kuhställe der Kathedrale: Der eine war mit einer Länge von über 60 Metern der größte in Grönland und hatte einen steinernen Türsturz, der rund vier Tonnen wog. Als prächtigen Gruß für Besucher war das Gelände der Kathedrale mit ungefähr 25 vollständigen Walrossschädeln und fünf Schädeln von Narwalen geschmückt, vermutlich den Einzigen, die an einer archäologischen Stätte von Normannisch-Grönland bis heute erhalten geblieben sind. Ansonsten fanden die Archäologen nur kleine Elfenbeinsplitter, denn das Material war so wertvoll, dass es fast ausnahmslos nach Europa exportiert wurde.
Die Kathedrale von Gardar und die anderen grönländischen Kirchen müssen entsetzlich große Mengen des knappen Holzes als Stützen für Wände und Dächer verschlungen haben. Auch der Import kirchlicher Utensilien wie Bronzeglocken und Messwein muss für die Grönländer teuer gewesen sein, denn sie wurden letztlich mit dem Schweiß und Blut der Jäger in der Nordrseta bezahlt und standen, was die begrenzte Frachtkapazität der eintreffenden Schiffe anging, in Konkurrenz zu dem lebenswichtigen Eisen. Als immer wiederkehrende Aufwendungen für ihre Kirchen zahlten die Grönländer eine jährliche Abgabe an Rom und zusätzliche Kreuzzugssteuern, die allen Christen auferlegt wurden. Diese Abgaben wurden mit den grönländischen Exporten nach Bergen gebracht und dort in Silber umgetauscht. Eine Quittung für eine solche Schiffsladung, die Sechs-Jahres-Kreuzzugssteuer der Jahre 1274 bis 1280, ist erhalten geblieben: Sie lautet auf 666 Kilo Elfenbein aus den Stoßzähnen von 191 Wahlrosszähnen, die der norwegische Erzbischof in zwölf Kilo reines Silber umtauschen konnte. Die Höhe dieser Abgaben und der Umfang der Bauprogramme zeigt, welche Autorität die Kirche in Grönland genoss.
Am Ende gehörten die besten Landstücke Grönlands, darunter auch ungefähr ein Drittel der Östlichen Siedlung, zu einem großen Teil der Kirche. Die kirchlichen Abgaben und möglicherweise auch andere Exporte nach Europa liefen über Gardar; dort kann man noch heute die Ruinen eines großen Lagerschuppens sehen, der unmittelbar an der Südostecke der Kathedrale stand. Nachdem Gardar also über das größte Lagerhaus Grönlands, die bei weitem größte Rinderherde und das fruchtbarste Land verfügte, war jeder, der dieses Anwesen beherrschte, auch der Herrscher Grönlands. Unklar ist bis heute, ob Gardar und die anderen Kirchengüter der Kirche selbst gehörten oder aber den Bauern, auf deren Land die Kirchen standen. Aber ob Macht und Eigentum beim Bischof oder bei den Häuptlingen lagen, spielt für die wichtigste Erkenntnis keine Rolle: Grönland war eine hierarchische Gesellschaft, ihre großen Wohlstandsunterschiede wurden durch die Kirche gerechtfertigt, und in die Kirchen wurde unverhältnismäßig viel investiert. Wieder müssen wir uns aus heutiger Sicht fragen, ob es den Grönländern nicht besser ergangen wäre, wenn sie weniger Bronzeglocken und dafür mehr Eisen importiert hätten, um Werkzeuge oder Waffen zur Verteidigung gegen die Inuit herzustellen, oder wenn sie Waren eingeführt hätten, die sie in schwierigen Zeiten bei den Inuit hätten eintauschen können. Aber auch diese Fragen stellen wir aus der vorteilhaften Situation des Rückblicks heraus und ohne Rücksicht auf das kulturelle Erbe, das die Grönländer zu ihren Entscheidungen veranlasste.
Neben dieser spezifisch christlichen Identität behielten die Grönländer auch in vielen anderen Aspekten ihr europäisches Selbstbild bei, was sich unter anderem an dem Import europäischer Bronzekerzenständer, Glasknöpfe und Goldringe zeigt. In den Jahrhunderten, in denen ihre Kolonie existierte, folgten die Grönländer in allen Einzelheiten den wechselnden europäischen Sitten und übernahmen sie. Ein gut dokumentiertes Beispiel sind die Bestattungsgebräuche, die man durch Ausgrabungen auf Friedhöfen in Skandinavien und Grönland aufklären konnte. Säuglinge und tot geborene Kinder wurden im mittelalterlichen Norwegen am Ostgiebel einer Kirche bestattet; in Grönland machte man es genauso. Verstorbene bestattete man in Norwegen in Särgen, wobei den Frauen der südliche Teil des Friedhofes und den Männern der nördliche Teil vorbehalten war; später verzichtete man in Norwegen auf die Särge, wickelte die Leichen nur in ein Stück Stoff oder ein Totenhemd, und bestattete Männer und Frauen nebeneinander. Die gleichen Veränderungen wurden auch in Grönland nachvollzogen. Auf dem europäischen Kontinent legte man die Leichen während des gesamten Mittelalters auf den Rücken, wobei der Kopf nach Westen und die Füße nach Osten wiesen (sodass der Tote nach Osten »blickte«), aber die Haltung der Arme änderte sich: Bis 1250 legte man sie ausgestreckt neben den Körper, um 1250 bog man sie leicht über das Becken, später wurden sie noch stärker gebogen, sodass sie auf dem Bauch lagen, und im Spätmittelalter schließlich wurden sie über der Brust gefaltet. Auch diesen Wandel der Armhaltung kann man auf grönländischen Friedhöfen beobachten.
Auf ganz ähnliche Weise folgte man auch beim Kirchenbau in Grönland den europäischen Vorbildern und ihren Wandlungen. Jeder Tourist, der europäische Kathedralen mit ihrem langen Hauptschiff, dem nach Westen gewandten Haupteingang, dem Altarraum, nördlichem und südlichem Querhaus kennt, findet alle diese Merkmale auch in den steinernen Ruinen der Kathedrale von Gardar wieder. Die Kirche von Hvalsey ähnelt dem Bauwerk im norwegischen Eidfjord so stark, dass die Grönländer sich entweder denselben Architekten auf die Insel geholt haben müssen oder die Baupläne kopierten. Zwischen 1200 und 1225 gaben norwegische Baumeister das bis dahin benutzte Längenmaß (den so genannten internationalen römischen Fuß) auf und übernahmen den kürzeren griechischen Fuß: in Grönland tat man es ihnen sofort nach.
Die Nachahmung europäischer Vorbilder erstreckte sich bis auf häusliche Gegenstände wie Kämme und Kleidung.
Bis ungefähr 1200 waren norwegische Kämme einseitig: Die Zinken standen nur auf einer Seite des Schaftes. Danach kamen solche Kämme aus der Mode, und an ihre Stelle traten doppelseitige Modelle, bei denen zwei Zinkenreihen in entgegengesetzte Richtungen zeigten; auch diesen Wechsel in der Machart der Kämme vollzogen die Grönländer nach. (Das erinnert an eine Bemerkung in dem Buch Walden von Henri Thoreau über Menschen, die sklavisch den Modeschöpfern in einem weit entfernten Land folgen: »Der Oberaffe in Paris setzt eine Schirmmütze auf, und alle Affen in Amerika machen es ihm nach.«) Auf dem Friedhof von Herjolfsnes hat man Leichen ausgegraben, die in den letzten Jahrzehnten der grönländischen Kolonie im Permafrost bestattet wurden; sie sind von ausgezeichnet erhaltenen Tüchern umhüllt, an denen man deutlich erkennen kann, dass die Kleidungsmode in Grönland genau der in Europa folgte, obwohl sie sich für das kalte Klima weit weniger eignete als der einteilige Parka der Inuit mit seinen eng anliegenden Ärmeln und der Kapuze. Die Kleidung der letzten grönländischen Wikinger bestand bei den Frauen aus einem langen, tief ausgeschnittenen Umhang mit enger Taille und bei den Männern aus dem houpelande, einem auffälligen Mantel, der als lockerer Umhang von einem Gürtel in der Körpermitte zusammengehalten wurde, während der Wind durch die weiten Ärmeln pfeifen konnte; außerdem trugen die Männer eine vorn geknöpfte Jacke und einen hohen Hut.
Diese Nachahmung europäischer Moden zeigt ganz deutlich, dass die Grönländer sich stark an ihrem Heimatkontinent orientierten. Sie sagen unmissverständlich: »Wir sind Europäer, wir sind Christen, und Gott möge verhüten, dass irgendjemand uns mit den Inuit verwechselt.« Genau wie Australien, das ich seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts besuche und das damals britischer war als Großbritannien selbst, so blieb auch Europas abgelegenster Außenposten in Grönland emotional eng an den Kontinent gebunden. Das wäre harmlos gewesen, hätte die Bindung sich nur in zweiseitigen Kämmen und der Haltung der Arme über einer Leiche manifestiert. Gefährlicher wird die Haltung »wir sind Europäer«, wenn man im grönländischen Klima halsstarrig an Kühen festhält, Arbeitskräfte von der sommerlichen Heuernte abzieht und zum Jagen in die Nordrseta schickt, die Übernahme nützlicher Aspekte der Inuit-Technologie ablehnt und dann verhungert. Aus der Sicht unserer modernen, säkularen Gesellschaft können wir uns kaum vorstellen, in welchem Dilemma die Grönländer steckten. Für sie, denen das gesellschaftliche Überleben ebenso wichtig war wie die biologische Selbsterhaltung, stellte sich die Frage überhaupt nicht, ob sie weniger in Kirchen investieren und die Inuit nachahmen oder mit ihnen Ehen schließen sollten, denn das hätte ihnen eine Ewigkeit in der Hölle eingebracht, nur damit sie auf Erden einen weiteren Winter überlebten. Das Festhalten der Grönländer an ihrem Selbstbild als europäische Christen dürfte ein wichtiger Faktor für ihre zuvor erwähnte konservative Haltung gewesen sein: Sie waren europäischer als die Europäer selbst, und diese kulturelle Barriere verhinderte die drastischen Veränderungen in der Lebensweise, mit denen sie hätten überleben können.