3 Caleb

Als wäre es nicht Tortur genug, dass mein Dad mich die ganze Fahrt von St. Charles bis Paradise anstarrt, ringt meine Mom auch noch nonstop die Hände, seit ich heute Nachmittag aus dem DOC entlassen wurde. Ich glaube, sie hat nicht einmal in meine Richtung geguckt.

Was zum Teufel soll ich jetzt sagen? Hör auf, so nervös zu sein, Ma. Ja, ich bin überzeugt, das würde total gut ankommen. Ihr Sohn ist ein verurteilter Straftäter. Ich wünschte bloß, sie würde aufhören, mich ununterbrochen daran zu erinnern.

Okay, es wird also etwas Zeit brauchen. Die hingebungsvolle Mutterrolle war sowieso nie ihre Stärke.

Als wir in die Masey Avenue einbiegen, liegt der Paradise Park vor uns. Dort auf dem Spielplatz habe ich mir mit fünf zwei Schneidezähne ausgeschlagen und mich mit neun auf dem Basketballplatz das erste Mal geprügelt. Das waren die guten alten Zeiten. Ich kann nicht fassen, dass ich siebzehn bin und den guten alten Zeiten nachtrauere.

Einen Block weiter erreichen wir das vertraute zweistöckige Backsteinhaus mit den vier weißen Säulen, die rechts und links die Haustür flankieren. Ich steige aus dem Wagen und atme tief ein.

Ich bin zu Hause.

»Also …«, sagt Dad, als er die Tür aufschließt. »Willkommen im Paradies.«

Ich nicke, anstatt über die Begrüßung zu lachen, mit der die Besucher der Stadt üblicherweise empfangen werden. Ich betrete zögernd den Flur. Hier hat sich im letzten Jahr nichts verändert – das sehe ich auf einen Blick.

Merkwürdigerweise fühlt es sich nicht wie Zuhause an.

Es riecht jedoch vertraut. Nach Apfelkuchen. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, seit ich diesen süßen, würzigen Duft zuletzt gerochen habe.

»Ich, äh, geh dann mal in mein Zimmer«, sage ich zu ihnen, aber es hört sich an, als bitte ich um Erlaubnis. Ich habe keine Ahnung, wieso. Es war früher mein Zimmer, es ist nach wie vor mein Zimmer. Also warum verhalte ich mich dann, als wäre dieser Ort hier nur ein Boxenstopp für mich?

Ich steige die vertraute Treppe hoch, aber ein Anfall von Klaustrophobie packt mich und ich beginne zu schwitzen. Ich wage mich weiter die Treppe hoch und lasse den Blick über den Flur schweifen. Er bleibt an einer schwarzen Gestalt hängen, die im Türrahmen vom Zimmer meiner Schwester lehnt.

Moment mal.

Diese schwarze Gestalt ist meine Zwillingsschwester Leah. Es ist nicht bloß ein Trugbild meiner Schwester, sie ist real. Und sie trägt Schwarz von Kopf bis Fuß.

Schwarzes Haar, schwarzes Make-up. Verflucht, sie hat sogar ihre Fingernägel schwarz angemalt. Goth bis ins Mark. Ein Schauder rieselt meinen Rücken hinab. Es ist schwer zu glauben, dass das meine Schwester sein soll. Sie sieht aus wie eine Leiche.

Bevor ich Luft holen kann, wirft Leah sich in meine Arme. Dann dringen diese gewaltigen Schluchzer aus ihrem Mund und ihrer Nase und ich muss an meinen Zellengenossen denken.

Selbst als Richter Farkus mich angewidert ansah und mir sagte, ich würde für meine grobe Fahrlässigkeit und weil ich betrunken Auto gefahren sei, fast ein Jahr weggesperrt werden, habe ich nicht einen Mucks von mir gegeben. Mann, als sie mich zwangen, meine Kleider auszuziehen, und sämtliche Körperöffnungen durchsucht haben, war das unfassbar erniedrigend. Und als Dino Alvarez, ein Gangmitglied von der Southside von Chicago, am meinem zweiten Tag im DOC während des Freigangs zu mir kam und mich in die Mangel nahm, hätte ich mir beinah in die Hosen gemacht. Aber in der ganzen Zeit habe ich nicht einmal geweint.

Ich tätschle den Kopf meiner Schwester, da ich nicht weiß, was ich sonst machen soll. Ich hatte im vergangen Jahr kaum Körperkontakt und habe mich während der dreihundert Tage und Nächte in meiner Zelle danach verzehrt. Aber jetzt, wo ich meine eigene Schwester im Arm halte, habe ich das Gefühl, mir wird die Luft abgeschnürt.

»Ich brauche ein bisschen Ruhe«, sage ich, dann schiebe ich sie sanft von mir weg. Was ich wirklich brauche, ist eine Pause von diesem alten/neuen Bollwerk Familie in meinem Leben.

Als ich in mein Zimmer gehe, knarzen die dunklen Holzdielen unter meinen Füßen. Das Geräusch hallt in meinen Ohren nach.

Es ist das Zimmer eines Kindes, denke ich bei mir. Sporttrophäen und mein Anakin Skywalker Lichtschwert sind noch immer auf dem Bücherregal, wo ich sie zurückgelassen habe, und über meinem Bett ist mit Nägeln ein Wimpel der Paradise-Highschool befestigt. Verdammt, sogar das Foto von Kendra in ihrer Cheerleaderuniform hängt noch an meinem Kopfende, als wären wir nach wie vor ein Paar.

Ich habe sämtliche Verbindungen zu ihr gekappt, als ich verhaftet wurde. Kendra ist ein verwöhntes Töchterchen aus gutem Hause, eine Diva, und sie wäre angewidert von den Leuten, mit denen ich das letzte Jahr verbracht habe. Ich sehe bildlich vor mir, wie sie Dino Alvarez’ Freundin während der allwöchentlichen Besuchszeiten angeschnauzt hätte. Das letzte, was ich im DOC brauchte, waren Mitinhaftierte, die mich verprügelten, weil ich eine Freundin habe, die Designerklamotten trägt und eine Zweihundert-Dollar-Tasche mit sich rumschleppt.

Für mich bestand der Besuchstag aus Mom, die nervös die Hände knetete und mich anstarrte, als sei ich der Sohn von jemand anders, und Dad, der über das Wetter und nichts Besonderes faselte, nur um das Schweigen zu überbrücken.

Ich gehe zu meinem Kleiderschrank und befingere die neuen Sachen, die Mom mir gekauft haben muss. Was hat sie sich nur dabei gedacht? Meine TShirts und Sweatshirts sind alle verschwunden. An ihrer Stelle hängen nerdige, gebügelte Button-down-Hemden in einer Reihe – fast wie Soldaten beim Appell. Auf den Regalbrettern, gefaltet wie bei Gap, liegen gebügelte Hosen in verschiedenen Farbabstufungen.

Ich nehme eine und halte sie mir an. Sie ist viel zu klein. Wann wäre ein guter Zeitpunkt, ihr zu eröffnen, dass ich nicht mehr der dürre Junge bin, der früher hier gelebt hat? Ich habe im vergangenen Jahr jeden Tag Sport gemacht, um Dampf abzulassen und mir Typen wie Alvarez vom Leib zu halten. Muskeln wiegen nicht bloß mehr, sie verändern deine körperliche Struktur vollkommen.

Ich setze mich an meinen Schreibtisch, gucke aus dem Fenster und riskiere einen Blick auf das Haus der Armstrongs. Mein Fenster liegt Maggies Zimmer genau gegenüber.

Maggie Armstrong.

Das Mädchen, das ich laut Gerichtsurteil zum Krüppel gemacht habe.

Okay, ich weiß, dass es unfair ist. Aber es ist schwer, das Bedürfnis zu unterdrücken, ihr die Schuld zu geben. Wenn sie nicht wäre, hätte man mich nicht eingesperrt. Ich habe im letzten Jahr öfter über Maggie und die Ereignisse, die zu dem Unfall geführt haben, nachgedacht, als ich wahrhaben möchte.

»Caleb, bist du da drin?«, fragt Dad und klopft.

Es ist einfach großartig, wenn Leute anklopfen. Ich habe seit einem Jahr kein Klopfen mehr gehört. Ich mache die Tür auf und bedeute ihm hereinzukommen.

Mein Dad betritt das Zimmer und ich schließe die Tür hinter ihm. Er hat noch immer eine Matte aus vollem dunklem Haar und einen sorgfältig gestutzten Schnurrbart. Er ist okay als Dad, aber ein totaler Waschlappen, wenn es darum geht, sich gegen Mom zu behaupten.

»Deine Mutter hat ein paar ihrer Freunde zum Essen eingeladen.« Er zögert, dann fügt er hinzu: »Für eine, äh, Willkommensparty.«

In meinem Nacken beginnt sich ein Knubbel zu bilden. Ich massiere die Stelle. Eine Willkommensparty für einen Sohn, der gerade aus dem Knast entlassen wurde? Unfassbar. »Blas sie ab«, sage ich.

Die Adern an seinem Hals werden dicker und nehmen ein seltsames Violett an. »Hör zu, es ist das, was deine Mutter will. Sie hat dieses Jahr eine Menge durchgemacht, während du im Gefängnis warst. Tu einfach, was sie will, und zieh eine Show für ihre Freunde ab. Es wird für alle viel leichter sein, wenn du mitspielst.«

»Eine Show?«

»Ja, pflastere dir ein Lächeln aufs Gesicht und unterhalte die Frauen ihres kleinen Clubs. Das mache ich ständig«, sagt er. Dann verlässt er mein Zimmer so schnell, wie er es betreten hat.

Ich brauche ein paar Sekunden, bis bei mir angekommen ist, was er gerade gesagt hat. Lächeln? Show? Ich komme mir vor, als hätte man mich zu einem Hollywoodset gekarrt. Aber das hier ist kein Film, es ist mein Leben.

Ich nehme das Lichtschwert in die Hand und schalte es an. Lasergeräusche erfüllen den Raum, als ich den Säbel wie ein großer Jediritter schwinge. Gott, als ich noch ein Kind war, habe ich Stunden damit verbracht, mich mit eingebildeten Dämonen zu duellieren.

Jetzt habe ich neue Dämonen, die es zu bekämpfen gilt.

Solche, die ich nicht einfach durch das Schwingen eines Spielzeugs verschwinden lassen kann.