4 Maggie

»Maggie, guck mal, was ich dir gekauft habe.« Meine Mom steht am Abend an meiner Zimmertür und hält ein Paar Hosen aus rosa Velours und eine dazu passende Jacke mit Reißverschluss hoch. »Die Frau im Laden hat gesagt, das würden die jungen Mädchen grad tragen. Es ist sehr, sehr hip.«

»Niemand sagt mehr hip.«

»Angesagt?«

Ich nehme ihr die Sachen ab. Es ist ein Set von Juicy Couture, total weich und kein Vergleich zu meinen Klamotten von Wal-Mart. »Mom, das muss dich über hundert Dollar gekostet haben. Es ist total angesagt, aber wir können es uns nicht leisten.«

»Mach dir keine Gedanken wegen des Geldes«, sagt sie und wischt meine Bedenken mit einer Handbewegung beiseite. »Ich habe ein paar Überstunden im Diner gemacht und deshalb diesen Monat etwas Extra. Außerdem geht am Montag die Schule los und ich möchte, dass du etwas Hippes, Angesagtes oder was auch immer hast. Probier es mal an.« Mom vollführt ein aufgeregtes, kleines Tänzchen, während sie wartet.

Ich hatte gehofft, dass sie zur Arbeit gehen würde, damit ich Sabrina anrufen und ihr sagen könnte, dass ich nicht mit auf die Party komme. »Mom, es ist schon halb acht. Meinst du nicht, Mr Reynolds wird sauer, wenn du eine halbe Stunde zu spät kommst?«

Sie lächelt, ihre Begeisterung hat durch meine Frage keinen Dämpfer erlitten. »Süße, ich bleibe bei dir, bis Sabrina dich abholt.«

Mein Magen fällt bis in die Knie. »Warum?«

»Weil es mich so glücklich machen wird mitanzusehen, wie du endlich wieder losziehst und Spaß hast.«

Ich spüre den Druck, der sich in mir aufbaut und mir den Atem raubt.

Dann ziehe ich das Veloursoutfit an und Mom strahlt wie tausend Watt, sobald sie einen Blick auf mich geworfen hat. »Oh, Liebling, du siehst wunderschön aus. Rosa passt so gut zu deinem olivefarbenen Teint.«

Ich muss zugeben, dass das Outfit wunderschön ist. Aber ich bin es nicht. Auch wenn die Hose meine abartigen Narben verdeckt, kann kein Geld der Welt ein Outfit herbeizaubern, welches das unbeholfene Hinken in meinem Gang verbirgt. Nachdem Mom mir dabei zugesehen hat, wie ich mein glanzloses, langweiliges braunes Haar gebürstet habe, finde ich mich an der Haustür wieder, wo ich auf Sabrina warte.

»Ich habe dir ein paar Nummern aufgeschrieben, für den Fall, dass etwas sein sollte.« Sie reicht mir ihr Handy und einen Zettel. »Die erste auf der Liste ist die vom Diner, die zweite die von Tante Pam, die dritte ist Dr. Gerrards Notrufnummer und die vierte 911.«

Bilder von Spanien schießen mir durch den Kopf. Sie behandelt mich, als wäre mein Kopf ebenso kaputt wie mein Knie. »Komm schon, Mom. 911? Die Nummer ist seit dem Kindergarten in mein Hirn gebrannt.«

»Menschen vergessen andauernd Nummern, wenn sie unter Stress stehen, Maggie.«

Ich öffne meine Handtasche von Wal-Mart und schiebe den Zettel hinein. »Es wird alles gut gehen«, versichere ich ihr, obwohl ich mir da selbst nicht so sicher bin.

»Ich weiß. Ich möchte nur, dass du glücklich bist. Und in Sicherheit. Aber wenn dein Bein wehtut oder du früher nach Hause möchtest, höre ich auf zu arbeiten und komme dich holen.«

Plötzlich geht mir ein Licht auf, warum sie so viel Aufhebens um mich macht wie um ein Neugeborenes. »Du hast erfahren, dass Caleb heute wiederkommt, oder?«

Ihr Reh-im-Schweinwerfer-Blick ist nur schwer zu übersehen. »Es könnte sein, dass es jemand gestern im Diner erwähnt hat.«

Ich stöhne auf und ächze: »Mooomm.«

»Denk einfach nicht daran, Süße. Guck einfach in die andere Richtung und tu so, als ob es die Beckers nicht gäbe.«

Ich schätze, das hier ist nicht der geeignete Zeitpunkt, zu erwähnen, wie sehr ich meine ehemals beste Freundin vermisse, die zufällig eine dieser Beckers ist. Draußen ertönt eine Autohupe. Es ist Sabrina.

»Geh schon«, sagt Mom. »Und ruf an, sobald du da bist, damit ich weiß, dass es dir gut geht, selbst wenn du meinst, deine Mutter wäre überfürsorglich und uncool.«

Ich gehe aus dem Haus und versuche, in Gedanken die Tage zu zählen, bis ich nach Spanien aufbreche. Ich glaube, es sind noch einhundertundachtzehn. Was ungefähr einhundertsiebzehn zu viel sind. Als ich mich auf den Beifahrersitz von Sabrinas Auto setze, sagt sie: »Nettes Outfit.«

Sabrina weiß nur zu gut, wie sehr wir finanziell zu kämpfen haben und dass wir uns solche extravaganten Designerklamotten eigentlich gar nicht leisten können. Vor zwei Jahren ist mein Dad zu einer Geschäftsreise nach Texas aufgebrochen. Es sollte für vier Wochen sein. Er versuchte eine Gruppe von Finanzinvestoren davon zu überzeugen, ihre Produktion von digitalen Computerchips nach Paradise zu verlegen. Sie lehnten seinen Vorschlag ab, boten ihm aber eine Stelle an, bei der er als Berater für sie durch das ganze Land reisen muss.

In den letzten drei Jahren war mein Vater genau dreimal in Paradise. Einmal, um meine Mutter um die Scheidung zu bitten, einmal, um zu verkünden, dass er wieder heiraten würde, und das letzte Mal habe ich ihn kurz nach meinem Unfall gesehen. Er blieb eine Woche, dann fuhr er wieder. Er sagt, er sei glücklich und wünsche sich, dass ich ihn in seinem neuen Zuhause besuchen komme, aber er macht nie konkrete Vorschläge oder legt sich auf ein Datum fest. Ich war nicht mal auf seiner Hochzeit.

»Danke.« Ich streiche ein weiteres Mal mit den Fingern über das weiche Material der Hose.

Und das ist unsere ganze Unterhaltung, bis Sabrina am Straßenrand parkt und wir auf Brian Newcombs Haus zugehen.

»Was ist los?«, fragt Sabrina. »Du hinkst schlimmer als sonst. Ich dachte, deinem Bein ginge es besser.«

»Das tut es ja auch.« Aber ein Krampfanfall hat heute seine hässliche Fratze gezeigt.

Ich höre Rockmusik aus einem Fenster von Brians Haus schallen und hole tief Luft. Das heißt, es wird getanzt. Tanzen beinhaltet, sich durch den Raum zu bewegen und mit Leuten zusammenzustoßen. Was ist, wenn ich hinfalle? Oder schlimmer, wenn ich nicht wieder hochkomme und die anderen über mich lachen?

Als wir an der Haustür sind, bin ich kurz davor, schnellstens nach Hause zu flüchten und mich in meinem Zimmer zu verstecken, bis ich nach Spanien gehe. Aber Sabrina öffnet begierig die Tür, ehe ich den Rückzug antreten kann.

Als wir die Eingangshalle betreten, reagiere ich megasensibel und bin mir nur zu bewusst, dass sämtliche Blicke auf mich gerichtet sind. Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Könnte es sein, dass ein Pickel von der Größe eines Avocadokerns auf meiner Nase wächst? Hinke ich so stark? Oder saugen sie meinen Anblick nur auf, um etwas zu tratschen zu haben? So oder so stehe ich nicht gern im Mittelpunkt. Ich würde so ziemlich alles tun, um für immer mit dem Hintergrund zu verschmelzen.

»Hey, Leute, Maggie Armstrong ist von den Toten auferstanden!«, ruft ein Typ vom Footballteam.

»Ich habe gehört, Caleb Becker ist auch wieder da«, brüllt ein Typ namens Ty.

»Das habe ich auch gehört«, sage ich schlagfertig, obwohl ich mich überhaupt nicht danach fühle. Ich kann mich nicht verstecken. Ahnen sie, dass ich es gern würde? »Ist doch kein Ding.« Ich bin überrascht, dass ich die Worte herausbekomme. Mein Hals ist wie zugeschnürt.

»Aber er hat dich fast umgebracht«, sagt jemand anders. Ich weiß nicht, wer es gesagt hat. Die Menge ist zu einer verschwommenen Masse geworden. Ich glaube, ich könnte nicht einmal mehr tief Luft holen, wenn ich es wollte.

»Das ist ein Jahr her. Ich bin darüber hinweg.« Schluck. Tapfer zu sein ist nicht so einfach, wie es aussieht. Besonders dann nicht, wenn dein Herz schneller schlägt als der wummernde Beat der Musik, die jetzt nur noch den Hintergrund bildet. Feierlaune-Musik.

»Wie kannst du drüber weg sein? Hast du nicht vier Monate oder länger in einem Rollstuhl gesessen?«

Einhundertunddreiundzwanzig Tage um genau zu sein, aber wer zählt die schon? »So ungefähr.«

»Leute, lasst ihr Raum zum Atmen.« Ich wende mich der Stimme zu. Es ist Kendra. Calebs Exfreundin. Wir verkehrten früher in denselben Cliquen, haben uns aber nie besonders nahe gestanden. Sie erinnert mich an eine Plastikpuppe. Zu meiner Überraschung packt sie mich am Arm und zerrt mich mit sich auf die hintere Veranda. So wie ich hinke, kann ich kaum mit ihr mithalten, ohne über meine eigenen Füße zu stolpern, aber das scheint ihr entgangen zu sein. Oder egal.

»Hast du ihn schon gesehen?«, fragt sie flüsternd.

Einen Moment lang bin ich verwirrt. Kendra ist beliebt, jemand, den niemand zu ignorieren wagt. Aber ich bin nicht wirklich hier, oder? Klar, mein Körper ist anwesend. Doch mein inneres Gleichgewicht ist zu Hause geblieben, in meinem Zimmer, wo ich mich vor der Vergangenheit und den Erinnerungen an den Unfall verstecken kann.

Kendra schüttelt mich und ich bin zurück auf der Party.

»Hast du ihn gesehen?«, fragt sie. So wie sie mich ansieht, könnte man meinen, Pfeile schössen aus ihren Augen.

»Wen?«

Sie ist genervt, ihre blonden Locken tanzen bei jeder Bewegung ihres Kopfes und unterstreichen ihre Stimmung wie Ausrufezeichen. »Caleb.«

»Nein.«

»Aber er wohnt direkt neben dir«, sagt sie fast verzweifelt, ihre Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen.

»Na und?« Also schön, Kendra und ich hatten nie wirklich einen Draht zueinander. Sie weiß es, ich weiß es. Nicht sehr viele andere wissen davon; wir waren sehr gut darin, so zu tun, als sei zwischen uns alles bestens. Jetzt kommt es mir so vor, als ließe ich sie abblitzen – da sie Infos von mir fordert, von denen sie meint, dass ich sie hätte. Aber ich habe sie nicht, daher bleibt mir noch nicht einmal die Genugtuung, diese Infos vor ihr zurückzuhalten.

Brian steckt seinen Kopf durch die Verandatür. »Kendra, was machst du da draußen? Komm rein und bewahre mich davor, Flaschendrehen spielen zu müssen.«

Kendras Blick wandert von mir zu Brian und wieder zurück. »Ich komme«, sagt sie, wirft die Haare mit der ihr typischen Kopfbewegung über die Schulter und geht ins Haus. Ich bleibe allein zurück. Draußen.

Ich komme gut damit klar, allein zu sein. Ich bin daran gewöhnt, allein zu sein. Allein zu sein kommt mir gelegen, es bedeutet Stille und niemand verlangt von mir, glücklich zu sein oder zufrieden oder … irgendwelche Fragen zu beantworten. Ich versuche, nicht daran zu denken, wie es war, als ich noch nicht allein war, als ich noch dazugehörte. Als Kendra und ich weder Feindinnen noch Freundinnen waren, sondern einfach mit denselben Leuten abhingen. Und selbst wenn wir nicht auf derselben sozialen Stufe standen, doch zumindest auf demselben Spielfeld agierten.

Partys wären nicht dasselbe ohne mich gewesen.

Jetzt sind sie nicht dasselbe mit mir.

Ich sitze in einem Liegestuhl am Pool. Wenige Augenblicke später hat die Party sich ausgeweitet und die Leute stehen und tanzen in Grüppchen auf der Veranda. Ich bin immer noch allein, aber Teil der Menge.

Brianne klammert sich an Drew Wentworth, den Quarterback der Highschoolauswahl von Paradise. Seine Hände begrapschen sie überall, während sie eng aneinandergeschmiegt zu einem langsamen Song tanzen, der aus den Fenstern im zweiten Stock zu uns herunter schallt.

Danielle und Sabrina stecken in einer Ecke lästernd und kichernd die Köpfe zusammen. Nach einer Weile ziehen ein paar Typen sie auf die Veranda und tanzen mit ihnen. Die Szene erinnert mich an eine dieser Reality-Soaps, die in Kalifornien spielen. Ich steche heraus wie ein bunter Hund in meinem rosa Juicy-Couture—Outfit. Ich öffne meine Handtasche, werfe einen Blick auf die Notfallnummern, die meine Mom mir gegeben hat, nur um sicherzugehen, dass sie immer noch da sind, und schließe die Handtasche wieder. Bestimmt gilt es nicht als Notfall, sich von einer beliebten Person in eine aussätzige verwandelt zu haben, oder liege ich da falsch?

Kendra und Brian legen ihre ganz persönliche öffentliche Tanzeinlage auf dem Sprungbrett hin, nachdem sie sich ihre Badesachen angezogen haben. Alle drängeln sich um den Pool und feuern sie an reinzuspringen. Kendra genießt die Aufmerksamkeit, sie ist daran gewöhnt. Ihrer Familie gehört seit über zweihundert Jahren der größte Flecken Land in Paradise. Ihr Dad ist seit zehn Jahren Bürgermeister und ihr Großvater war Bürgermeister vor ihm. Manchen Mädchen ist es bestimmt, alles zu haben.

Bald darauf kommen ein paar Seniors in Badesachen aus dem Haus. Danielle gesellt sich zu mir. »Hast du deinen Badeanzug dabei? Sabrina und ich ziehen uns in Briannas Zimmer um.«

Wenn ich in einem Badeanzug hinauskäme und allen meine Narben präsentieren würde, wäre die Veranda wahrscheinlich in Sekundenbruchteilen leergefegt. »Mein Arzt hat gesagt, ich dürfe noch nicht schwimmen«, lüge ich.

»Oh, das tut mir leid. Das wusste ich nicht.«

»Kein Problem«, sage ich und ziehe das Handy aus der Tasche.

Während Danielle und Sabrina die Treppe hinauflaufen, humple ich zur Tür hinaus und wähle die Nummer von Moms Arbeit.

»Auntie Mae’s Diner. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Hallo Mom, ich bin’s.«

»Alles okay bei dir?«, fragt sie.

»Mir geht’s gut. Ich habe irre viel Spaß«, sage ich, während ich von Brians Haus weghinke und beginne, die Straße entlangzulaufen. Ich weiß nicht, wohin ich gehe. Irgendwohin wo es ruhig ist … wo ich allein sein kann … wo ich nicht darüber nachdenken muss, was ich verloren habe. Ein Ort, an dem ich die Augen schließen und mich auf meine Zukunft konzentrieren kann.

Eine Zukunft weit weg von Paradise.

Ich sehe das Lächeln auf dem Gesicht meiner Mutter vor mir, als sie sagt: »Siehst du … und du hast dir Sorgen gemacht, dass du nicht mehr dazu gehören würdest. Kommt dir das jetzt nicht albern vor?«

»Total.« Und in Wahrheit? Es kommt mir total albern vor, dass ich gezwungen bin, meine Mom anzulügen.