17 Caleb

Mom klopft Samstagabend an meine Tür, bevor sie zum diesjährigen Herbstfestival aufbricht.

»Bist du sicher, dass du nicht mitkommen möchtest, Caleb? Es wird bestimmt lustig«, ruft sie durch die geschlossene Tür.

Klar doch. »Ich bin mir sicher.«

»Leah kommt auch mit.«

Wie zum Teufel hat Mom das hingekriegt? Leah haust in ihrem Zimmer wie ein Bär im Dauerwinterschlaf. Ich glaube, ich habe auf den Schulfluren mehr von ihr zu sehen bekommen als hier zu Hause. »Ich werde hierbleiben und was abhängen«, sage ich. Ich werde auf gar keinen Fall auf das Fest gehen und zu einer Hauptattraktion mutieren.

Mom öffnet jetzt die Tür und steckt ihren Kopf ins Zimmer. »Dein Vater und ich möchten gern, dass du dich dort blicken lässt. Dr. Tremont und seine Frau werden da sein. Dein Dad ist auf Empfehlungen angewiesen. Zieh eins der neuen Outfits an, die ich dir gekauft habe, und präsentiere dich als die zivilsierte Person, die du bist.«

Ich habe keine Lust, mich rauszuputzen und Klamotten anzuziehen, die mir die Luft abschnüren, nur um eine weitere falsche »Ach, was sind wir alle so glücklich«-Show abzuziehen. »Möchtest du das wirklich unbedingt?«

Sie nickt. »So ist es.«

»Also schön. Ich treffe dich dann später dort«, sage ich versöhnlich. Dieser Bullshit geht mir an die Nieren.

»Danke, Caleb. Ich weiß es zu schätzen«, sagt sie, als rede sie mit einem Kollegen.

Wer ist diese Frau, die ich mal Mom genannt habe? Ich muss ihr klarmachen, dass ich derselbe Mensch bin wie früher. Kann sie mich nicht lieben wie ich bin, ohne zu versuchen, einen neuen und verbesserten Caleb Becker zu erschaffen?

Nachdem meine Eltern und Leah gegangen sind, gehe ich nach draußen und mache mir ein Hähnchen auf dem Grill. Ich werde hier in meiner bequemen zerrissenen Jeans und einem T-Shirt essen, ehe ich mich anziehe wie ein Banker und zum Festplatz aufbreche.

Ich sitze am Verandatisch, als ich eine vertraute Stimme höre.

»Ich dachte, ich finde dich vielleicht hier draußen.«

Ich drehe mich zu meiner Exfreundin um. Kendra sieht klasse aus, sie trägt ein enges, pinkfarbenes T-Shirt und einen kurzen weißen Rock. Kein Hauch von Understatement, was ihre Kleidung angeht, so viel steht fest.

»Du bist nicht beim Festival?«, frage ich.

Sie stellt sich extrem dicht vor mich und beugt sich vor. »Ich bin hingegangen, aber du warst nicht da«, sagt sie mit einem sexy Flüstern.

»Wolltest du denn, dass ich da bin?«

»Nein, weil ich dich ganz für mich allein haben will. Du bist eine Legende in Paradise. Alle wollen einen Blick auf den geheimnisvollen und gefährlichen Caleb Becker erhaschen.«

»Ist es das, was sie denken? Dass ich gefährlich bin?«

»Ich gebe nur das Gerede wieder. Du warst im Gefängnis, oder nicht? Ich habe gehört, mit dir sind viele Dinge geschehen, während du dort warst, die dich verändert haben.«

»Und was denkst du?«, frage ich. Ich bin mir nicht im Klaren darüber, aus welchem Grund sie hier ist. »Hältst du mich für gefährlich?«

»Absolut.« Sie sieht mich offen an, aber ich spüre, dass sie etwas anderes beschäftigt. »War es wirklich so schlimm, wie sie sagen?«

»Manchmal.«

Sie wickelt eine ihrer blonden Locken um den Finger. »Hast du an mich gedacht?«

»So ziemlich jeden Tag«, gebe ich zu. »Was ist mit dir?«

Sie lächelt. »Ich habe dich vermisst. Aber ich bin nicht damit klargekommen, was passiert war.«

»Mach dich nicht fertig deswegen, Kend. Dieser Abend war die totale Katastrophe.«

»Da sagst du was.«

Ich werfe ihr einen Seitenblick zu. Ich brenne seit Ewigkeiten darauf, eine Antwort auf diese Frage zu bekommen. »Erinnerst du dich an das, was passiert ist?«

Sie blinzelt zweimal, bevor sie antwortet. »Nicht richtig. Ich war beinah so zu wie du und bin davongerannt, als die Cops kamen. Mein Dad ist schließlich der Bürgermeister. Seine Tochter durfte auf keinen Fall Teil des ganzen Schlamassels sein.«

»Mmhm.«

»Ich habe nicht damit gerechnet, dass sie dich ins Gefängnis stecken würden. Ich war einfach … es hat mir höllische Angst eingejagt.«

»Mir hat es auch höllische Angst eingejagt. Aber jetzt bin ich ja wieder da.«

»Das bist du.«

Mein Ego zwingt mich, die nächste Frage zu stellen. Es ist merkwürdig, aber diese Unterhaltung ist unser Weg herauszufinden, wie wir zueinander stehen. »Bist du mit jemand anderem zusammen gewesen?«

»Mit niemandem, der mir etwas bedeuten würde.«

Was soll das denn heißen? Ich bin nicht eifersüchtig. Okay, bin ich wohl. Aber sie ist jetzt hier bei dir, sagt eine Stimme in meinem Kopf.

Und ich habe sie so sehr vermisst. Zu sehr. Ich habe davon geträumt, sie aufs Neue zu küssen, ihre vollen Lippen auf meinen zu spüren, mich an ihr zu reiben, bis ich glaube, vor Seligkeit zu sterben.

»Komm her«, sage ich und rücke meinen Stuhl vom Tisch ab, damit sie sich auf meinen Schoß setzen kann. Meine Libido springt an, sofort bereit, zur Sache zu kommen. »Es ist viel Zeit vergangen, Kend, aber ich bin bereit, wenn du es bist.«

Sie macht es sich auf meinen Oberschenkeln bequem und schlingt die Arme um meinen Nacken. Ich beobachte fasziniert ihre Lippen, während sie mich anlächelt. Feuchte Lippen, glänzend, von irgendetwas, das sie vorher extra aufgelegt hat.

Wer immer dieses schimmernde Lippenzeugs erfunden hat, ist ein Genie.

Ich nehme eine Strähne ihres lockigen blonden Haars zwischen die Finger und zwirble sie mit Daumen und Zeigefinger. Ihre Haare fühlen sich anders an als in meiner Erinnerung. Sie waren früher weicher. Ich habe es immer geliebt, mit ihnen zu spielen. »Du hast die Farbe geändert«, sage ich.

»Sie sind jetzt heller. Gefällt es dir?«

Was soll ich darauf antworten? Dass es sich mehr nach Stroh als nach Seide anfühlt? »Ich brauche etwas Zeit, um mich daran zu gewöhnen.«

Ich weiß, ich hätte sie längst küssen sollen, aber ich zögere noch. Ich habe Kendra schon tausendmal geküsst. Sie ist eine unglaublich gute Küsserin und ihre Lippen betteln förmlich darum, hemmungslos geknutscht zu werden. Also was ist mein Problem?

Sie fährt mit der Hand über die Stoppeln meines Kurzhaarschnitts. »Ich hoffe, du lässt deine Haare wieder wachsen. Ich kann mich gar nicht darin festkrallen.«

»Mal sehen.«

»Bloß nicht festlegen, was?« Sie lacht. Dann sagt sie: »Ich habe dich vermisst, CB

Wenn sie mich so sehr vermisst hat, wieso habe ich dann das unangenehme Gefühl, dass sie etwas vor mir verbirgt? Verdammt, ich muss aufhören, mich verrückt zu machen und zu viel in alles hineinzuinterpretieren. Ich weiß, womit ich meine Gedanken zum Schweigen bringen kann.

Ich lege meine Hand an Kendras Hinterkopf und dirigiere ihren Mund auf meinen zu. Als meine Lippen ihre berühren, ist der Kirschduft des Glosszeugs überwältigend.

Auf eine üble Art.

Meine Lippen und meine Zunge streichen über ihre, doch alles, woran ich denken kann, ist, dass ich Kirschen hasse. Ich hasse Kirschkuchen, ich hasse Kirschen in meinem Obstsalat oder als Dekoration auf meinem Eisbecher. Ich hasse sogar Cherry Cola.

Kendra stöhnt, während unsere Münder noch immer miteinander verschmolzen sind. Ihre Zunge schiebt Überstunden und sie verrenkt ihren Körper, bis sie rittlings auf mir sitzt.

Ich öffne die Augen, während wir uns küssen. Mein Blick fällt auf Maggie Armstrongs Zimmerfenster. Jetzt habe ich nicht nur Kirschlippen auf meinen kleben, sondern hoffe gleichzeitig auch, dass Maggie Armstrong nicht sieht, wie ich Kendra die Zunge in den Hals stecke.

Fragt mich bloß nicht, warum es mir etwas ausmachen würde.

Ich löse mich von Kendra und sage: »Lass uns reingehen.«

Kendra gleitet von meinem Schoß und wir halten uns an den Händen, während ich mit ihr in mein Zimmer gehe. Ich wische mir mit dem Handrücken über die Lippen, in der Hoffnung, dass der Kirschgeschmack dadurch verschwinden wird.

Als wir in meinem Zimmer sind, legt sich Kendra auf mein Bett, ohne zu zögern oder zu fragen, warum wir so schnell machen, nachdem wir ein Jahr lang getrennt waren. »Es ist genau wie früher«, sagt sie.

Außer, dass es sich nicht so aufregend und waghalsig anfühlt wie früher. Vielleicht liegt es daran, dass wir jetzt älter sind.

Ich ziehe mein T-Shirt aus, ehe ich zu ihr ins Bett schlüpfe. Sie beginnt, meine Brust zu küssen. »Jesses, Caleb. Deine Muskeln sind gigantisch.«

Mit dem Zeigefinger wackle ich leicht an ihrem neuen, glänzenden Bauchnabelpiercing. »Wir haben uns beide verändert, was?«

»Lass mich herausfinden, wie sehr.« Sie zieht eine Spur von Küssen nach unten, über meine Brust bis zum Hosenbund meiner Jeans.

Als sie Anstalten macht, sie aufzuknöpfen, lege ich meine Hand über ihre, um sie daran zu hindern.

Sie sieht mich verwirrt an. Ich kann es ihr nicht verübeln. In meinem Kopf herrscht Chaos und ich muss alles langsamer angehen lassen als früher. Ich schwöre, vor einem Jahr hätte ich ihr die Kleider vom Leib gerissen, noch ehe wir in meinem Zimmer gewesen wären.

»Was ist los?«, fragt sie.

Ich schüttle den Kopf, fahre mir mit der Hand über die Haare und hole tief Luft. Fuck. Ich versaue auch wirklich alles.

Sie legt ihren Kopf auf meine Schulter und den Arm über meinen Bauch. Es fühlt sich echt gut an und ich bin froh, dass sie mich nicht zwingt, darüber zu reden. Vielleicht kapiert sie es ja, vielleicht versteht sie, dass ich meine kaputten Gedanken nicht in Worte fassen kann. Aber schon nach ein paar Minuten wird sie unruhig und setzt sich auf. »Ich sollte wahrscheinlich besser zum Festival zurückgehen, bevor meine Eltern herausfinden, wo ich war.«

Letztendlich versteht sie es doch nicht. Genau wie alle anderen.

Sie wirft die Haare über die Schulter zurück, schlüpft in ihre Schuhe und steht auf.

Ich rede mir ein, dass schon bald wieder alles beim Alten sein wird. Ich bin zu Hause. Ich habe mein Mädchen wieder. Okay, ich gebe zu, es ist irgendwie komisch zwischen uns. Ihre Haare sind unecht, ihre Lippen schmecken anders und ihre Küsse sind hungrig statt sexy.

»Ich habe gesehen, wie du gestern im Gang mit Samantha Hunter geredet hast«, sagt sie und blickt über die Schulter zurück zu mir.

Ich richte mich auf und lehne mich mit immer noch nacktem Oberkörper an das Kopfende meines Bettes. »Hm, sie wollte wissen, ob ich dieses Jahr ringen werde.«

Kendra stößt ein entnervtes Schnauben aus. »Du findest sie doch nicht etwa süß, oder?«

Ich zucke mit den Schultern. »Sie ist ganz okay, schätze ich.«

»Mädchen wie sie wollen, dass alle nach ihrer Pfeife tanzen.«

»Andere Mädchen interessieren mich nicht, Kend, wenn es das ist, worum du dir Sorgen machst.«

»Das ist gut.« Ihre Mundwinkel verziehen sich nach oben, doch dann beißt sie sich auf die Unterlippe. »Ich bin froh, dass du wieder da bist, aber …«

»Aber was?«

»Kann das mit uns ein Geheimnis bleiben, Caleb? Die Leute in der Schule warten nur darauf, dass wir ihnen eine große Show liefern, und ich möchte nicht, dass es komisch wird. Außerdem stellt sich mein Dad im November zur Wiederwahl und er hat mir jeden Kontakt zu dir verboten. Im Moment ist es das Beste, wenn niemand von uns weiß.«

Ihre Bitte sollte mich nicht überraschen, aber sie tut es. Ich sage nur: »Geht klar.« Denn was sollte ich sonst sagen?

Während ich Kendra nach draußen zu ihrem Wagen folge, frage ich mich, wie unser Leben verlaufen wäre, wenn ich nicht eingesperrt worden wäre. Ich müsste aus unserer Beziehung kein verdammtes Geheimnis machen, so viel steht fest.

Als wir vor dem Haus ankommen, steigt Kendra in ihren Wagen. Dann öffnet sie ihre Handtasche und zieht eine Tube Lipgloss heraus. Nachdem sie den Rückspiegel verstellt hat, legt sie sorgfältig neues Kirschgloss auf, hauptsächlich um unsere heiße Knutscherei auszuradieren. Als ihre Lippen wieder so feucht glänzen wie vorhin, als sie hier ankam, fährt sie davon.

Kopfschüttelnd kehre ich ins Haus zurück. Mein Blick fällt auf das Foto von Kendra, als ich in mein Zimmer komme. Ich löse es von meinem Kopfende und starre es an.

Es ist schwer, alles beim Alten zu belassen, wenn die alten Dinge so anders aussehen und sich so anders anfühlen.