26 Maggie
Ich wünschte, Mom hätte nicht darauf bestanden, mich zur Physiotherapie zu begleiten.
»Du kannst mich einfach hier absetzen«, sage ich. »Komm doch in einer Stunde wieder und hol mich ab.«
Mom schüttelt ablehnend den Kopf. »Dr. Gerrard möchte mit uns beiden reden.«
Oh nein. »Mir geht es gut, Mom. Robert erwartet von seinen Patienten nur das Unmögliche, das ist alles.«
»Ich weiß, dass es nicht leicht ist, Maggie«, sagt sie. »Keine Bange, du musst nichts machen, wobei du dich unwohl fühlst. Gib einfach dein Bestes.«
Als wir das Krankenhaus betreten, wartet Robert dort auf uns. War ja klar. »Hallo, Maggie, wie geht es uns heute?«
Uns? »Gut.«
»Hast du die Kraftübungen gemacht, die ich dir gezeigt habe?«
Äh … »Ja. Na ja, ab und zu.«
Robert schüttelt meiner Mutter die Hand. »Schön, Sie wiederzusehen, Mrs Armstrong.«
»Die Freude ist ganz meinerseits«, erwidert sie. Dann nimmt sie auf einem Stuhl Platz, während Robert mich zur Übungsmatte führt.
»Lass uns mit dem Dehnen beginnen«, sagt Robert. »Damit die Muskeln warm werden und ihren Job tun können. Bilde mit deinen Beinen ein V.«
Ich versuche es, aber meine Beine bilden eher ein I als ein V, weil mein linkes Bein gerade keine Lust hat, warm zu werden. Es liegt nicht an mir, sondern an meinem Bein.
»Besser bekommst du es nicht hin?«
»Ich glaube nicht.«
Robert kniet sich neben mich und sagt: »Berühre mit deiner linken Hand deinen linken Fuß.«
Ich bemühe mich, komme aber nur bis zu meinem Knie.
»Komm schon, Maggie. Noch ein paar Zentimeter.«
Ich schaffe noch ungefähr einen Zentimeter mehr, was meinen Physiotherapeuten nicht besonders beeindruckt.
»Sie kann nicht«, mischt sich Mom ein. »Sehen Sie nicht, dass sie große Schmerzen hat?«
»Mrs Armstrong«, sagt Robert, »Maggie muss bis an ihre Grenzen gehen, um die Muskeln wiederaufzubauen.«
Mom ist im Begriff, etwas zu erwidern, als Dr. Gerrard hereinkommt. »Hallo, meine Damen. Robert.«
Meine Mutter steht auf und umarmt den Chirurgen. Nach dem Unfall war er derjenige, der uns immer wieder Hoffnung machte und Hände besaß, die in der Lage waren, das Innere meines Beines wiederherzustellen. Ich weiß noch, wie ich ihn das erste Mal traf, als ich noch im Krankenhaus lag. Er kam in einem weiten weißen Kittel herein, lächelte breit und reichte mir die Hand mit den langen Fingern, die mein Bein aufschneiden und wieder in Ordnung bringen würde.
Dr. Gerrard kniet sich neben mich. »Wie geht es dir, Maggie? Bist du in letzter Zeit irgendwelche Marathons gelaufen?«
Ich ziehe fragend die Augenbrauen hoch.
»Ich habe nur Spaß gemacht«, räumt er ein. »Ein schlechter Chirurgenwitz.«
»Dr. Gerrard, Sie brauchen mal wieder jemand neuen, den Sie piesacken können«, murmle ich.
»Das sagen meine Assistenzärzte auch immer.« Dr. Gerrard weist mich an, auf dem Untersuchungstisch Platz zu nehmen und untersucht meine Narben. »Sieht gut aus«, sagt er und blickt hoch. »Robert hat mir berichtet, du wärst ein wenig zurückhaltend bei der Physiotherapie.«
Robert steht mit seinem Klemmbrett in den Händen da, der Verräter.
Ich zucke mit den Schultern. »Ich kann den Fuß nicht sehr stark belasten.«
»Es tut ihr weh«, wirft Mom ein.
Mein Arzt tritt zurück und atmet tief durch. »Okay, geh für mich bis zur Tür und wieder zurück, Maggie.«
Er hilft mir von der Liege und ich hinke bis zur Tür.
»Kannst du mehr Gewicht auf deinen linken Fuß verteilen?«
»Nicht wirklich.«
»Okay, komm hierher zurück und setz dich.«
Ich humple zurück zur Liege und nehme Platz. Mom kommt zu mir. Sie reibt mir beruhigend den Rücken.
»Ich werde direkt zum Punkt kommen«, sagt Dr. Gerrard. »Du musst dich mehr ins Zeug legen und aufhören, deine linke Seite zu schonen.«
»Ich gebe mein Bestes«, sage ich.
Dr. Gerrard bezichtigt mich nicht der Lüge, aber an der Art, wie er die Lippen schürzt, erkenne ich, dass er nicht überzeugt ist.
»Vielleicht sollten wir die Physiotherapie abbrechen«, sagt meine Mutter.
Dr. Gerrard zieht Luft durch seine zusammengebissenen Zähne ein, das zischende Geräusch ist ein unmissverständliches keinesfalls zu Moms Vorschlag. »Meiner Meinung nach wäre es unverantwortlich, die Physiotherapie abzubrechen.«
»Ich habe einen Vorschlag«, schaltet sich Robert ein. »Wie wäre es, wenn Maggie wieder Tennis spielte?«
Mein Herz beginnt zu rasen, seine Schläge trommeln in meiner Brust, als vollführe es einen indianischen Stammestanz.
»Alles okay mit dir?«, fragt Mom.
Ich bringe keinen Ton heraus. Mein Hals ist wie zugeschnürt.
»Ich muss hier raus«, sage ich und lasse mich von der Liege rutschen.
Robert macht einen Schritt auf mich zu. »Maggie, wir versuchen doch nur, dir zu helfen.«
»Ich weiß. Aber ich kann das einfach nicht mehr. Ich kann einfach nicht.« Ich streife meine Trainingshose über, hinke an meiner Mutter vorbei und begebe mich auf den Weg zum Ausgang. Ich komme an Leuten in Rollstühlen, Ärzten und Krankenschwestern vorbei. Halten sie mich für so durchgeknallt, wie ich mir vorkomme?
Als sich die Tür öffnet, atme ich die frische Luft lechzend ein und versuche, tief durchzuatmen.
Atmen. Ein. Aus. Ein. Aus.
Ist Atmen nicht etwas, das man unbewusst macht? Im Moment bin ich mir meiner Atemzüge übertrieben bewusst. So bewusst, dass ich tatsächlich befürchte, ich könnte womöglich vergessen weiterzuatmen, wenn ich aufhöre, mich darauf zu konzentrieren.
Atmen. Ein. Aus. Ein. Aus.
So habe ich mich auch an dem Tag gefühlt, als Dad das letzte Mal gegangen ist. Als mir bewusst wurde, dass ich ihn vielleicht nicht wiedersehe. Auch damals war ich nicht stark genug.
Ich blinzle Tränen zurück, während ich mich bemühe zu vergessen. Denn es tut zu weh, zu wissen, dass seine Liebe zu mir nicht groß genug war, um ihn zum Bleiben zu bewegen. Ich war es nicht wert, so sehr geliebt zu werden.
Tennis war meine Rettung, aber selbst das funktionierte nicht richtig. Ich verdiente es, auf den Platz zu dürfen, denn ich war etwas wert, wenn ich spielte. Ich war nicht nur Teil einer Mannschaft, ich war diejenige, zu der die anderen aufsahen.
Je öfter die anderen Väter zu den Turnieren kamen, desto verbissener spielte ich. Es war, als wollte ich die anderen Dads dazu bringen, zu bedauern, dass ich nicht ihr Kind war. Egal, ob mein Dad mich liebte oder nicht, es gab andere Väter, die alles darum gegeben hätten, dass ich ihre Tochter wäre. Wenn die anderen Väter mir gratulierten, bedeutete mir das mehr als der Schulpokal, den ich mir in meinem Sophomorejahr verdiente. Ich war die Liebe meines Vaters vielleicht nicht wert, aber ich war es wert, diesen Pokal zu besitzen.
Ein Schmerz schießt von meinem Bein bis hinauf in meine Wirbelsäule, eine spöttische Mahnung daran, dass ich nie wieder ein Champion sein werde.
»Maggie?«
Ich wende mich meiner Mom zu, die es nicht schafft, ihre Panik vor mir zu verbergen.
»Ich kann kein Tennis spielen«, eröffne ich ihr.
»Dr. Gerrard möchte, dass du es versuchst. Du wirst es doch versuchen, oder?«
Aber ich werde nicht gut sein und dann hat Dad keinen Grund mehr, stolz auf mich zu sein. Er wird niemals wollen, dass ich Teil seiner neuen Familie werde. »Können wir nach Hause fahren? Ich möchte nach Hause.«
Mom seufzt. Ich hasse das Gefühl, sie enttäuscht zu haben. Ich weiß, sie strengt sich so sehr an, uns emotional, körperlich und finanziell über Wasser zu halten. Sie ist die tapfere Cheerleaderin unserer Familie.
Als wir ins Auto steigen, werde ich ruhiger. Ich sehe meine Mom an, die mit trauriger Miene den Wagen steuert. »Mom, was willst du vom Leben?«
Sie lacht kurz auf. »Im Moment, Geld.«
»Abgesehen von Geld.«
Sie neigt den Kopf zur Seite und denkt darüber nach. Als wir an einer roten Ampel halten, wendet sie sich mir zu. »Ich schätze, ich hätte gern einen Partner, mit dem ich mein Leben teilen kann.«
»Vermisst du Dad?«
»Manchmal. Ich vermisse die Kameradschaft, ich vermisse es, als Paar auszugehen. Die Streitereien vermisse ich nicht.«
Die Ampel schaltet auf Grün und wir beschleunigen. Unser Auto fährt an einer Frau und einem Mann vorbei, die ihre Tochter an der Hand halten. »Wird er je wollen, dass ich ihn besuche?«
»Eines Tages«, sagt sie, aber ich spüre genau, dass sie sich nicht sicher ist.
»Möchtest du mit Mr Reynolds ausgehen?«, frage ich.
Ihre Augen weiten sich verblüfft. »Wie kommst du auf so eine Idee?«
»Weil du beim Herbstfestival mit ihm getanzt hast. Er hat keine Kinder. Ich glaube, er ist nur deinetwegen gekommen.«
Mom lacht jenes laute Lachen, das den Wagen füllt und das die Leute im Auto neben uns wahrscheinlich auch noch hören.
»Auntie Mae’s Diner hat das Fest gesponsert, Maggie. Deshalb war Lou da.«
»Jedenfalls wirktet ihr zwei ziemlich dicke«, sage ich störrisch.
»Er war bloß nett.«
Ich schüttle den Kopf. »Das glaube ich nicht.«
»Hmm …«
»Was meinst du damit?«
»Nichts. Sei einfach wieder mein kleines Mädchen, okay?«
Den Rest der Heimfahrt sitzen wir schweigend nebeneinander. Als wir ins Haus gehen, ignoriere ich den Kloß in meinem Hals und sage: »Nur um das festzuhalten … falls du Mr Reynolds mal zum Abendessen zu uns einladen möchtest, hätte ich nichts dagegen.« Dann gehe ich nach oben in mein Zimmer.
Dort angekommen würde ich meine Worte am liebsten zurücknehmen. Ich habe das alles nur gesagt, weil ich weiß, wie unglücklich Mom in letzter Zeit war.
Aber in Wahrheit vermisse ich meinen Dad jeden Tag. Mehr als alles andere. Und ich weiß, dass er eine neue Frau und ein neues Leben hat. Was ist, wenn Mom und Mr Reynolds anfangen, miteinander auszugehen? Oder, noch schlimmer, heiraten? Werden sie ebenfalls ein neues Leben ohne mich beginnen wollen?
Ich schließe meine Tür ab und öffne den Wandschrank. Ganz weit hinten, in der dunkelsten Ecke, ist mein Tennisschläger vergraben. Ich weiß, er ist da, obwohl er hinter Kleidern verborgen ist. Ich fühle seine Anwesenheit, wenn ich in meinem Zimmer bin, so ähnlich wie Superman das Kryptonit. Verzweiflung übermannt mich.
Ich strecke die Hand aus und packe den Schläger am Griff. Sein Gewicht fühlt sich gleichermaßen fremd und vertraut an.
»Öffne die Tür, Maggie.«
Panik. »Eine Sekunde.«
Ich werfe den Schläger in den Schrank zurück und öffne meine Zimmertür. Mom betrachtet mich mit einem seltsamen Blick.
Ich streiche mir die Haare aus dem Gesicht und ich hoffe, sie durchschaut nicht, dass ich die ganze Zeit über gewusst habe, wo mein verlorener Tennisschläger steckt. »Was ist denn, Mom?«
»Ich habe darüber nachgedacht. Über meinen Boss Lou. Hast du es ernst gemeint, als du sagtest, ich soll ihn mal zum Abendessen einladen?«