18 Maggie
Ich trage ein langes, gemustertes Kleid, das bis zum Boden reicht, und darüber einen taubenblauen Pullover. Mom hat mir das Kleid gekauft, weil sie weiß, wie ich dazu stehe, irgendeinen Teil meines linken Beins in der Öffentlichkeit zu zeigen. Tief drinnen weiß ich, dass sie auch darauf hofft, die Jungen würden mich als Maggie Armstrong wahrnehmen und nicht als das Mädchen, das von Caleb Becker anfahren wurde. Doch vergesst es, das wird nicht passieren.
Ich habe es nicht übers Herz gebracht, ihr zu sagen, dass ein hübsches Kleid die Narben, die darunter verborgen sind, nicht verschwinden lassen kann.
Wir sind auf dem Weg zur Festwiese von Paradise. Sie haben die Wiese in einen Jahrmarkt mit einem Riesenrad und einer Wurfbude verwandelt. Die Hilfreichen Engel unterstützen das Herbstfestival jedes Jahr. Normalerweise nimmt die ganze Stadt daran teil.
Der Stand mit dem Essen ist mit Lichterketten geschmückt, die mich irgendwie an Weihnachten erinnern.
Mom stellt die Brownies, die sie gemacht hat, auf den Tisch zu den anderen Sachen, dann lässt sie den Blick über die Menge schweifen. »Guck mal, da ist Lou«, sagt sie und zeigt mit dem Finger auf ihn.
Neben ihm sitzt seine Mutter, meine Chefin. »Sollen wir hallo sagen gehen?«, frage ich.
Mum zuckt mit den Schultern. »Das wäre eine nette Geste.«
Als wir den Tisch erreichen, steht Mr Reynolds lächelnd auf. »Linda, schön, dass du es geschafft hast. Hallo, Maggie.«
»Hallo, Mr Reynolds. Hallo, Mrs Reynolds.«
Mr Reynolds beugt sich näher und flüstert in mein Ohr: »Wir sind nicht im Diner. Nenn mich doch Lou wie deine Mutter.«
»Das wäre komisch«, sage ich. Moms Boss zu duzen, kommt mir zu … ich weiß auch nicht … vertraulich vor.
»Na schön, dann probier es einfach mal aus, wenn es dir nicht mehr komisch vorkommt.«
Mom setzt sich neben ihren Boss und ich gehe um den Tisch herum und lasse mich neben Mrs Reynolds fallen.
»Mrs Reynolds, es war sehr großzügig von Ihnen, meiner Tochter einen Job anzubieten«, sagt Mom. »Wie ich Ihnen schon am Telefon sagte, bin ich Ihnen sehr dankbar.«
»Ich bin die Dankbare«, sagt Mrs Reynolds. »Hinter uns liegt eine produktive erste Woche. Nicht wahr, Margaret?«
Unter meinen Fingernägeln sitzt immer noch Erde fest, die ich nicht rauspulen konnte. »Mrs Reynolds ist eine Narzissenexpertin, Mom.«
»Wenn du aus Spanien zurückkommst, werden sie rausgekommen sein und blühen«, sagt Mrs Reynolds.
Ich lächle bei dem Gedanken, nach Spanien aufzubrechen. Es ist in letzter Zeit so ziemlich das Einzige, das mich zum Lächeln bringt.
Mrs Reynolds wirft dem Tisch mit dem Essen einen sehnsüchtigen Blick zu. »Ich bin am Verhungern«, sagt sie. »Wie wäre es mit einem Gang zum Buffet, um zu sehen, ob etwas Lohnenswertes dabei ist?«
»Mom, zügle dich bitte bei deiner Auswahl«, sagt Mr Reynolds über die laute Tanzmusik hinweg, die die Band gerade auf der eigens aufgebauten Bühne zu spielen begonnen hat.
Mrs Reynolds verdreht die Augen. »Mein Sohn hält mich für ein Kind.«
»Mom, du weißt, was der …«, wirft Mr Reynolds grummelnd ein.
Mrs Reynolds bringt ihren Sohn mit einem einzigen Blick zum Schweigen. Mom wirkt unangenehm berührt und mir geht es genauso. Ich möchte nicht darin verwickelt werden. Es liegt eindeutig außerhalb meiner Zuständigkeit als Gesellschafterin.
Mr Reynolds wendet sich an meine Mom. »Linda, wie wäre es, wenn wir den jungen Leuten mal zeigen, wie man eine flotte Sohle aufs Parkett legt?«
Wow, das kam aus dem Nichts. Mom tanzt nie. Sie und mein Dad kamen jedes Jahr zum Festival, aber ich habe nicht ein einziges Mal gesehen, dass sie sich zur Musik auch nur bewegt hätten, geschweige denn getanzt.
»Liebend gern«, sagt Mom. »Maggie, es macht dir doch nichts aus, oder?«
Als ich den Kopf schüttle, nimmt sie Mr Reynolds’ ausgestreckte Hand und er führt sie zur Tanzfläche.
Ich sitze mit weit aufgerissenen Augen da. Was geht hier vor sich? Hat meine Mom gerade zugestimmt, mit ihrem Boss zu tanzen?
Ist so was nicht illegal?
Von dort aus, wo ich sitze, habe ich die Tanzfläche im Blick. Mom zappelt sofort los wie eine Fünfzehnjährige und groovt über die Tanzfläche. Ich lasse meinen Blick rasch über die Festwiese schweifen, um zu sehen, ob es noch jemand anderem aufgefallen ist. Und wie könnte es anders sein, steht eine Gruppe von Leuten aus meiner Schule da und beobachtet sie.
Ich möchte sterben.
Warum wollte Mom überhaupt tanzen? Sie macht sich zum Affen, wie sie da rumhüpft, als mache es ihr nichts aus, wenn die Leute sie anstarren. Ist es nicht schon schlimm genug, dass die Leute mich anstarren?
»Margaret, ich bin bereit, mir den Teller richtig vollzuschaufeln, jetzt, da mein Sohn, der sich anscheinend für einen Arzt hält, mich nicht länger nervt. Würdest du mir dabei helfen?«
Ich reiße meinen Blick von der Dancing Queen los. »Äh, ja klar.«
Mrs Reynolds stützt sich auf ihren Stock, als wir auf die Essensschlange zugehen. Ich halte ihren Teller und häufe das Essen darauf, während sie auf die unterschiedlichen Gerichte zeigt. Die alte Dame bekommt anscheinend gar nicht mit, was sich auf der Tanzfläche abspielt.
»Was gibt es da zu gucken?«, fragt Mrs Reynolds.
»Nichts.«
»Dieses Nichts bekommt aber eine Menge Aufmerksamkeit.«
Ich mache »hmpf« und bewege mich weiter in der Schlange. Aber als ich Mrs Beckers berühmte Spaghetti Spektakulär erreiche, erstarre ich und frage mich panisch, ob Leah und Caleb auch hier sind.
»Die da sehen gut aus«, sagt Mrs Reynolds und meint damit die Spaghetti.
»Sie schmecken auch gut«, stimme ich zu. »Aber dürfen sie die essen? Mr Reynolds hat gesagt …«
»Margaret, ich bin eine alte Dame, die ihr Essen liebt. Wenn ich nicht länger essen darf, was ich will, kannst du mich genauso gut hier und heute begraben.«
»Okaay«, sage ich geschlagen. »Wenn Sie darauf bestehen.« Ich gebe einen Löffel voll auf Mrs Reynolds’ Teller, aber sie hebt die Augenbrauen und drängt mich, einen weiteren Löffel daraufzuhäufen. Als wir das Ende der Buffetschlange erreichen, traue ich mich nicht, noch einmal Richtung Tanzfläche zu linsen.
Es ist, als würde man Zeuge eines Autounfalls. Man weiß, es erwartet einen ein schlimmer Anblick, aber man kann nicht anders, als hinzugucken. Ich frage mich, ob es den Leuten so ging, als sie mich nach dem Unfall auf der Straße liegen sahen.
Na schön, ich bin also wie alle anderen. Ich suche die Tanzfläche ab und kann Mom nirgendwo entdecken. Gott sei Dank. Aber ich sehe Kendra Greene. Sie tanzt einen engen Blues mit Brian Newcomb, als wäre er die Liebe ihres Lebens.
Mein Traum ist, einen Jungen zu finden, der mich trotz meiner Fehler liebt und sich nicht von mir abwendet, wenn das perfekte Mädchen vorbeiläuft. Vielleicht existiert so ein Junge gar nicht.
Ich sitze am Tisch und sehe Mrs Reynolds beim Essen zu. Ich habe keine Ahnung, wo diese schmale Frau das alles hinpackt. Sie nimmt einen kleinen Bissen von den Spaghetti Spektakulär und nickt mir enthusiastisch zu. »Es ist wie eine Explosion aus verschiedenen Aromen und Konsistenzen, es schmeckt einfach …«
»Spektakulär?«, sage ich.
»Ziemlich«, erwidert sie zustimmend und wir lachen beide.
Mom kommt zu uns an den Tisch. Ich kann es nicht fassen, dass sie gerade einmal quer über die Tanzfläche gefegt ist!
»Was ist so lustig?«, fragt Mom.
»Das Spaghettigericht«, sagt Mrs Reynolds. »Es ist wirklich spektakulär.«
Jetzt herrscht Schweigen, weil Mom sofort weiß, dass wir von Mrs Beckers preisgekrönter Spezialität reden.
Mr Reynolds schwitzt ganz schön und trinkt einen Schluck Wasser. »Ist etwas?«
Mom schüttelt den Kopf.
Der Typ von der Band brüllt den über Einundzwanzigjährigen zu, sie sollen auf die Tanzfläche kommen. Eltern strömen in die Mitte der Fläche, bereit zu zeigen, was sie drauf haben.
Ich beobachte, wie die anderen Leute aus meiner Stufe herumrennen und Spaß haben. Brian und Kendra gehen ins Spiegelkabinett. Drew Rudolph versucht Brianne auf das Big Monster zu locken. Meine Cousine Sabrina sitzt neben ihrer Schwester im Riesenrad.
»Mach schon«, sagt Mrs Reynolds. »Geh zu deinen Freunden.«
»Ich habe keine Freunde«, gebe ich zu. »Ich bin das, was man einen Loser nennt. Oder eine Einzelgängerin. Suchen Sie sich etwas aus.«
»Pah.«
»Wie?«
»Pah. Dummes Geschwätz. Du bist eine kluge, hübsche junge Dame. Mädchen wie du sind keine Loser.«
»Ich bin nicht hübsch, so viel steht fest. Und ich hinke.«
Sie mustert mich von oben bis unten. »Dir fehlt es an modischem Geschmack, aber du hast ein schön geschnittenes Gesicht, wenn du nicht gerade schmollst oder irritiert guckst. Und was das Hinken angeht … so lange es dich selbst nicht stört, sollte es keine Rolle spielen, was die Leute denken.«
Ich glaube, auf meinem Gesicht liegt in diesem Moment genau jener besagte irritierte Ausdruck.
»Und was soll dieser Blödsinn, dass du keine Freunde hättest? Jeder sollte zumindest einen Freund haben.«
Ich sehe mich um und entdecke Leah Becker, die allein an einem der Tische sitzt. Ihre Eltern sind ein paar Meter weiter in ein Gespräch mit einem anderen Paar vertieft. Ich würde zu ihr gehen, aber sie würde mich wahrscheinlich nur ignorieren.
Mrs Reynolds legt ihre Hand auf meine. »Ist das eine Freundin von dir?«
»Das war sie mal.«
»Geh und rede mit ihr.«
»Ich wüsste nicht einmal, was ich zu ihr sagen sollte.«
Mrs Reynolds stößt ein frustriertes Schnauben aus.
»Wie du willst, Kind. Aber wenn du erstmal ein alter Kauz wie ich bist, wirst du dir wünschen, du hättest mehr Freunde in deinem Leben gehabt. Allein zu sein macht keinen Spaß, findest du nicht?«
»Nein. Allein zu sein macht keinen Spaß.«
Ich gucke zu meiner Mom rüber, die beim Line Dancing mitmacht. Sie wirkt nicht allein. Wenn ich ehrlich bin, hat sie schon lange nicht mehr so glücklich ausgesehen. Mom lächelt Mr Reynolds an und er lächelt zurück. Mr Reynolds. Lou. Der Chef meiner Mom. Der Sohn von meiner Chefin. Wie immer man ihn auch nennen will, fest steht, dass er ein Auge auf meine Mom geworfen hat.
Ich weiß nicht, ob ich peinlich berührt, wütend oder glücklich für sie sein sollte.