39 Caleb
Maggie war gestern nicht in der Schule und ich habe sie den ganzen Vormittag noch nicht gesehen. Ich bin heute schon zweimal an ihrem Spind vorbeigegangen, aber sie ist so flüchtig wie ein Geist.
Während der dritten Stunde kann ich mich nicht konzentrieren. Also nehme ich mir den Toilettenpass und verlasse das Klassenzimmer. Aber ich gehe nicht auf direktem Weg zur Toilette. Ich gehe um die Ecke den Gang hinunter zu ihrem Spind. Ich habe mich in einen Stalker verwandelt.
»Suchst du jemanden, Caleb?« Es ist Kendra, die ebenfalls einen Flurpass in den Händen hält. »Maggie Armstrong vielleicht?«
»Hör auf, Spielchen mit mir zu spielen, Kend.«
Sie wirft mir ein boshaftes Lächeln zu. »Nein, ernsthaft. Ich verstehe einfach nicht, was du in ihr siehst.«
»Nichts«, sage ich, um mir meine Ex vom Hals zu schaffen. »Ich sehe nichts in Maggie Armstrong. Wenn überhaupt, dann war sie nur eine Ablenkung, weil ich dich nicht haben konnte.« Ich rede Müll, weil ich Maggie und Leah um jeden Preis beschützen muss.
Ein Geräusch hinter mir lässt mich herumfahren. Es ist Maggie. Sie hat jedes einzelne verlogene Wort gehört, das aus meinem Mund gekommen ist.
Kendra schlendert auf sie zu. »Caleb, hast du Maggie die Wahrheit über den Unfall erzählt?«
»Kendra. Nicht«, sage ich warnend. »Oder ich stecke Brian, was zwischen dir und mir gelaufen ist. Ist die Wahl deines Vaters nicht nächste Woche?«
Wenn Kendra Klauen hätte, würde sie sie jetzt ausgefahren und dazu benutzen, mich umzubringen.
Maggie humpelt auf mich zu. »Was läuft zwischen dir und Kendra, Caleb?«
Kendra stemmt die Hände in die Hüften, begierig den Kampf zu beginnen. »Ja, Caleb. Erzähl ihr, wie oft wir zusammen waren, seit du wieder da bist.«
Was soll ich sagen? Ich möchte Maggie die Wahrheit erzählen, ich werde ihr die Wahrheit erzählen. Über alles. Aber nicht hier, nicht in Gegenwart von Kendra. Sie hat nichts mit mir und Maggie zu schaffen.
»Sag etwas«, befiehlt Maggie mit blitzenden Augen.
Als ich das nicht tue, gibt sie mir eine Ohrfeige und hinkt davon.
Ich hasse die Jubelveranstaltungen vor Wettkämpfen, bei denen der Teamgeist der Schule beschworen wird. Und ich finde es vollkommen verrückt, dass ich ausgerechnet heute in einer feststecke. Aber hier bin ich nun mal, inmitten der Sportler, während die Cheerleader die Stimmung ordentlich aufpeppen und die übrigen Schüler in Schwung bringen.
Als ob ein Haufen Ringer daran interessiert wäre, aufgepeppt zu werden. Aber den Jungs wäre jede Ausrede recht, um dem Unterricht für eine Stunde zu entgehen.
Meyers steht auf dem Podium, als wäre er der Präsident der Vereinigten Staaten und nicht bloß Highschooldirektor in einer Kleinstadt. »Seid bitte leise, Leute. Noch leiser.« Es ist immer noch laut, aber besser wird es nicht werden, und das weiß er. »Heute wollen wir die Schüler feiern, die die Paradise Panthers in den verschiedenen Sportdisziplinen vertreten.«
Die Menge wird unruhig, der Turnhallenboden vibriert von dem Lärm.
»Ruhe bitte. Ruhe. Wir werden heute Nachmittag unsere Sportler ehren. Jeder der Trainer wird aufs Podium kommen und die Mitglieder seiner Mannschaft verkünden. Lasst uns mit dem größten Team anfangen … den Footballern!«
Wie aufs Stichwort beginnen die Cheerleader auszuflippen, sie hüpfen und schlagen Räder quer durch die Turnhalle.
»Hebt eure Hand, wenn ich euren Namen aufrufe«, sagt der Footballtrainer. »Adam Alberts, Nate Atkins, Max Ballinski, Ty Edmonds …« Die Liste scheint endlos.
Ich stehe neben Brian. »Das ist Folter, Mann.«
»Da sagst du was«, erwidert er.
Aber als Trainer Wenner aufs Podium geht, üben die Jungs der Paradise Ringermannschaft sich mitnichten in vornehmer Zurückhaltung. Hinter mir brüllen sie los: »Wee-ner! Wee-ner!«
Die Jungs betonen den Namen des Trainers absichtlich falsch. Ich wette Wenner überlegt schon, wie viele Extra-Gewichte er das Team dafür stemmen lassen wird.
Der Rest der Schule stimmt ein, selbst als die Lehrer versuchen, dem Gesang ein Ende zu setzen.
»Wee-ner! Wee-ner!«
»Okay, ha, ha, sehr witzig. Ihr hattet euren Spaß, jetzt lasst uns zur Sache kommen«, sagt der Trainer. »Andy Abrams, Caleb Becker, Adrian Cho, David Grant …«
Obwohl unsere Schule klein ist, dauert es eine Weile, bis wir mit allen Namen durch sind.
Nach über einer Stunde, die wir in der heißen Turnhalle eingepfercht sind, kehrt Meyer endlich ans Mikro zurück und entlässt uns in die sechste Stunde. Auf dem Weg nach draußen herrscht ein furchtbares Gedränge. Alle anderen sind genauso wild wie ich darauf, hier wegzukommen. Aber ich lasse mich zurückfallen.
Ich suche die Tribüne ab. Meine Schwester hält den Kopf gesenkt, außer den Stufen nimmt sie nichts wahr. Maggie steht in der Menge, die sich langsam nach draußen schiebt. Sie sieht so zerbrechlich aus wie ein Vogel inmitten einer Elefantenherde.
Es wird gestoßen und geschubst. Zwei Juniors fangen eine Prügelei an. Und zwar genau dort, wo Maggie steht. »Maggie, pass auf!«, brülle ich, aber sie hört mich nicht. Sie bemerkt die Unruhe hinter sich nicht und ich schaffe es nicht, rechtzeitig bei ihr zu sein. Ein Typ wird in Maggie hineingeschubst, die über zwei Stufen stolpert, fällt und auf den Knien landet.
»Maggie!«, schreie ich, stoße Leute aus dem Weg, um zu ihr zu gelangen. Als ich endlich bei ihr bin, knie ich mich neben sie. »Maggie, bist du okay?«
Sie blinzelt, sieht aus, als müsste sie sich jeden Moment übergeben, und setzt sich auf.
»Mag-gie, Mag-gie, Mag-gie«, beginnt die Menge zu johlen.
Ich gucke hoch in die Meute und brülle: »Haltet verdammt noch mal das Maul!«, aber niemand hört auf mich. Ich packe Maggies Ellbogen. Sie versucht, ihn mir zu entziehen, aber ich halte ihn fest. »Alles okay mit dir?«, frage ich, als sie schließlich steht. Die meisten Leute haben aufgehört, ihren Namen zu johlen, aber ein paar Arschlöcher haben immer noch nichts Besseres zu tun.
Drew fasst mich an der Schulter und zieht mich zurück. »Caleb, wieso hilfst du ihr? Die Schlampe ist daran schuld, dass du ins Gefängnis musstest.«
Ich balle meine Hand zu einer Faust und lasse sie mitten in Drews Gesicht sausen. Er stürzt sich auf mich und wir ringen miteinander, die Fäuste fliegen, bis Wenner und ein andere Trainer uns trennen.
»Wo ist Maggie?«, frage ich.
Wenner sieht mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Bei der Krankenschwester.«
»Ich muss zu ihr.«
»Du musst nur ins Zimmer des Direktors, Becker. Was ist bloß los mit dir?«
Ich werde in Meyers Büro gebracht. Ich habe gar keine andere Wahl, da Wenner meine Handgelenke hinter meinem Rücken zusammenhält. »Warte hier auf Mr Meyer«, weist der Trainer mich an.
Aber sobald er das Büro verlassen hat, springe ich über den Empfangstresen und öffne die Tür zum Krankenzimmer. Maggies Hose ist bis über die Knie hochgerollt.
Mein Blick fällt sofort auf ihre Narben.
Dort, wo die Ärzte sie zusammengenäht haben müssen, ziehen sich wütende rosa Linien über ihr Bein, als hätte ein wildes Tier sie mit seinen Krallen attackiert.
An ihrem Knie, wo die schlimmsten Narben sind, scheint Haut verpflanzt worden zu sein, denn sie ist dort dunkler und passt nicht zum Rest ihrer weichen elfenbeinfarbenen Haut.
Ich löse meinen Blick von ihrem Bein und sehe sie an. »Es tut mir so leid, Maggie«, sage ich.
Ihre Miene ist verbittert, ihr Blick umwölkt. »Hau ab, Caleb. Oder willst du ein Foto machen, das du Kendra zeigen kannst? Dann hättet ihr beide noch etwas, worüber ihr lachen könntet.«