30 Maggie

»Maggie!« Mrs Reynolds Stimme schallt durch das Haus.

Caleb weicht zurück und wirft mir einen hilflosen Blick zu. Dann sagt er: »Ich schätze, das ist mein Stichwort, zurück an die Arbeit zu gehen«, und verlässt die Küche.

Ich stehe da mit einer halben Zitrone in der Hand. Ich bin sprachlos. Ich bin aufgewühlt … ich bin ein Wrack. Caleb möchte da sein, wo ich bin.

Hier handelt es sich nicht um irgendeinen unwichtigen Typen. Wir reden von CALEB BECKER, dem Jungen, von dem ich, wie mir scheint, schon mein ganzes Leben lang träume. Der Junge, den ich früher von meinem Fenster aus beobachtete, nur um mich über die Zeit hinwegzutrösten, bis ich das nächste Mal im selben Raum wie er sein würde.

Wir reden von dem Jungen, der mich mit dem Auto angefahren und auf der Straße hat liegen lassen.

Aber wenn ich in seine Augen blicke, sehe ich, dass er nicht der Caleb Becker ist, den ich einst kannte. Der alte Caleb interessierte sich nur für sich selbst. Ich hatte nie das Gefühl, dass er sich der Welt um sich herum bewusst war oder dass sie ihm etwas bedeutete. Hat mein Herz begonnen, ihm zu vergeben?

Ich bin gestern Abend weggerannt, weil unser Kuss perfekt war. Er war so, wie ich mir unseren ersten Kuss immer erträumt hatte. Ich ließ ihn allein, weil ich Angst hatte, dass er mich nie wieder würde küssen wollen. Ich hatte Angst, dass er lachen würde oder … der perfekte Moment durch etwas ruiniert würde.

Als der Bus uns an der Ecke vor unseren Häusern absetzt, frage ich Caleb, ob er mit zu mir kommen möchte.

»Ist deine Mom zu Hause?«, fragt er.

»Sie kommt erst in einer Stunde.«

Er zuckt mit den Achseln und sagt: »Klar.«

Ich führe ihn in unser Haus und hinauf in mein Zimmer. »Mom würde ausflippen, wenn sie wüsste, dass du hier bist, in meinem Zimmer … allein mit mir.«

»Ja, meine auch«, sagt er. »Soll ich lieber gehen?«

Ich lächle. »Nein.« Es geht darum, unsere eigenen Entscheidungen zu treffen, und nicht darum, diejenigen zu befolgen, die unsere Eltern für uns getroffen haben.

Er betrachtet das in Gelb und Rosa gehaltene Zimmer, macht sich damit vertraut. Er nimmt ein Paar rot-weiße Boxhandschuhe, die über meinem Bett hängen in die Hand. »Deine?«

»Ich habe sie bekommen, als ich im Krankenhaus lag«, erzähle ich ihm. »Du weißt schon, sie sollten mich daran erinnern zu kämpfen.«

Er betrachtet die Boxhandschuhe mit einem wehmütigen Lächeln. »Ich bin das Kämpfen leid. Ich bin es leid, den Abend des Unfalls immer wieder zu durchleben.« Er sagt es fast zu sich selbst, als würde er einen persönlichen Gedanken mit mir teilen.

Ich nehme ihm die Boxhandschuhe aus der Hand. »Ich auch.« Und zum ersten Mal seit jener schicksalhaften Nacht meine ich es auch so. Als sein Blick sich in meinen bohrt, frage ich: »Warum willst du in meiner Nähe sein? Ehrlich.«

Er schüttelt ratlos den Kopf. »Ich weiß es nicht.« Er fährt sich frustriert mit der Hand über den Kopf. »Und, Mensch, ich weiß, dass es verrückt ist und ich mich so fern wie irgend möglich von dir halten sollte, aber … und das macht mich noch wahnsinnig … wenn ich bei dir bin, fühle ich endlich wieder etwas. Ich habe gestern Nacht wach gelegen und mir gewünscht, dich festzuhalten, bis all der Schmerz und die Taubheit vergehen. Als bräuchte ich dich, um den Verstand nicht zu verlieren. Ich hatte gedacht, es sei Kendra, dass sie mir helfen würde zu vergessen. Aber du bist diejenige. Du. Ist das nicht total krank, Maggie? Denn wenn du mir sagst, dass es total krank ist, glaube ich es vielleicht auch.«

»Es ist nicht krank, nicht im Geringsten«, stoße ich hervor. Dann gehe ich zu ihm und drücke ihn so fest ich kann an mich. Er legt seine Arme um mich und hält mich ebenso fest. »Wirst du mir je vergeben können?«, fragt er mit gebrochener Stimme.

Eine einzelne Träne rinnt meine Wange hinunter. Ich spüre ihre brennende Nässe auf meiner Haut. Ich kann nicht genau sagen, wann es passiert ist, aber etwas hat sich verändert. Ich habe mich verändert. Und ich glaube, es hat damit zu tun, dass ich die Vergangenheit endlich ruhen lassen kann. Ich bin bereit, mein Leben weiter zu leben. »Ich habe dir längst vergeben, Caleb«, versichere ich ihm.

Wir stehen lange so da. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist. Es ist, als würde ich ihm den Schmerz nehmen und er mir den meinen. Vorher war ich durcheinander … ich wusste nicht, was ich für ihn empfinde, was ich wegen des Unfalls empfinde. Aber wenn er mich im Arm hält, kann ich das Gefühl, verraten worden zu sein, loslassen, an das ich mich das ganze letzte Jahr geklammert habe. Als er sich von mir löst, höre ich ihn schniefen und sehe, wie er sich mit dem Handrücken über die Augen wischt. »Ich habe was im Auge.«

»Es ist in Ordnung zu weinen, Caleb. Ich werde niemandem davon erzählen.« Ich werfe einen Blick auf den Wandschrank, in dem mein Tennisschläger versteckt ist. »Ich weine oft.«

»Ach ja? Nun, das werde ich ändern.«

Das hat er bereits.

»Meine Mutter kommt jede Minute nach Hause«, sage ich, während ich wie hypnotisiert in ein Paar klare blaue Augen starre.

»Dann gehe ich wohl besser.«

Ich nicke. »Okay.«

Er tritt näher, so nahe, dass ich seinen Herzschlag an meinem spüren kann. Ich halte den Atem an, als er sich zurücklehnt und seine Hände an meine Wangen legt. Er fährt federleicht mit dem Daumen über meine Lippen, zieht Ober-und Unterlippe nach, während er mit seinem Finger darüber streicht.

»Du hast ganz weiche Lippen«, sagt er.

»Du weißt schon, dass ich … äh … nicht besonders viel Erfahrung im Küssen habe«, sage ich schüchtern. Ich senke den Kopf und unterbreche unseren Blickkontakt. Ich kann ihn nicht dabei ansehen, während ich es sage. »Ich meine, ich bin, was das angeht, nicht wie Kendra. Du bist wahrscheinlich Mädchen gewohnt, die wissen, was sie tun, und für mich ist das alles neu und es wäre mir wirklich, wirklich peinlich, wenn ich es schlecht machte oder falsch oder … oh, ich mache mich wahrscheinlich gerade furchtbar lächerlich.«

»Ich hatte nicht vor, dich zu küssen.«

»Nicht?« Ich hebe den Kopf und sehe ihn an. Natürlich nicht, Dummerchen. Warum sollte er an dir interessiert sein, wenn er mit einer zusammen sein kann, die weiß, was sie tut. Eine, die nicht dafür verantwortlich ist, dass er ins Gefängnis musste, sagt mir mein Verstand.

»Nein. Das nächste Mal, wenn ich dich küsse, werde ich mir Zeit dabei lassen, und du hast gesagt, deine Mom kommt jeden Moment nach Hause.«

Ich werfe einen Blick auf die Uhr auf meinem Nachttisch und nicke.

Er beißt sich tief in Gedanken versunken auf die Unterlippe. »Nein, das nächste Mal, wenn ich dich küsse, wird es eine lange, lange Zeit dauern. Und wenn wir fertig sind, wird dir klar sein, dass jemanden verrückt zu machen nichts damit zu tun hat, wie viel Erfahrung man mitbringt.

Während ich noch mit offenem Mund dastehe, geht Caleb die Treppe hinunter und aus dem Haus.