19 Caleb

Meine Hose ist beschissen eng und das Hemd hat so viel Stärke abbekommen, dass ich mir vorkomme wie ein Model kurz vorm Shooting. Aber ich hab’s hierher geschafft, auf das Herbstfestival. Sobald ich damit fertig bin, den perfekten Sohn zu spielen, hau ich auf der Stelle ab.

Ich entdecke meine Eltern neben dem Essensstand, wo sie sich mit einem anderen Paar unterhalten. Seit ich zurück bin, hat sich nicht das Geringste geändert. Meine Schwester ist immer noch ein Zombie, aber inzwischen fühlt es sich schlimmer an, weil sie mich seit unserer kleinen Szene in der Cafeteria völlig links liegen lässt. Meine Eltern haben kein Wort über den Unfall verloren, seit ich wieder zu Hause bin. Ich habe versucht, mit ihnen darüber zu reden, aber sie wollten nichts davon wissen.

Als ich auf meine Eltern zugehe, lächelt Mom. »Wir haben auf dich gewartet, Caleb.«

»Nun, da bin ich«, sage ich wenig begeistert, da ich mich nicht im Mindesten für das Scheinwerferlicht bereit fühle.

Mein Dad wirkt müde; er hat dunkle Ringe unter den Augen und hält sich nicht so gerade und aufrecht, wie ich es in Erinnerung habe. »Caleb, kennst du Dr. und Mrs Tremont noch? Dr. Tremont hat eine Zahnarztpraxis in Denton und soeben eine weitere in Paradise eröffnet, jetzt da Dr. Kryzanowich sich zur Ruhe gesetzt hat.«

»Ach, tatsächlich?«

Dr. Tremont deutet nach Osten. »Drüben an der Ecke Central und Carrigedale Road. Das neue Gebäude neben dem Kino. Hast du bestimmt schon mal gesehen.«

Ich schüttle den Kopf. »Bisher noch nicht.«

»Wo hast du denn gesteckt?«, sagt Dr. Tremont lachend. »Es ist das Gebäude mit dem großen Zahn vor der Tür.«

Dad läuft unter seinem Hemdkragen rot an. »Ich bin am Verhungern«, sagt er, bevor ich Dr. Tremont erzählen kann, dass ich seinen tollen Zahn noch nie gesehen habe, weil ich das letzte Jahr im Knast eingesperrt war. »Wie wäre es mit einer Kostprobe von der Spezialität meiner Frau, während Caleb seine Freunde suchen geht?«

Mom gelingt es auf bewundernswerte Weise, die Tremonts zum Buffet zu dirigieren und weg von mir. Meint ihr, Mom geht langsam auf, dass es nicht die beste Idee war, mich hier als den vermeintlich perfekten Sohn zu präsentieren? Meine Schwester gesellt sich zu ihnen, mich lässt sie komplett links liegen.

Das Herbstfestival ist der reinste Zoo. Es fällt schwer zu glauben, dass Paradise eine Kleinstadt ist, wenn man all die Leute sieht. Brian und die Jungs stehen neben dem Parkplatz rum.

»Wow, Caleb, wer hat dich bloß eingekleidet?«, quäkt Brian und schüttelt ungläubig den Kopf.

Ich schneide eine Grimasse. »Würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, dass es meine Mutter war?«

Brian nickt. »Jau. Paradise war ohne dich nicht dasselbe, Mann. Aber diese Klamotten müssen verschwinden.«

Drew lacht in sich hinein, während er sich eine Zigarette anzündet. »Du hast recht, Brian. Paradise ist nicht mehr dasselbe. Ich habe Mrs Armstrong mit dem Typen vom Diner tanzen sehen. Sie sahen ziemlich dicke aus. Meinst du sie … du weißt schon. Gott weiß, dass Maggie keinen abkriegen wird. An der Braut muss noch jede Menge geschnippelt werden, ehe ein Typ sich für sie interessiert. Vielleicht sollte sie sich für den Abschlussball ein Date übers Internet organisieren.«

Niemand lacht, weil Drew nicht witzig ist. Er hat sich wie ein Arschloch aufgeführt, seit ich wieder da bin, und sein Bestes gegeben, mich stinkwütend zu machen.

Tristan wirft einen Football in die Luft. »Wir sind auf dem Weg zum Footballplatz, um ein paar Bälle zu werfen. Lasst uns losziehen, bevor unsere Mütter uns nötigen, mit ihnen zu tanzen.«

Ich ziehe das alberne Hemd aus, während ich spiele, aber meinen Eiern wird von der Hose, die ich anhabe, das Blut abgeschnürt. Nach einer Dreiviertelstunde kehren wir zurück. Als Tristan und Brian ein ganzes Stück vor uns sind, packe ich Drew an der Schulter und stoße ihn mit dem Rücken gegen einen Baum. Es trifft ihn völlig unvorbereitet. Er hat keinen Schimmer, dass ich ihm am liebsten eine Abreibung verpassen würde. Eine Sache habe ich von den Kollegen im DOC gelernt … greif an, wenn der andere es am wenigsten erwartet.

»Hier ist der Deal«, sage ich leise und drohend, während ich sein Hemd packe und oben an seinem Hals zu einem Knoten verdrehe. »Du wirst aufhören, ständig Witze über Maggie, den Unfall oder den Knast zu machen. Kapiert? Wenn du weiter Müll von dir geben willst, bitteschön, aber das nächste Mal, wenn du das tust, landet meine Faust in deiner Fresse. Das ist ein Versprechen.«

»Ich hab doch nur Spaß gemacht«, röchelt Drew mit einer Spur von Hysterie in der Stimme. »Jesus, Caleb, mach dich locker.«

Ich lasse sein Hemd los, gebe ihm aber noch eine letzte Warnung mit. »Bis vor zwei Wochen habe ich noch mit einem Haufen Gangmitgliedern zusammengelebt. Sag mir nicht, ich soll mich locker machen.«

Es ist Donnerstagabend, fünf Tage nach dem Festival. Ich bin in Kendras Zimmer, während ihre Eltern irgendeine Dinnerveranstaltung besuchen. Wir müssten eigentlich lernen, wir schreiben morgen beide eine Arbeit.

Blöderweise ist mir vor ungefähr einer halben Stunde klargeworden, dass sie keineswegs vorhat zu lernen. Kendra stolziert vor mir auf und ab. Sie präsentiert die verschiedenen Outfits, die sie gestern in der Mall gekauft hat. »Also …« sagt sie und wirbelt in einem Designerkleid um die eigene Achse. »Was hältst du davon

Ich bin damit beschäftigt, die Magna Carta zu lesen. »Ich darf diese Arbeit nicht verhauen, Kend.«

Sie stemmt die Hände in die Hüften und zieht einen Schmollmund. »Ich schwöre, du widmest den Mädchen in der Schule mehr Aufmerksamkeit als mir.«

Ich gucke von meinem Buch hoch. »Machst du Witze?«

»Nein. Samantha Hunter hechelt dir in Sport hinterher und du fällst darauf rein. Und ich habe gehört, Emily Steinway und du habt euch in Bio bestens unterhalten.«

»Ich habe nicht mehr als zwei Worte mit Samantha gewechselt, Kend. Und Emily und ich sind Biopartner. Was soll das? Spionierst du mir etwa nach? Ich würde liebend gern allen erzählen, dass wir wieder zusammen sind. Du bist diejenige, die unsere Beziehung so verdammt geheim halten will.«

Diese Woche haben wir uns im Naturschutzpark getroffen, unter der Zuschauertribüne der Schule, und vorhin musste ich ihr Haus durch die Hintertür betreten, damit ihre Nachbarn mich nicht reinkommen sehen. Ich habe die Heimlichtuerei satt.

»Ich habe dir doch erzählt, dass mein Vater vor der Wiederwahl steht, Caleb. Seine Tochter darf nicht mit einem Exsträfling gesehen werden.«

Das kommt ihr so leicht über die Lippen. In ihrer Stimme ist nicht die Spur einer Entschuldigung oder eines Zögerns zu hören, als sie das Wort Exsträfling raushaut. »Ich muss los«, sage ich und schlage mein Geschichtsbuch zu.

Sie kommt auf mich zu, legt ihre Hand auf meine Brust. »Geh nicht. Ich sorge dafür, dass es sich für dich lohnen wird.«

»Wovon redest du?«

Sie streift langsam den Spaghettiträger von ihrer Schulter, enthüllt nackte Haut. Kurz darauf hat sie sich das Kleid ausgezogen und steht in einem schwarzen Spitzen—BH und passendem Höschen vor mir.

Mein Blick wandert über ihre cremeweiße Haut. Verflucht, ja, ich will es. Aber sie verhält sich nicht wie meine Freundin. Sie muss sich nicht ausziehen, damit ich hierbleibe. Sie muss nicht ihren Körper benutzen, um mich an sich zu binden. Das ist alles so krank. »Kendra …«

Sie macht einen Schritt auf mich zu und legt ihren Finger auf meine Lippen, um mich am Reden zu hindern. »Schhh, ich höre meine Eltern im Flur«, flüstert sie.

Verdammt.

Klar klopft eine Sekunde später jemand an die Tür. »Kendra, bist du zu Hause?«, fragt ihre Mutter durch die Tür.

»Äh, ja«, sagt Kendra laut und hebt das abgelegte Kleid vom Boden auf. »Geh in den Wandschrank, Caleb«, flüstert sie.

Es kann nicht wahr sein, dass das gerade passiert. »Ich verstecke mich nicht in deinem Wandschrank«, sage ich. Ich werde mich auf gar keinen Fall noch einmal einsperren lassen, selbst wenn es sich um den Wandschrank meiner Freundin handelt und nicht um eine Zelle.

»Schhh. Sie hören dich noch.«

Ihre Mom klopft erneut und sagt: »Mit wem redest du da? Kendra, mach die Tür auf.«

Kendra beeilt sich, ihr Kleid wieder anzuziehen. »Mit niemandem, Mom. Das ist bloß das Radio. Ich ziehe mich jetzt an. Ich bin in einer Minute unten, okay?«

»Beeil dich. Senator Boyle ist extra den ganzen Weg mit hierhergekommen, um dich kennenzulernen«, sagt ihre Mom. Dann höre ich Schritte, die sich von der Tür entfernen.

»Wann wirst du ihnen sagen, dass wir zusammen sind?«, frage ich Kendra. »Nach der Wahl?«

»Können wir das ein andermal besprechen?«, flüstert sie, während sie ihr Aussehen rasch im Spiegelbild überprüft. Ich beobachte, wie sie ungeheure Mengen Lipgloss aufträgt. Kirscharoma wabert zu meinen Nasenlöchern und ich frage mich, wie lange ich es noch aushalte, in diesem kirschgeschwängerten Raum gefangen zu sein, bevor ich das Bewusstsein verliere.

Ich öffne das Fenster.

»Was machst du da, Caleb?«

Ich lasse mein Geschichtsbuch auf den Rasen unter dem Fenster fallen und bete, dass es noch ganz sein wird, wenn ich es wieder aufhebe. Dann schwinge ich ein Bein über das Fensterbrett. »Abhauen.«

»Wir sind im zweiten Stock. Du wirst dich noch umbringen.«

Ich werde mich nicht in ihrem Zimmer verstecken wie ein Gefangener. Außerdem gelingt es mir vielleicht, einen Ast von dem Baum zu erwischen, der einen Meter vom Fenster entfernt steht, wenn ich hoch und weit genug springe.

Sie rennt auf mich zu. »CB, nicht!«

Ich sehe tief in ihre blauen Augen. Wieso nicht? Weil du mich liebst, weil du nicht möchtest, dass ich mir wehtue … weil du mich mit nach unten nehmen und deinen Eltern und ihren Freunden eröffnen willst, dass wir zusammen sind, egal was war, und dass niemand uns trennen kann?

»Ich bekomme Ärger, wenn sie dich entdecken«, verkündet sie.

»Man sieht sich in der Hölle«, sage ich zu Kendra, bevor ich mich auf das Fensterbrett stelle, ein kurzes Gebet spreche und springe.