22 Maggie

Am Montag mache ich mich nach der Schule auf den Weg zum Bus. Als ich einsteige, sehe ich Caleb, der schon hinten drin sitzt. Es war schlimm genug, letzte Woche auf dem engen Speicher Seite an Seite mit ihm zu arbeiten. Falls ich wieder mit ihm zusammenarbeiten muss, kündige ich.

Aber dann kann ich mir abschminken, nach Spanien zu gehen.

Und wenn ich nicht nach Spanien gehe, werde ich Paradise nächstes Semester nicht verlassen.

Und wenn ich Paradise nächstes Semester nicht verlasse, werden Caleb und seine Freunde sich bis zum Abschlussball über mich schlapplachen, während ich zu Hause hocke und ihnen damit beweise, wie recht sie haben.

Vielleicht ist er heute gar nicht auf dem Weg zu Mrs Reynolds und ich flippe hier völlig grundlos aus. Vielleicht arbeitet er irgendwo anders und erledigt komische Jobs. Aber als er mir in Mrs Reynolds’ Garten folgt, werden meine Ängste Wirklichkeit.

»Kommt herein, ihr beiden. Irina hat Kuchen vorbeigebracht.« Mrs Reynolds geht ins Haus, ohne zu bemerken, dass weder Caleb noch ich ihr folgen.

»Hat ja lang genug gedauert«, sagt Mrs Reynolds, als ich schließlich in die Küche komme. »Hier, ich habe euch beiden ein Stück abgeschnitten.«

Ich setze mich an den Küchentisch und starre den Kuchen an. Normalerweise würde ich ihn im Handumdrehen verputzen, aber ich kann nicht. Caleb kommt herein und nimmt mir gegenüber Platz. Ich konzentriere meinen Blick auf die Wand, als wäre das Stillleben einer Obstschale das Faszinierendste, was ich je gesehen habe.

»Margaret, erinnerst du dich, wie du zu mir gesagt hast, ich sollte mir einen Pavillon bauen lassen?«

»Ja«, erwidere ich zurückhaltend.

Mrs Reynolds reckt das Kinn in die Höhe. »Nun, Caleb wird mir helfen, diesen Traum wahr werden zu lassen. Es wird sicherlich einige Wochen dauern, aber …«

Einige Wochen? »Wenn er bleibt, kündige ich«, stoße ich hervor. Einige Wochen?

Ich höre es klappern, als Calebs Gabel auf den Teller fällt, dann steht er auf und stürmt aus dem Raum.

Mrs Reynolds stützt ihr Gesicht in beide Hände und sagt: »Margaret, was soll dieser Unsinn, dass du kündigen willst? Aus welchem Grund?«

»Ich kann nicht mit ihm arbeiten, Mrs Reynolds. Er hat mir das angetan«, sage ich schluchzend.

»Was angetan, Kind?«

»Ich war im Gefängnis, weil ich betrunken Auto gefahren bin und Maggie angefahren habe«, sagt Caleb, der plötzlich wieder in der Tür steht.

Mrs Reynolds schnalzt missbilligend mit der Zunge, dann sagt sie: »Jetzt sitzen wir in der Patsche, was?«

Ich sehe sie verzweifelt an. »Bitte machen Sie, dass er geht.«

Es sieht ganz danach aus, als würde sie meinem Wunsch Folge leisten. Sie wird Caleb anweisen, ihr Haus zu verlassen.

Mrs Reynolds geht zu Caleb und sagt: »Sie müssen verstehen, dass meine erste Sorge Margaret gilt. Ich werde im Seniorenzentrum anrufen und sie bitten, Kontakt zu demjenigen aufzunehmen, der Sie für die Sozialstunden einteilt.«

»Bitte, Mrs Reynolds«, sagt Caleb zu ihr, seine Stimme klingt flehend. »Ich möchte nur diesen Job hier machen und danach einfach … wieder frei sein.«

Mrs Reynolds blickt zurück zu mir, ihre weisen Augen sagen mehr als tausend Worte. Vergib ihm.

Ich kann ihm nicht vergeben. Ich habe es versucht. Wenn er versehentlich die Kontrolle über seinen Wagen verloren und mich angefahren hätte, wäre es verzeihlich gewesen. Aber ich weiß nicht, ob der Unfall aus Versehen geschehen ist. Gott, tief in meinem Herzen kann ich nicht glauben, dass er mich absichtlich mit dem Auto angefahren hat. Aber zu viele Fragen sind immer noch unbeantwortet.

Fragen, von denen ich mir wünsche, dass sie unbeantwortet bleiben.

Sie haben gesagt, er habe mich auf der Straße liegen lassen wie ein Tier. Das ist unverzeihlich. Ich weiß nicht, ob ich je darüber hinwegkommen werde. Denn es erinnert mich zu sehr an das, was mein Vater getan hat. Er hat mich verlassen, ohne je einen Blick zurückzuwerfen. Und schlimmer noch, Caleb hat mir die eine Chance genommen, die ich hatte, um meinen Dad zu beeindrucken. Ich schiebe mich an Caleb vorbei und wende mich Richtung Dachboden. Einen Ort, wo es dunkel und einsam ist und ich allein sein kann. Ich denke nicht mal mehr an Schwarze-Witwen-Spinnen, als ich die Speichertür öffne und hineinhinke.

Mein Gott, früher betete ich den Boden an, auf dem Caleb wandelte. Er war groß, sah gut aus … und er gehörte klar zu den beliebten Leuten, während Leah und ich jederzeit in die Bedeutungslosigkeit hätten abrutschen können. Und als wäre das noch nicht genug, schien ihm nichts etwas anhaben zu können. Vielleicht lag es daran, dass Typen wie er stets bekommen, was sie wollen. Sie müssen nie hart um etwas kämpfen. Vielleicht bin ich im Grunde meines Herzens froh, dass er gerade so eine schwere Zeit durchmacht. Und im Grunde meines Herzens weiß ich auch, wie selbstsüchtig es ist, so zu denken. Ich sollte mich nicht am Unglück von jemand anderem erfreuen.

Aber wie heißt es noch gleich? Keiner ist mit seinem Schmerz gern allein. Und ich leide Schmerzen, innerlich wie äußerlich. Da ist es doch nur fair, wenn die Person, die mit mir leidet, der Junge ist, der dafür gesorgt hat, dass es mir so mies geht.

Mrs Reynolds ist mir hinterhergekommen, das verrät mir der puderige Duft, der sie stets umgibt.

»Da hast du dir ja ein interessantes Versteck ausgesucht. Ich dachte, du hättest Angst vor Spinnen.«

»Die habe ich auch, aber im Dunkeln kann ich sie nicht sehen. Ist er weg?«, frage ich hoffnungsvoll.

Sie schüttelt den Kopf. »Wir müssen uns unterhalten.«

»Muss ich wirklich?«

»Lass es mich so sagen: Du wirst diesen Speicher nicht verlassen, bis du mich angehört hast.«

Geschlagen hocke ich mich auf eine der Truhen. »Ich höre.«

»Gut.« Sie nimmt auf dem Stuhl Platz, der noch immer hier oben steht. »Ich hatte eine Schwester«, sagt sie. »Ihr Name war Lottie. Sie war jünger als ich, klüger als ich, hübscher als ich, mit langen, schlanken Beinen und dichtem schwarzen Haar.«

Mrs Reynolds hebt den Blick zu mir und fährt fort. »Ich war damals das dicke Kind mit den leuchtend roten Haaren, das Kind bei dessen Anblick man unbewusst zusammenzuckte. Einen Sommer brachte ich in den Semesterferien einen Jungen vom College mit ins Sommerhaus meiner Eltern. Ich hatte Gewicht verloren, ich stand nicht länger im Schatten meiner Schwester und hatte endlich das Gefühl, mehr wert zu sein, als ich je geglaubt hatte zu verdienen.«

Ich sehe es bildlich vor mir. »Also haben Sie Ihre Ängste überwunden und sich verliebt?«

»In der Tat, ich verliebte mich Hals über Kopf. Sein Name war Fred.« Mrs Reynolds schweigt kurz, dann seufzt sie. »Er behandelte mich, als sei ich das unglaublichste Mädchen, das er je getroffen hatte. Zumindest solange, bis meine Schwester auf einen Überraschungsbesuch vorbeikam.« Sie blickt mir direkt in die Augen und zuckt mit den Schultern. »Ich habe ihn dabei ertappt, wie er sie an dem Tag, nachdem sie angekommen war, beim Bootssteg küsste.«

»Oh, mein Gott.«

»Ich hasste sie deswegen, beschuldigte sie, mir den Freund ausgespannt zu haben. Also packte ich meine Sachen, verließ das Sommerhaus und habe nie wieder ein Wort mit einem von ihnen gewechselt.«

»Sie haben nie wieder mit ihrer Schwester gesprochen?«, frage ich. »Nicht ein Mal?«

»Ich bin nicht einmal zu ihrer Hochzeit gegangen, die zwei Jahre später stattfand.«

Mir steht der Mund offen. »Sie hat Fred geheiratet?«

»Ganz genau. Und sie hatte vier Kinder mit ihm.«

»Wo sind sie jetzt?«

»Ich habe einen Anruf von einem ihrer Kinder erhalten, dass Lottie vor ein paar Jahren gestorben ist. Fred lebt in einem Altersheim. Er hat Alzheimer. Weißt du, was das Schlimmste daran ist?«

Ich bin erschüttert von ihrer Geschichte. »Was denn?«

Mrs Reynolds steht auf und tätschelt mein Knie. »Das, meine Liebe, ist das, was du ganz allein herausfinden musst.«

»Sie denken, Caleb sollte bleiben und den Pavillon bauen, oder?«, frage ich, als sie auf die Tür zugeht.

»Diese Entscheidung überlasse ich dir. Er wird nicht zurück ins Gefängnis müssen, wenn es nicht funktioniert. Das würde ich niemals zulassen. Ich habe den Eindruck, er ist ein Junge, der seine Fehler wiedergutmachen möchte, Maggie. Er wartet unten auf deine Antwort.«

Sie verlässt den Dachboden. Ich höre das Schlurfen ihrer orthopädischen Schuhe bei jeder Stufe, die sie nimmt. Kann ich nicht einfach hierbleiben – zwischen Spinnen und Spinnweben und antiken Truhen, die mit den Erinnerungen einer alten Dame gefüllt sind?

Ich kenne die Antwort bereits, als ich aufstehe und die Treppe hinuntergehe, um der einen Person gegenüberzutreten, der zu begegnen ich bisher um jeden Preis vermieden habe.

Er sitzt vorgebeugt auf dem Sofa im Wohnzimmer, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Als er mich reinkommen hört, hebt er den Kopf und sieht mich an. »Und?«

Ich sehe, er ist nicht gerade glücklich darüber, dass die Entscheidung bei mir liegt. Caleb war immer derjenige, der die Karten in der Hand hielt und wusste, welche er ausspielen musste, um seinen Willen zu bekommen. Aber nicht dieses Mal. Ich würde ihm so gerne befehlen zu verschwinden. Als Bestrafung dafür, dass er meine Liebe nicht erwidert hat. Aber ich weiß, das wäre idiotisch, kindisch und dumm. Abgesehen davon liebe ich Caleb nicht mehr. Ich mag ihn nicht einmal mehr. Ich bin überzeugt, dass er mir nicht länger wehtun kann, weder körperlich noch emotional. »Du kannst bleiben.«

Er nickt und will aufstehen.

»Warte. Ich habe zwei Bedingungen.«

Seine Augenbrauen schießen nach oben.

»Erstens, du wirst niemandem erzählen, dass wir zusammenarbeiten. Zweitens, du wirst nicht mit mir reden … ich ignoriere dich und du ignorierst mich.«

Ich denke schon, er will protestieren, denn seine Lippe kräuselt sich und er runzelt die Augenbrauen, als hielte er mich für bescheuert.

Doch dann sagt er: »Okay. Abgemacht«, und geht hinaus in den Garten.

Ich finde Mrs Reynolds in der Küche, wo sie am Tisch sitzt und einen Tee trinkt.

»Ich habe ihm gesagt, er könne bleiben«, informiere ich sie.

Mrs Reynolds wirft mir ein knappes Lächeln zu. »Ich bin stolz auf dich.«

»Ich nicht.«

»Du wirst darüber hinwegkommen«, sagt sie. »Bist du bereit, weitere Blumenzwiebeln zu pflanzen?«

Ich ziehe einen alten, abgetragenen Overall aus meinem Rucksack, damit es mir erspart bleibt, das Mumu anzuziehen.

Caleb wendet mir den Rücken zu, als ich nach draußen komme. Gut. Ich nehme eine Tüte mit Blumenzwiebeln und setze mich langsam und vorsichtig auf den Rasen. Mit einer kleinen Schaufel in der Hand beginne ich zu graben.

»Denk daran, Margaret. Zwölf Zentimeter tief«, sagt Mrs Reynolds hinter mir und beugt sich über meine Schulter, um meine Arbeit zu begutachten.

»Verstanden, zwölf Zentimeter.«

»Und achte darauf, dass du die Zwiebeln mit der richtigen Seite nach oben in die Kuhle legst.«

»Okay«, erwidere ich.

»Und streue sie gleichmäßig. Lege kein Muster mit ihnen, sonst sieht es nachher komisch aus.«

Die alte Dame nimmt sich einen Gartenstuhl und stellt ihn direkt neben mir hin, damit sie meine Arbeit überwachen kann.

»Wieso beaufsichtigen Sie nicht lieber ihn?«, frage ich und zeige auf Caleb, der sich ein paar Bretter genommen hat und sie irgendwie zu sortieren scheint.

»Er macht seine Sache gut. Außerdem weiß ich nicht das Geringste darüber, wie man einen Pavillon baut.«

Ich grabe drei Löcher, forme sorgfältig ein Bett aus weicher Erde für die Zwiebeln und setze sie in die Löcher. Dann rutsche ich ein Stück weiter, um noch mehr zu pflanzen. Nach einer Weile schläft Mrs Reynolds in ihrem Gartenstuhl ein. Das passiert ihr mindestens einmal pro Tag und wenn ich ihr dann erzähle, sie habe eine Stunde lang gedöst, weist sie das empört von sich. Es überrascht mich, dass sie bei Calebs lautem Gehämmer überhaupt schlafen kann, aber andererseits ist sie stocktaub, wie sie nicht müde wird zu betonen.

Ich werfe Caleb einen Blick zu. Er arbeitet schnell, er hat bereits damit begonnen, Holzdielen zusammenzunageln, als baue er tagtäglich einen Pavillon. Sein T-Shirt ist an Achseln, Brust und Rücken klitschnass vor Schweiß. Und es stört ihn offenbar nicht, dass eine meiner Bedingungen war, wir sollten einander ignorieren. Er bekommt das mit dem Ignorieren fantastisch hin. Ich glaube, er hat nicht ein Mal in meine Richtung geguckt.

Aber jetzt hört er auf zu hämmern. Und er wendet mir immer noch den Rücken zu, als er brüllt: »Könntest du bitte damit aufhören, mich anzustarren?«