21 Caleb
Ich schwöre, beinah wäre mein Bein unter mir weggeknickt. Denn die letzte Person, von der ich gedacht hätte, dass sie mir die Tür von Mrs Reynolds’ Haus öffnet, ist Maggie Armstrong, die ein lächerliches, viel zu großes Kleid trägt, das über und über mit rosa und grünen Blumen bedruckt ist.
Ich versuche noch, ihren Arm zu packen, als sie das Gleichgewicht verliert, aber da ist es auch schon passiert. Einmal auf dem Boden, weigert sie sich, meine ausgestreckte Hand zu ergreifen.
»Was … was machst du hier?«
»Was machst du hier?«, frage ich sie.
»Ich arbeite hier nach der Schule«, sagt sie, während sie gleichzeitig versucht, es so aussehen zu lassen, als sei sie völlig zufrieden damit, auf dem Boden sitzen zu bleiben.
Ich schiebe meinen Ausweis von der Strafvollzugsbehörde schnell zurück in die hintere Hosentasche. Dann überprüfe ich die Adresse in meiner Hand zweimal, ehe ich sage: »Ich bin hier, um eine Mrs Reynolds zu treffen. Das ist doch ihr Haus, oder?« Der Hass, den Maggie für mich empfindet, steht ihr ins Gesicht geschrieben. »Hör mal, dich hier zu sehen, überrascht mich auch«, sage ich. »Der Geschäftsführer vom Trusty Nail hat mich geschickt. Das Haus dieser Lady ist der nächste Job auf unserer Liste.«
Ich sehe zu, wie Maggie sich hochzieht. Offenbar hat sie Schmerzen. Das verraten mir ihre Finger, die sich zu einer festen Faust ballen.
Himmel, ihr zuzusehen, wie sie kämpft, dreht mir den Magen um. Denn indirekt habe ich ihr das angetan. »Es tut mir leid«, sage ich.
»Das kannst du dem Richter erzählen«, murmelt sie.
»Das habe ich«, erwidere ich wahrheitsgemäß. Nicht, dass es für Richter Farkus eine Rolle gespielt hätte. Der Typ wollte an mir ein Exempel für alle Straftäter statuieren, die sich betrunken hinters Steuer eines Autos setzen. »Was willst du von mir, Maggie?«
»Ich möchte, dass du verschwindest.«
»Das kann ich nicht«, sage ich.
Eine alte Dame schlurft aus den Tiefen des Hauses auf die Tür zu. »Sie müssen der junge Mann aus dem Sozialstundenprogramm sein«, sagt sie.
»Ja, Ma’am.« Ich stelle mich vor und gebe ihr meinen Sozialstundenausweis zur Überprüfung. Man muss ihn vorzeigen, bevor man ein Haus betritt.
Mrs Reynolds wirft einen Blick auf meinen Ausweis, dann gibt sie ihn mir zurück. »Gut, kommen Sie herein. Das hier ist Margaret, sie leistet mir Gesellschaft. Margaret, das hier ist … wie haben Sie gesagt, sei Ihr Name noch gleich?«
»Caleb.«
Mrs Reynolds sagt zu Maggie: »Caleb wird uns helfen. Zeig ihm den Dachboden und erläutere ihm unser Projekt, während ich nach den Plätzchen sehe, die ich im Ofen habe.«
Nachdem Mrs Reynolds außer Sichtweite ist, stelle ich meinen Rucksack auf den Boden. »Eine weitere unangenehme Situation, hm?«
Maggie steht so unbewegt da wie eine Statue.
»Ich wünschte, du wärst nie zurückgekommen«, sagt sie leise und umschlingt den Oberkörper mit den Armen.
Ich bin versucht abzuhauen und mich Damons Zorn zu stellen, weil ich die Sozialstunden geschmissen habe, aber ich mache es nicht. Ich sitze hier mit ihr fest.
»Ich gehe nirgendwohin, ehe ich nicht den Job für die Lady erledigt habe.«
Maggies Augen weiten sich erschrocken. Ihr Mund öffnet und schließt sich, ohne dass ein Wort herauskommt. Dann dreht sie sich um und geht weiter ins Haus hinein.
Ich folge ihr schweigend in den ersten Stock und von dort eine enge Treppe auf den Dachboden hinauf.
Maggie zeigt auf eine Schachtel. »Die muss entsorgt werden. Ich stelle die Sachen hierhin und du schmeißt sie weg.«
Ich nicke.
Wir arbeiten schweigend. Maggie stellt die Schachtel auf den Wegwerfstapel und ich trage sie ins Erdgeschoss. Mrs Reynolds weist mich an, die Schachteln in riesige Müllbeutel zu stopfen und anschließend zum Altpapiercontainer am Ende der Straße zu schleppen.
Eine Weile später kommt Mrs Reynolds mit einem Teller Plätzchen aus der Küche. »Hier, nehmen Sie die mit nach oben. Kleine Stärkung bei der Arbeit für Sie und Maggie.«
Ich betrete den Dachboden mit den Plätzchen in der Hand zum gefühlten hundertsten Mal heute. Maggie wirft eine Schachtel in meine Richtung, aber ich weiche ihr rasch aus. Das war Absicht, keine Frage. »Pass besser auf, ja?« Ich stelle den Teller auf eine Truhe, die in der Mitte des Raumes steht.
Maggie wendet mir den Rücken zu und ignoriert den Teller.
Sie glaubt, sie sei das einzige Opfer in dem ganzen Schlamassel. Jetzt muss ich einen klaren Kopf bewahren. Egal, was passiert, ich darf auf keinen Fall zulassen, dass sie Gefühle in mir weckt und die Wahrheit herauskommt.
»Hör mal, Maggie. Es war ein Unfall. Wenn ich den Tag ungeschehen machen könnte, würde ich es tun. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich es tun.«
Sie sieht mich jetzt an, mit zur Seite geneigtem Kopf. »Verrat mir, Caleb, wieso deine Entschuldigung in meinen Ohren so nichtssagend klingt.«
Ich stehe sprachlos da, während sie den Plätzchenteller nimmt und den Dachboden verlässt. Warum kann das hier nicht einfacher sein? Ich nehme die nächste Schachtel und hebe den Blick nicht mehr, bis alle entsorgt sind.
Maggie verlässt Mrs Reynolds’ Haus als Erste, doch ich bleibe noch etwas. Die alte Dame ist im Garten, als ich ihr die Bescheinigung zur Unterschrift vorlege und einen Stift reiche. »Danke, dass ich für Sie arbeiten durfte«, sage ich.
»Meinem Mann Albert, möge er in Frieden ruhen, war es wichtig, den vom Glück weniger Begünstigten zu helfen. Bringen Sie mich nicht dazu, meine Meinung über das Jugendstrafrecht zu äußern, sonst stehen wir in ein paar Wochen noch hier. Sie haben heute gute Arbeit geleistet.«
Ich werfe ihr ein dankbares Lächeln zu.
Sie beginnt, das Blatt auszufüllen, unterbricht jedoch mittendrin. »Hier steht, Sie hätten Erfahrung im Baugewerbe. Wissen Sie was? Ich habe vielleicht noch eine andere Aufgabe für Sie. Falls Sie Lust dazu haben, natürlich.«
»Was für eine Aufgabe?«
»Sind Sie handwerklich begabt?«
»Mehr als die meisten«, sage ich und grinse.
Die alte Dame zeigt auf einen Holzstapel in der hinteren Ecke des Gartens. »Also schön, Mr Mehr-als-die-meisten. Meinen Sie, Sie könnten mir aus diesem Stapel alten Holzes einen Pavillon bauen? Sie wissen doch, was ein Pavillon ist, oder?«
Ja, ich weiß, was das ist. Einen zu bauen wird mindestens ein paar Wochen dauern, wahrscheinlich sogar lange genug, um sämtliche Sozialstunden damit abzuleisten.
Was denke ich da? Ich kann nicht Seite an Seite mit Maggie arbeiten. Auf gar keinen Fall. Es würde niemals funktionieren.
Obwohl es nicht so ist, als würde ich tatsächlich mit ihr arbeiten. Ich wäre beim Bau des Pavillons auf mich allein gestellt. Die Art, wie Mrs Reynolds mich ansieht, voller Vertrauen, ist Balsam für mein geschundenes Ego. Ich denke nicht an Maggie. Ich denke nicht an richtig oder falsch. Ich platze heraus: »Ich kann Ihnen einen bauen.« Ich sollte ehrlich mit der alten Dame sein und ihr erzählen, weswegen ich verurteilt wurde. Und, noch wichtiger, wen ich laut Urteil angefahren habe. »Mrs Reynolds, ich will ehrlich mit Ihnen sein …«
Wie aufs Stichwort klingelt das Telefon. Die alte Dame nimmt ihren Gehstock und eilt ins Haus. »Kommen Sie einfach morgen wieder und wir führen unsere Unterhaltung dann weiter.«
Jetzt muss ich rennen, um den Bus noch zu erreichen. Als ich einsteige, sitzt Maggie in einer der vorderen Reihen, also gehe ich nach hinten durch.
Die fünfzehnminütige Fahrt kommt mir wie eine Stunde vor. An unserer Haltestelle sind wir die einzigen, die noch im Bus sitzen. Wir steigen aus und ich lasse sie vorausgehen, während ich langsamer folge.
Meine Schwester ist draußen. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie mich und Maggie hintereinander die Straße entlanggehen sieht, ist unbezahlbar.
»Bist du gerade mit Maggie nach Hause gekommen?«, fragt Leah und folgt mir ins Haus.
»Wir waren im selben Bus. Mach dir bloß nicht ins Hemd deswegen.«
»Weswegen soll Leah sich nicht ins Hemd machen?«, fragt meine Mom, die mitten in unsere Unterhaltung platzt, von der sie meiner Meinung nach besser nichts mitbekommen sollte.
»Nicht wichtig«, sage ich zu Mom, dann sehe ich meine Schwester mit schmalen Augen an und flüstere ihr so leise zu, dass nur sie mich hören kann: »Hör auf, so einen Wind deswegen zu machen.«
Leah flüchtet auf ihr Zimmer und knallt die Tür hinter sich zu. Mom kehrt vollkommen ahnungslos in die Küche zurück.
Die Beckers sind eine Bilderbuchfamilie. Eine megaverkorkste Bilderbuchfamilie.