Kapitel 7
„Das ist nur eine Theorie“, sagte Ludwig Feuerbach. „Eine kreative, aber dennoch nur eben dies. Ich bin noch nicht einmal überzeugt, dass es eine wirklich nutzbringende Theorie ist.“
„Alles Denken ist vorderhand theoretisch.“
„Wollen Sie denn dafür den Beweis erbringen, Professor?“
„Ich habe es vor.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, wie das gehen soll.“
„Sie beschäftigen sich damit, Kant zu widerlegen, Feuerbach. Die meisten Menschen halten das für ebenso unmöglich.“
„Aber dabei geht es um Philosophie. Was Sie beweisen wollen, gehört in den Bereich der Physik und Mathematik.“
„Sie tun Ihrer Wissenschaft unrecht, wenn Sie glauben, Philosophie wäre nicht genauso beweisbar und logisch wie Physik. Beide Disziplinen versuchen die Welt zu definieren.“
„Professor Lybratte, Sie lehren Mathematik. Sie definieren mit der Hilfe von Zahlen. Ich bin Philosoph, ich muss mich mit der Bedeutung an sich begnügen. Zahlen sind da weitaus objektiver.“
„Wir urteilen alle subjektiv. Wie auch sonst?“
„Sie wollen mir doch nicht erzählen, es gäbe in der Mathematik keine objektive Wahrheit – und das, wo Sie selbst Mathematiker sind?“
„Möchten Sie noch ein Glas Punsch, Herr Feuerbach?“, fragte Frau Lybratte und lächelte. Der Philosoph schüttelte ungeduldig den Kopf, dann sah er zur schönen Dame des Hauses hinüber und lächelte entschuldigend.
„Nein danke, Frau Lybratte.“
Professor Lybratte sah seine schöne Gattin an, und das Herz ging ihm auf. Ihr grüngoldenes Seidenkleid war von allererster Eleganz, schimmerte weich und kühl und gab den Blick auf ein perfektes Dekolleté frei, gefüllt mit zwei sanft gerundeten Fleischhügeln, weiß und begehrenswert, vom sanften Licht der Gaslampen beschienen. Mit jedem Atemzug lebte dieses Bild. Ihr flachsblondes Haar hatte sie zu einer kronenartigen Frisur aufgetürmt, die sie beinahe königlich aussehen ließ, selbst ohne die Smaragd- und Perlennadeln, die darin glänzten. Sie bewegte sich lautlos zwischen den Herrengruppen hin und her, die einzige anwesende Dame, hatte ein Lächeln für jeden und unterbrach mit einfühlsamer Freundlichkeit, wo eine Debatte einmal zu hitzig wurde. Ihre blassgrünen Augen flogen über die gesamte bunte Ansammlung von Gelehrten und Künstlern, die in diesem Haus zusammengekommen waren, um einen Abend gelehrter Disputation zu genießen.
Er liebte diese Abende, an denen feurige, gebildete Gemüter sich über die alten und neuen Fragen des Lebens hermachten. Es gefiel ihm auch, dass die Crème de la Crème der Schöpfungskraft zu ihm kam, Künstler und Komponisten. Er war der König einer Tafelrunde mentaler Überlegenheit, und seine Königin war die Schönste und Klügste von allen. Sie inspirierte ihn. Sie hatte sein Leben interessant gemacht, es war ein Fest an Herausforderungen und Erfolgen.
Es hielt ihn allerdings auch beschäftigt. Er bereitete sich auf seine wissenschaftlichen Soireen mit der gleichen Akribie vor wie auf die Vorlesungen an der Universität, denn er wusste, dass seine Reputation mit der Präsentation seiner Weisheit und seines Wissens wuchs, ganz egal, ob er an der Hochschule lehrte oder in seinem eigenen immer bekannter werdenden Salon glänzte. Ideen schienen in dieser Umgebung fast wie von selbst Gestalt anzunehmen. Alltagssorgen waren verschwunden, als ob seine neue Gattin sie fortgezaubert hätte. Er lebte für das Vorankommen großer Gedanken. Von ihm als Mittelpunkt aus wuchsen tiefe Einsicht und bedeutsame Spekulation wie ein Netz durch das Königreich. Sein bisheriges Leben erschien im unverzeihlich langweilig im Vergleich zu der Freude, die er nun spürte. Eine unscharfe Vergangenheit, die gegenüber dem, was wirklich zählte, im Hintergrund verblasste.
Er lächelte seinen Diskussionspartner beglückt an.
Feuerbach war kein Universitätsprofessor, aber dennoch ein brillanter Denker. Sein Vetter Anselm, der berühmte Maler, besuchte Professor Lybratte ebenfalls bisweilen, wenn er nicht gerade in Italien weilte. Er brachte seine Künstlerfreunde mit, und diese verliehen den Soireen besonderen Glanz und besonderes Feuer durch ihr Talent. Auch Erfinder und Vorreiter der neuen Technik kamen. Musiker gar. Sogar Richard Wagner war schon da gewesen, doch er hielt sich nicht häufig in München auf. Vielleicht würde eines Tages sogar der König persönlich vorbeikommen. Seine Majestät schätzte Wagner genauso wie er selbst.
Im Augenblick sprachen sie allerdings nicht über Musik. Sie redeten über objektive Realität.
„Natürlich gibt es in der Mathematik so etwas wie objektive Wahrheit. Das muss so sein. Doch in jeder Wissenschaft, die noch nicht zur Gänze erforscht ist, muss es zwangsläufig auch Fehleinschätzungen geben, Theorien, die sich von Forschergeneration zu Forschergeneration ändern, ganz wie das auch bisher der Fall war. Solange dieser Wandel noch anhält, wie kann man da von absoluter Wahrheit sprechen?“
Der Denker starrte ihn an, und Lybratte stellte fest, dass eine ganze Gruppe Gelehrter sich um sie versammelt hatte und einen Kreis um die Disputanten bildete. Sie waren alle sehr unterschiedlich, manche trugen formelle Abendbekleidung, manche waren in unkonventioneller Kleidung gekommen, die eine eher künstlerische Einstellung zum Leben verriet – und vielleicht auch einen dünnen Geldbeutel.
„Versuchen Sie mir zu sagen, Lybratte, dass, so wir nicht alles wissen, all das, was wir wissen, notwendigerweise falsch sein muss, weil es unfertig ist? Wenn das so wäre, wie wollten Sie je zu einem Urteil über irgendetwas kommen? Sofern Sie nicht eine vollkommene Erkenntnis Ihr Eigen nennen, könnten Sie sich niemals auf irgendetwas verlassen, selbst wenn Sie es selbst erleben. Wir könnten zum Beispiel hier stehen und Ihren exzellenten Punsch trinken – und Ihre exzellente Gattin bewundern – aber nichts davon müsste tatsächlich wahr sein. Wir könnten genauso gut einfach nur Schachfiguren auf dem Brett eines weitaus größer angelegten Spiels sein, das wir nur einfach nicht wahrnehmen.“
„Das halte ich für denkbar“, erklang eine trockene Stimme, die zu einem Mann Ende zwanzig mit ernstem und strengem Gesicht gehörte. Er saß etwas steif auf einem Stuhl und hielt in der Linken ein Paar Krücken. „Schachfiguren sind wir tatsächlich, und wir können die Realität nur als die wahrscheinlichste Antwort auf ein Problem sehen, das aus unzusammenhängenden Sinnlosigkeiten besteht. Vielleicht ist alles ganz anders. Ich halte das für absolut vorstellbar, fürchte ich.“
„Du lieber Himmel, das ist aber verwirrend“, lächelte Frau Lybratte. „Wie wollten Sie denn mit der Wirklichkeit umgehen, wenn Sie sie letztlich nicht für wirklich halten, Herr von Orven? Oder hoffen Sie einfach, dass sie in Wirklichkeit anders ist, mehr so wie Sie sie gerne hätten?“
Der junge Mann schenkte ihr ein Lächeln, das seine hellblauen Augen nicht erreichte. Er beantwortete die Frage nicht. Vielleicht fand er sie ein wenig beleidigend, vielleicht auch zu nahe an der Wahrheit. Eine andere Wirklichkeit, in der er seinen Körper nicht auf Krücken würde durch die Welt schleppen müssen, mochte dem versehrten Veteran des Sechsundsechziger Krieges wohl zupasskommen. Die Aufmerksamkeit seiner schönen Gastgeberin glitt jedoch bereits wieder von ihm ab, als die Hauptdisputanten ihr Wortgefecht fortsetzten.
„Wenn nichts wahr ist, sofern man nicht das ultimative Gesamtwissen von allem und jedem hat, wie sollte man je etwas beurteilen können?“, fragte Feuerbach. „Was wäre die Erfahrung der gesamten menschlichen Rasse und ihrer Entwicklung wert, wenn wir bis zur endgültigen Erleuchtung warten müssten, um zu wissen ob überhaupt irgendetwas wirklich und wahr ist?“
„Das scheint mir eine religiöse Frage zu sein“, murmelte von Orven, „nicht so sehr eine philosophische.“
„Aber nein“, gab der Philosoph zurück und wandte sich ein wenig nach dem Invaliden um. „Es ist einfach eine Grundsatzfrage. Sollten Dichter dichten, wenn sie doch fürchten müssen, dass sie ultimativ weder Wahrheit noch Perfektion erreichen können? Sollten Ärzte heilen, wenn sie doch nicht den Tod besiegen können? Sollten Mathematiker weiterhin die Gefilde der Zahlen erforschen, wenn es doch nur eine einzige ultimative Lösung gibt, und alles, was man vorher tut, falsch und nichtig ist? Würde das nicht die Myriade an Möglichkeiten auf nur noch zwei reduzieren? Richtig – falsch. Ja – nein. Null – eins. Würde Ihnen das gefallen, Lybratte?“
Der Professor lachte.
„Mein lieber Freund, ich mag ja die Sphären höheren Verständnisses und ultimativer Weisheit noch nicht erreicht haben und werde sie wohl auch nicht erreichen, aber ich bin mir sicher, dass die Mathematik nie so armselig werden wird, dass sie sich nur mit zwei Zahlen begnügt. Das, lassen Sie mich Ihnen versichern, kann zu überhaupt nichts führen.“
Die Herren lachten, die Dame auch. Nur der Blonde mit den Krücken zuckte die Achseln und meinte:
„Ich weiß nicht. Ein binäres System …“
Doch man ignorierte ihn, denn in diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und ein Diener kündigte einen neuen Gast an.
„Lord Edmond Roth-Crately.“
Die Tür schloss sich hinter dem jungen Mann, der die versammelten Damen und Herren anlächelte. Sie lächelten genauso höflich und offen zurück.
„Mein lieber Lord Edmond“, rief der Gastgeber aus, wandte sich von dem Philosophen ab und ging auf den neuen Gast zu. „Es ist großartig von Ihnen, uns mit Ihrem Besuch zu beehren. Wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen. Ich erinnere mich nicht einmal mehr …“ Einen Augenblick lang sah er verwirrt und verloren aus, dann lächelte er wieder und fuhr fort. „Doch es tut nichts zur Sache. Sie sind hier, und Sie sind sehr willkommen. Bitte, darf ich Ihnen meine Frau vorstellen?“
Frau Lybrattes Lächeln wirkte gezwungen.
„Mylord“, sagte sie, „welch ungeahnte … Überraschung.“
Sie knickste höflich, und er neigte sich über ihre Hand.
„Hochverehrte Frau Lybratte, es ist ein Vergnügen, Sie wiederzusehen.“ Der weißhaarige junge Mann wandte sich wieder an seinen Gastgeber. „Lybratte, mein Freund, ich habe Sie durch mein Kommen doch nicht überrascht?“
„Aber nein“, versicherte der Professor. „Absolut nicht. Hatten wir Sie nicht erwartet? Ich meine, mich zu erinnern …“ Er blickte verwirrt. „Sicher haben wir Sie erwartet, nicht wahr, mein Liebes?“ Er wandte sich seiner Gattin zu, die den Neuankömmling mit einem misstrauischen Blick bedachte.
„Natürlich haben wir ihn erwartet. Wie ausnehmend nett von Ihnen, Mylord, unserer Einladung zu folgen. Ganz besonders, da wir doch wissen, wie über alle Maßen beschäftigt Sie doch gerade sind, nicht wahr? Bitte lassen Sie mich Ihnen unsere anderen Gäste vorstellen.“
Die Dame des Hauses führte den Neuankömmling mitten in den Salon, und es begann eine Begrüßungsrunde. Nach einiger Zeit huben die Gespräche wieder an, wenngleich auch in kleineren Gruppen.
Professor Lybratte fand sich in einer Künstlerrunde wieder.
„Ich muss schon sagen, Herr Professor, ich finde es recht gewagt von Ihnen, gleich zwei Feuerbachs auf einmal einzuladen“, bemerkte Moritz von Schwind. Er war ein säuerlicher Mann um die Sechzig, rundgesichtig, ein wenig aufgedunsen und blass, nur wenig älter als sein Gastgeber, doch ganz erheblich weniger enthusiastisch der Welt und ihren unendlichen Möglichkeiten gegenüber. Sein Künstlerkollege, Anselm Feuerbach, blickte ihn böse an. Die Stilrichtungen der beiden Maler waren so unterschiedlich wie deren Charaktere. Da Feuerbach zudem dreißig Jahre jünger war, war es nicht wahrscheinlich, dass sie sich über irgendetwas je einig sein würden.
„Lieber von Schwind“, entgegnete Franz Lybratte mit einem vorsichtigen Lächeln, „es ist doch gerade die Vielfalt der unterschiedlichsten Dinge, die uns stets weiterbringt, und diese begabte Familie hat ja nun mehr als ein prominentes Mitglied. Zudem ist Ihr Kollege“, der Professor verneigte sich ein wenig in Richtung Feuerbach, dem Maler, „so ausnehmend selten in Bayern, dass ich mich durch seinen Besuch wahrlich sehr geehrt fühle.“
„Das ist wohl so“, gab von Schwind zurück. „Er sitzt weitaus lieber unter der Mittelmeersonne und bannt üppige, dunkelhaarige Schönheiten auf die Leinwand. Da müssen wir uns wohl alle wirklich sehr geehrt fühlen, dass er nun hier ist, an diesem wenig sinnlichen Ort, an dem keine Orangenblüten blühen und keine Olivenhaine die Kunstsinnigen dazu veranlassen, Damen zu malen, deren Temperament und Charakter vermutlich so hitzig sind wie das Klima, in dem sie gedeihen.“
Frau Lybratte erschien zwischen den beiden Kunstmalern.
„Jetzt sind Sie aber streng, mein lieber Herr von Schwind“, schalt sie lächelnd, und das Lächeln schien ihn ein wenig zu erweichen.
„Streng – und vermutlich neidisch“, gab Anselm Feuerbach giftig zurück, und seine gutaussehenden Gesichtszüge ließen ihn vor Ärger fast ein wenig unberechenbar wirken. „Aber ich weiß wirklich nicht, warum es so besonders interessant sein sollte, über meine Modelle nachzudenken, wo doch seine so viel ungewöhnlicher sind. Haben Sie Rübezahl persönlich kennengelernt? Und wie steht es mit all den Waldnymphen und mythischen Einsiedlern, die uns Ihre Bilder als existent vorgaukeln?“
Der ältere Maler holte tief Luft, doch einen Augenblick später sah er etwas verloren aus, als habe er just vergessen, was ihm zu sagen auf der Zunge lag. Lord Edmond hatte sich zwischen den beiden Streitenden eingefunden und wandte sich dem älteren zu.
„Ich mag Ihre Bilder sehr“, sagte er und lächelte den Mann an, der ein wenig errötete. „Sie zeigen uns die Welt, wie sie hätte sein können – oder wie sie vielleicht sogar ist, vorausgesetzt man wäre mit einer ganz eigenen Sichtweise gesegnet.“
Der alte Maler starrte den jungen Mann an und schloss nach einem Moment nachhaltig seinen offenhängenden Mund. Ein Lächeln verklärte seine Züge. Er verneigte sich vor dem neuen Gesprächspartner und vergaß überdies alle unmöglichen oder möglichen Feuerbachs im Raum.
„Viele Porträts male ich nicht, Mylord“, sagte er zu dem jungen Mann vor ihm. „Doch ich muss gestehen, dass ich Sie sehr gerne malen würde. Würden Sie es in Erwägung ziehen, mir Modell zu sitzen?“
Anselm Feuerbach wandte sich ab und schlenderte weiter. Leise sprach er einen weiteren jungen Mann an, der dem Gespräch zugehört hatte.
„Jetzt wird er seine Lordschaft wohl zu einem Waldelfen oder so etwas machen“, murmelte er. Seine feurigen Augen verrieten den Ärger hinter dem zur Schau gestellten Humor.
„Seine Lordschaft würde einen außerordentlich guten Waldelfen abgeben“, entgegnete der junge Mann mit einem kecken Grinsen. Er war etwa zehn Jahre jünger als Feuerbach, Anfang bis Mitte zwanzig, groß und schlank, mit wilden kastanienroten Locken, modisch langen Koteletten und glitzernden grauen Augen.
„Das würde er wirklich“, bemerkte von Orven, der neben den beiden jungen Malern saß. „Vielleicht wäre es noch nicht einmal allzu weit von der Wahrheit entfernt.“ Der blonde Mann mit den Krücken wirkte mit einem Mal verstört.
Die beiden anderen Herren sahen ihn an und grinsten.
„Jetzt sagen Sie bloß nicht, Sie glauben an Spukgestalten?“, spöttelte Feuerbach. „Ich war der Meinung, Sie repräsentieren die nüchtern denkende Fraktion erfinderischer, fortschrittsgläubiger Physiker in dieser hehren Runde.“
„Ich erfinde Maschinen“, gab von Orven trocken zurück.
„Sie haben eine Fabrik, nicht?“, fragte Feuerbach.
„Nicht viel mehr als eine Werkstatt. Wir stehen noch am Anfang.“
„Professor Lybratte hat Sie hochgelobt.“
„Professor Lybratte ist ein großzügiger Mann. Er war einer meiner Lehrer, als ich noch zur Universität ging. Das ist Jahre her.“ Zwei Augenpaare fixierten das Gesicht des Blonden, in dem festen Bemühen, sein körperliches Handicap zu ignorieren. „Lang vor dem Krieg“, fügte von Orven mit einem mürben Lächeln hinzu, und die beiden Herren nickten, als würde das alles erklären.
Die Unterhaltung verebbte.
Der jüngere Mann hub wieder an zu sprechen und bezog sich erneut auf von Orvens Reaktion auf Lord Edmond.
„Glauben Sie an Spukgestalten oder nicht?“
Blassblaue Augen blickten eisig in schimmernde graue.
„Glauben Sie an Wunder?“, fragte der Mann mit den Krücken.
„Aber natürlich.“ Der junge Mann zuckte mit den Schultern. „Doch das ist Religion. Was Sie angedeutet haben, hat mit Religion nicht das Mindeste zu tun. Glauben nüchtern denkende, erfinderische, fortschrittsgläubige Physiker an Spukgestalten?“
Zum ersten Mal erreichte das freundliche Lächeln von Orvens Augen.
„Haben Sie eine so festgefahrene Vorstellung von der Welt, werter Herr, dass Sie der schieren Möglichkeit von Übernatürlichem keinen Raum gönnen? Ob man es nun mag oder nicht – und ich selbst mag es gewiss nicht – aber es gibt Logen des Arkanen, die ihre Kunst vermitteln. Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde …“
„Schon“, unterbrach der junge Künstler. Fast wäre es unhöflich gewesen, wenn er nicht so enthusiastisch bei der Sache gewesen wäre. „Aber ich würde trotzdem ziemlich staunen, wenn ich einem Waldelfen höchstpersönlich begegnen würde – der dann auch noch für mich Modell sitzen würde.“
„Sie sind Kunstjünger?“
Der junge Maler grinste freundlich.
„Ich fange gerade erst an. Ich habe die Ehre, von der Münchner Kunstakademie angenommen worden zu sein. Herr von Schwind ist einer meiner Dozenten.“
„Dann sollten Sie ihn besser nicht verstimmen.“
„Gewiss nicht. Er lässt sich nicht gerne ärgern. Aber verzeihen Sie mir meine Unhöflichkeit. Darf ich mich Ihnen vorstellen? Mein Name ist Thorolf Treynstern.“
Die blassblauen Augen des sitzenden Mannes leuchteten in jähem Erkennen auf.
„Natürlich“, sagte er. „Ich hatte mich schon gefragt, warum Sie mir so bekannt vorkamen. Ich glaube, ich hatte die Ehre, Ihre werte Frau Mutter kennenzulernen. Frau Sophie Treynstern?“
„Das ist – meine Mutter.“ Der junge Mann sah mit einem Mal unglücklich aus.
„Sie kommt uns besuchen. Wir erwarten sie diese Woche“, fuhr von Orven fort und klang dabei peinlich neutral. „Sie ist eine Freundin meiner Frau.“
„Ach.“
„Wussten Sie nicht, dass sie nach München kommt?“
Der junge Mann sah ihn etwas schuldbewusst an und wirkte mit einem Mal noch jünger, während der blonde Invalide im Gegensatz immer älter zu werden schien. Die Erinnerung an Leid und Schmerz hatte seine Züge scharf und fast durchscheinend werden lassen, wie die vom Alter gezeichneter Menschen.
„Nein. Das wusste ich nicht. Doch ich hätte wohl damit rechnen müssen. Ich ließ sie gerade wissen, dass ich hierher übergesiedelt bin, um Künstler zu werden. Sie war bis dahin der Meinung, ich wäre auf dem besten Weg, ein berühmter Anwalt in Wien zu werden.“ Herr Treynstern seufzte. „Es war mir natürlich klar, dass sie meine Wahl nicht gutheißen würde. Doch ich habe eigentlich gehofft, sie würde nicht stante pede mit fliegenden Rockschößen hier auftauchen. Nicht dass ich mich über sie beklagen möchte. Sie ist gewiss eine wunderbare Mutter – so wie Mütter eben sind ... aber ...“
Einen Augenblick lang erhellte ein amüsiertes Grinsen von Orvens Züge.
„Ich habe Ihre Mutter als nervenstarke, bewunderungswürdige Dame kennengelernt. Ich denke nicht, dass Sie sich auf hysterische Anfälle und Tränenstürme gefasst machen müssen.“
Der junge Mann nickte und zog sich einen Stuhl heran.
„Gestatten Sie?“, fragte er, und von Orven nickte.
Er sah sich um, doch Feuerbach, der Maler hatte einen neuen Gesprächspartner gefunden, und Feuerbach, der Philosoph stand wieder beim Gastgeber und diskutierte heftig mit ihm. Satzfetzen durchdrangen bisweilen das restliche Gemurmel des Salons.
„Aber wenn es Ihnen gelänge, in die Zeit einzugreifen, ginge jede Absolutheit vollständig verloren. Nichts wäre je endgültig wahr, denn alles könnte sich ändern“, argumentierte der Philosoph.
„Im Gegenteil. Könnte ich in die Zeit an sich eingreifen, würde ich das Leben als Ganzes erkennen und somit Wahrheit als solche begreifen.“ Wieder sanken die Stimmen in den Hintergrund.
Von Schwind hatte sich am Tisch mit den Erfrischungen eingefunden und blickte ein wenig streitsüchtig drein. Thorolf Treyn-stern lenkte den Blick wieder auf den Herrn neben sich.
„Wo haben Sie meine Mutter kennengelernt?“, fragte er.
„In Österreich, 1865. Sie sollten sie selbst danach fragen. Sie kann Ihnen das alles viel besser erzählen als ich. Sie war sehr nett zu meiner Gattin – die damals noch nicht meine Gattin war. Wir hatten uns eben erst kennengelernt.“
„Natürlich ist meine Mutter ausnehmend reizend. Bitte denken Sie nicht, dass ich das bezweifle. Die beste Mutter, die man haben kann. Lieb und verständnisvoll – meistens. Aber sie kann auch ein ziemlicher Drache sein, trotz ihres Charmes.“
Ein Schatten fiel auf die beiden, und sie blickten in leuchtende graue Augen. Lord Edmond war zu ihnen gestoßen.
„Ein Drache? Wen meinen Sie, meine Herren?“, witzelte er.
„Wir sprachen von meiner Mutter“, gab Thorolf Treynstern zurück. „Doch sie ist natürlich keineswegs ein Drache.“
„Selbstverständlich nicht“, meinte der Brite und verneigte sich lächelnd. „Das hatte ich nicht angenommen.“
Ein Grinsen zog sich über das Gesicht des jungen Künstlers.
„Lord Edmond, kann es sein, dass Sie an Drachen glauben? Wie interessant! Ein Physiker, der an Spukgestalten glaubt, ein britischer Edelmann, der an Drachen glaubt – und ich, ich teile meine Künstlergefilde mit einem Gentleman, der sich – wenn ich mich nicht sehr irre – für arkane Angelegenheiten interessiert. Wissen Sie, als ich noch in Wien Jura studiert habe, war meine Welt erheblich langweiliger und farbloser. Ich bin zutiefst dankbar.“
„Das sollten Sie auch sein“, entgegnete von Orven. „Farbe ist schließlich Ihr Medium. Also freuen Sie sich über jede neue Nuance!“
„Ich versichere Ihnen, ich stehe jedweder Horizonterweiterung offen und bereit gegenüber, Herr von Orven. Je unglaublicher, desto besser.“
Lord Edmond kicherte amüsiert, und seine Augen funkelten beinahe so intensiv wie seine diamantbesetzte Krawattennadel.
„Seien Sie vorsichtig, was Sie sich wünschen“, warnte er. „Das Leben ist voller Überraschungen.“