Kapitel 56
Ians Schlafzimmer war klein, ordentlich und schmucklos. Hier hingen keine Skizzen an den Wänden und keine Kleidungsstücke über dem Stuhl. Das Fenster stand halb offen und ließ frische Luft in den Raum. Auf seinem Bett lag ein sauber gefaltetes Hemd, ein Paar Hosen, ein Gürtel, eine Weste, ein Gehrock, ein Paar Wollsocken und sogar etwas Unterzeug. Sie wurde rot. Seine Unterkleidung konnte sie nicht gut tragen, oder doch?
Sie trat ans Bett und ließ die Decke fallen, öffnete den Mantel. Zwei Hände fassten von hinten nach ihr und halfen ihr aus dem Kleidungsstück.
Sie schrie.
Der Klang ihrer Stimme verließ den Raum nicht. Er hallte von unsichtbaren Wänden wider, die sich dicht um sie geschlossen hatten. Sehen konnte sie sie nicht, aber sie fühlte ihre Dicke, wusste, dass die Männer auf der anderen Seite der Tür sie nicht gehört hatten. Sie wirbelte herum, versuchte gleichzeitig nach hinten auszuweichen. Sie stolperte und fiel aufs Bett, mitten auf die dort ausgebreitete Kleidung.
Graue Augen hielten ihren Blick. Weißes Haar schimmerte im Lampenlicht. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen, aber nicht in seinen Augen. Er musterte sie ohne irgendein Gefühl. Sie erinnerte sich an die finstre Ausstrahlung, die sie als Katze so deutlich gefühlt hatte. Ein Fünkchen Wiedererkennen keimte in ihr auf, Sinne erwachten in Catty dem Mädchen, die es zuvor noch nicht gehabt hatte.
Sie schrie erneut. Er schüttelte den Kopf.
„Lass das, Liebchen. Sie können dich nicht hören, und die Tonhöhe ist alles andere als angenehm.“
Sie zerrte an der Kleidung unter ihr und versuchte, sich zu bedecken. Von der einen Schlafkammer in die nächste. Von einem Peiniger zum nächsten. Nur würde dieser hier ihr keinen Tee kochen. Sie erinnerte sich daran, dass sie ihm vertraut hatte und ihm immer noch gerne vertrauen würde. Doch sie wollte ihm nicht nackt und bloß gegenüberstehen. Zudem spannte sich zwischen ihnen ein Graben von Dunkelheit, denn nun wusste sie um sein Geheimnis.
Er lächelte wieder.
„Du verschwendest nur Zeit. In meinem Tal warst du nicht so scheu. Meine Hände erforschten die Landschaft deiner zarten, jungen Haut, mein Liebchen, und beinahe hast du meinen Wein getrunken. Ich wünschte, du hättest es getan. Für dein eigenes Wohlergehen wünschte ich das.“ Wirklich traurig klang er nicht, höchstens ein wenig besorgt.
„Das war ein Traum! In einem Traum kann man alles tun. Weil es nicht wirklich ist“, protestierte sie, während sie gleichzeitig wusste, dass es nie nur ein Traum gewesen war.
„Ich sollte wirklich schockiert sein“, fuhr er spöttisch fort, ohne ihren Einwurf zu beachten. „Eine junge Dame aus den besten Kreisen lebt mit zwei Männern von übelstem Leumund. Ein Künstler und ein Zauberer. Das gehört sich nicht. Unmoralisch!“
„Sie verstehen nicht! Ich war …“
„Eine Katze. Ich weiß. Ich weiß nicht, wie du das bewerkstelligt hast, aber es war eindrucksvoll.“
„Das war ich nicht. Da war diese Spinne …“
„Die Spinne?“ Er lachte. „Die hatte nichts damit zu tun, Liebchen. Die wollte dich nur umgarnen und deine süße Seele küssen.“
Sie starrte ihn an.
„Komm jetzt“, befahl er leise. „Wir gehen heim.“
„Heim? Wohin? Ich gehe nirgendwo mit Ihnen hin! Sie können mich nicht dazu zwingen!“, rief sie und merkte, dass sie allzu kindlich klang.
Ein Leben mit ihm hatte er ihr angeboten. Was bot er ihr jetzt? Sie erinnerte sich an den Brief, den sie ihm geschrieben hatte. Monate schien es her zu sein, dass sie sich mit den genauen Formulierungen abgequält hatte. Es war ihr so wichtig erschienen, dass er verstand, wie sehr sie ihn schätzte, auch wenn sie nicht mit ihm gehen wollte.
Sie starrte an ihm vorbei zur Tür, überlegte, ob es möglich war, sie zu erreichen, Hilfe von ihren Freunden zu erhalten. Denn das waren die beiden. Ihre Freunde auf der anderen Seite der Tür.
Doch sie würde nie an ihm vorbeikommen.
„In dein Zuhause“, beantwortete er ihre letzte Frage. „Dein Elternhaus. Außerdem kann ich dich sehr wohl dazu zwingen. Du kommst jetzt mit mir mit. Freiwillig. Oder ich hole die Gendarmerie, und deine Herren Freunde wirft man ins Gefängnis, weil sie ein junges, unschuldiges Mädchen entführt haben. Dein Vater ist ein einflussreicher Mann, und deine Freunde sind zwei Ausländer, die ein einheimisches Mädchen zwei Tage in ihrer Wohnung gefangen gehalten und missbraucht haben. Sehr schockierend. Die bayerische Gerichtsbarkeit würde sicher keine Milde walten lassen. Ein unbedeutender Farbenkleckser und ein unheimlicher Zaubertrickser. Man kann sich kaum etwas Schlimmeres vorstellen. Die Leute wären entrüstet, und die Behörden werden dir wohl kaum glauben, dass du hier ganz ehrbar als Katze gehaust hast. Sie würden dich ganz einfach in eine Besserungsanstalt stecken. Willst du das wirklich? Willst du den beiden Männern das Leben ruinieren und sie jahrzehntelang leiden lassen?“
„Sie waren nett zu mir!“, protestierte sie. „Es gab auch überhaupt keine … Unmoral. Gar nicht …“
„Ich weiß. Du bist immer noch Jungfrau. Unberührt, unversehrt und unangetastet. Das spüre ich. Es inspiriert mich.“ Er schnüffelte an ihr, ohne näher zu kommen, doch sie fühlte sich auf einmal, als würde er sie intim berühren. Sie schüttelte sich vor Ekel.
„Sie will dich wiederhaben. Als Jungfrau. Also ist deine Jungfräulichkeit zunächst einmal sicher. Wenn du zu mir gekommen wärst – freiwillig – wäre alles ganz anders geworden. Du wärst gekommen, um mir deine Liebe zu schenken. Das hätte mir gefallen. Es hätte mir viel bedeutet.“ Er seufzte, ohne auch nur zu lächeln aufzuhören. „Mehr als du dir vorstellen kannst. Jemand, der sich freiwillig zu mir begibt, meinen Wein trinkt und mich so akzeptiert, wie ich bin. Auf einer solchen Liebe könnte man schon eine Dependance der Wirklichkeit einrichten. Ein solches Gefühl würde halten. Jemand, der mich liebt. Du hast mich doch geliebt, nicht wahr?“
„Ja“, gab sie schüchtern zur Antwort. Es war sinnlos, es zu leugnen. „Ich war verliebt in sie. Sie waren so nett.“
Er nickte.
„Nettigkeit. Eine nicht zu unterschätzende Waffe. Ich war nett, und die beiden Toren da draußen ebenfalls. Liebst du sie auch?“
Ob sie sie liebte? Sie wusste es nicht. Sie mochte sie sehr. Außerdem gehörten beide irgendwie ihr. Sie fühlte Thorolfs harten Angriff noch, und hörte seine Entschuldigung. Sie spürte noch Ians Schulter, an der sie geweint hatte. Catty, die Katze, hatte befunden, dass die beiden zur Familie gehörten. Damit waren sie Verwandte. Sie zu verlieren war fast unerträglich. Sie gehörten ihr.
„Nebensächlich“, fuhr er fort. „Du hast mich geliebt, und du hättest mir beibringen können, auch dich wiederum zu lieben. Die Schöne, die das Biest in einen Prinzen verwandelt. Ich hätte dein Prinz sein können. Ist das nicht, worauf alle jungen Mädchen hoffen? Dass sie ihren Prinzen treffen? Ich hätte dein Vertrauen geehrt – vielleicht sogar über meine Verpflichtung hinaus. Aber Liebe ist vergänglich und so flatterhaft wie du allenthalben bist. Du bist zu jung, um willensstark zu sein, und vielleicht ist das ja auch gut so. Also bringe ich dich zurück zu ihr. Sie braucht dich, und du liebst mich nicht mehr. Ich bin ja kein Mensch. Wie könntest du da?“
Er zitierte sie und klang bitter. Dann lachte er.
„Solche Vorurteile können einem schon das Herz brechen. Allerdings nicht mir. Mein Herz ist unzerbrechlich. Zudem besitze ich mehr als eines.“
Sie sah sich entsetzt um. Wie würde er sie hinausbringen? Durchs Fenster? War er so hereingekommen? Draußen war es dunkel, aber konnte er mehrere Stockwerke mit einem sich wehrenden, kreischenden Mädchen über der Schulter runterklettern? Einem nackten Mädchen? Würde er sie nackt durch halb München schleppen?
Vielleicht wartete draußen sein Wagen, wie in jener Nacht?
Ihr war kalt.
„Darf ich mir etwas anziehen?“, fragte sie, während sie begriff, dass sie den beiden Männern draußen nur Unglück und Verderben bringen würde. Sie wollte sie nicht ruinieren. Sie hatten sie aufgenommen, sie gefüttert, sie gekrault, und alles in allem waren sie netter zu ihr gewesen als ihre eigene Familie in den letzten Monaten.
Also würde sie mitgehen. Ihn zu bekämpfen war ohnehin unmöglich, und ihre Schreie blieben ungehört. Sie wählte das Unausweichliche.
Ihr Entführer schüttelte den Kopf.
„Das ist überflüssig. Niemand wird dich sehen. Komm!“
„Wohin?“
„Nach Hause. Wir nehmen eine Abkürzung.“
„Nach Hause? Zu Vater?“
„Zu deiner Mutter.“
„Lucilla?“
„Sie erwartet dich.“
Eine Mutter, die zu Hause wartete, sollte sich nicht so unheilsschwanger anhören.
„Sie wird wütend auf mich sein.“ Sie konnte ihrer Stiefmutter nicht begreiflich machen, was geschehen war. Dass sie das Haus verlassen hatte, um Lord Edmond abzuweisen, dass eine Riesenspinne sie gejagt hatte und dass sie in eine Katze verwandelt worden war. Zur überzeugenden Ausrede taugte nichts davon, und Miss Colpin würde wieder ihre Worte wie Klingen durch ihre Seele fahren lassen.
„Im Gegenteil. Lucilla wird erleichtert sein, dich zurückzubekommen, gesund und munter.“
„Sie mag mich gar nicht.“
„Aber sie lehnt dich auch nicht ab. Sie hat dich beschützt – sogar vor mir –, und nun braucht sie dich.“
„Sie braucht mich?“
„Ja. Du spielst eine große Rolle in ihrem Plan.“
Da war er wieder, der ominöse Plan, von dem sie schon auf dem Sims vor Miss Colpins Fenster gehört hatte.
„Was plant sie denn?“
Er lächelte und strich ihr mit einem Finger über die Wange. Dann fuhr er weiter an ihrem Kinn entlang zum Hals und ließ die Fingerspitzen auf ihrem Schlüsselbein ruhen. Catty stand reglos. Sie wollte nicht angefasst werden. Ihr war kalt, und sie fühlte sich roh und ungeschützt. Seine Finger waren kühl. Beide Männer jenseits der Tür hatten sich wärmer angefühlt.
Er hatte sie in jenem Traum, der kein Traum war, schon einmal berührt, und sie verstand es nicht, wusste nur, dass sie seine Nähe nicht mehr so genoss wie in jener Nacht. Catty, die Katze, hatte Geheimnisse entdeckt, die Catty, das Mädchen, kaum verarbeiten konnte. Er war kein Mensch, und er nahm sie mit sich wie eine Gefangene, um sie einem Feind zu übergeben, der Pläne mit ihr hatte. Was für Pläne?
„Macht es dir Spaß, wieder ein Mädchen zu sein?“, fragte er und ignorierte ihre letzte Frage.
„Ich weiß nicht“, gab sie zurück. „Katze sein ist in vielen Dingen leichter. Entscheidungen sind leichter. Die Dinge sind viel klarer.“ Sie blickte in das exquisite Männergesicht. Er sah so überwältigend gut aus, und dennoch berührte seine Schönheit sie nicht mehr. Sie wusste nun, dass er eine Kreatur der Nacht war, nichts als ein Schauermärchen, das Gestalt angenommen hatte. Sie war traurig über den Verlust, über das Fehlen von Liebe. Ganz hohl und leer fühlte sie sich. Als Katze hatte sie das nicht so empfunden. „Aber schließlich weiß ich nicht, warum ich überhaupt eine Katze war. Genauso wenig wie ich weiß, warum ich jetzt keine mehr bin.“
„Du warst bereit für die Rückverwandlung. Das hat geholfen. Mädchen deines Alters lassen sich von den Stimuli ihrer Körper regieren. Was hast du denn gefühlt, Liebchen? Behaupte nicht, dass es nichts war. Ich war ganz nah, musst du wissen, auf einem kleinen Spaziergang durch die Sommernacht mit deinem apollinischen Maler.“
Sie starrte ihn an.
„Aber er sagte, da sei eine Frau gewesen.“
Lord Edmond lachte.
„Die menschliche Wahrnehmung ist eine eingeschränkte Angelegenheit, Liebchen. Hier entlang!“
Er klang außerordentlich höflich. Gerade so, als eskortierte er sie in den Speisesaal, als sei all dies ganz normal und sie trüge ein weißes Debütantinnenkleid mit einer Perlenkette um den Hals.
„Sie werden ihm nichts tun, bitte?“, bat sie. „Sie werden doch beiden nichts tun? Sie waren so nett zu mir!“
„Nett. Nett. Nett. Sie waren nett, ich war nett. Bist du denn so armselig, dass du dich in jeden verliebst, der ein bisschen nett zu dir ist?“
„Es ist nichts Falsches daran, nett zu sein“, gab sie zurück.“ Sie wollten mich retten. Wissen Sie das noch? Ich weiß ja nicht, wovor, aber sie haben mir Ihre Hilfe angeboten.“
Er lächelte fast schwermütig.
„Du wolltest meine Hilfe nicht, Liebchen. Wir sollten Freunde sein, denn du sahst mich als Freund an. Das hast du mir geschrieben.“
„Sie haben meinen Brief gelesen?“
„Ich habe ihn in deiner Kleidung am Zaun gefunden.“
Sie starrte ihn an.
„Sie waren dort?“
„Natürlich. Nachdem ich dir die halbe Nacht nachgerannt war. Es ist schon erstaunlich, zu welchen Geschwindigkeiten Zweifüßler in der Lage sind, wenn man sie richtig motiviert.“
Er griff nach ihren Armen. Sie merkte, dass sie geschwankt hatte.
„Sie sind … “
„Ja. Ich bin … ich bin vieles. Ich bin Gentleman und Liebhaber, Jäger und dein schlimmster Alptraum oder dein schönster Traum. Ich bin das Biest, das der Schönen die Möglichkeit gab, es zu retten; die Chance, etwas Großes und Selbstloses zu tun. Doch du bist davongerannt. Deine Liebe war weder selbstlos noch mutig. Du hast nur einen billigen Weg aus deiner Misere gesucht und mich deshalb in meinem Werben ermutigt. Einen ebenso billigen Weg aus der Situation hast du gewählt, als du diesen Brief geschrieben hast. Selbst als du am Zaun nicht mehr weiterkonntest, hast du noch nach dem billigen, kleinen Ausweg gesucht. Doch jetzt bringe ich dich zurück zu Lucilla. Billige Auswege sind aus.“
Er vollführte eine Geste mit den Händen. Eine Tür aus Licht öffnete sich mitten in der Kammer und gab den Blick auf eine weiße Wolkenlandschaft frei. Er stieß sie ins Licht, und ihre nackten Füße sanken in den nebligen, weißen Sumpf.
„Auch sie ist vieles, und manches davon wirst du schon bald erfahren, solange noch Zeit ist.“
Er machte ein Geräusch wie ein verstörtes Katzenjammern und lächelte zynisch der verschwindenden Wirklichkeit hinterher. Das Schlafzimmer versank im Nichts.