Kapitel 81
Wasser und Feuer waren eins. Catty war in Flammen ertrunken. Am Boden dieses undenkbaren Flammenmeeres lag sie wie eine Schiffbrüchige, versunken, tot und vergessen. Lavaheiße Fischlein sammelten sich in schimmernden Schwärmen um sie herum. Sie schwammen einmal hier, einmal dorthin, und schließlich schossen sie alle auf sie zu aus jeder Richtung, durchbohrten ihr Fleisch und glitten durch sie hindurch. Sie war ein ausgebranntes Wrack, so viel verstand sie. Die mentale Energie der Menschen war durch sie hindurchgegangen, gerade so als würde jemand Luft in eine Esse pumpen. Sie war die Esse gewesen – ein Objekt, ein Katalysator, eine nützliches Instrument.
Die Fischlein fühlten sich wohl in ihr, sie erkannte ihre eigenen Gedanken und Erinnerungen. Sie hatten sich versteckt vor der Übermacht an fremden Ideen, die durch sie hindurchgestoben waren. Nun kamen sie wieder zurück.
Jemand hielt sie in den Armen.
Jemand schrie.
Sie erkannte ihre eigene Stimme. Doch sie war nicht allein. Ein Missklang an Schreien, Rufen und Angst schrillte in ihren Ohren, ließ sie zittern. Jemand drehte sie um, und während das noch geschah, verstand sie, dass sie rücklings in jemandes Armen gelegen hatte.
Schon wieder splitternackt.
„Alles wird gut, Kätzchen “, sagte eine angespannte, unendlich vertraute Stimme.
Gedanken schwärmten in ihrem Kopf umher, und ihr schwindelte. Es schien unmöglich, einen davon zu fassen. Sie erinnerte sich, dass die Arme, die sie schon eine Weile hielten, zu jemandem gehörten, der einen Teil des Ansturms gegen sie abgefangen hatte. Er hatte verhindert, dass sie zu Nichts verbrannt war, hatte ihr Leben eingefasst und es in Liebe geschützt und gehalten. Doch es war einfacher, zu schreien und die Augen geschlossen zu halten, als sich mit einer Situation auseinanderzusetzen, die doch nur unverständlich, grauenvoll und beängstigend war.
Jemand strich ihr das Haar aus der glühenden Stirn.
Jetzt erst merkte sie, dass sie beide auf dem Boden lagen. Der Teppich kratzte auf ihrer nackten Haut. Es musste der im Salon ihres Elternhauses sein.
Sie war daheim.
Ihr Vater war tot.
Außerdem mochte diese Arme genauso gut Lord Edmond gehören.
Ihre Augen flogen auf vor Schreck, und sie hörte auf zu schreien. Die grauen Augen vor ihrem Gesicht gehörten nicht ihrem Peiniger. Sie waren besorgt und voller Liebe. Kastanienbraune Locken umrahmten die Züge des Mannes, den sie so plötzlich und unerklärlich liebte. Ihr Prinz. Sein Rock und Hemd rauchten ein wenig, er roch nach Gewitter. Sie blickte in sein Gesicht, als könnte es das Heil in Zeiten des Chaos bringen. Er blickte ernst drein und selbst mehr als nur ein wenig verunsichert. Doch hauptsächlich verriet sein Ausdruck Sorge. Sorge um sie.
Nun wagte sie es, den Kopf weiter zu drehen, und erblickte das Spinnenwesen am anderen Ende des Raumes, das über einem Opfer kauerte. Sie erschauerte ob seiner Immanenz. Es dominierte den Raum. Blut floss aus mehreren Wunden im Oberkörper seiner Beute. Sie erkannte den Mann. Sie selbst hatte dem Mann auch Kratzer beigebracht, das war nur einen halben Tag her. Doch sie war nur eine kleine Katze gewesen, und nun wurde der Mann von einem Ungeheuer zerfetzt.
Während sie noch hinsah, schloss eine Gruppe Frauen, einen Kreis um die Szene. Ihre Gesichter wirkten hochkonzentriert, schon fast verzweifelt.
Eine sanfte Hand drehte ihren Kopf weg.
„Sieh nicht hin!“, sagte Thorolf.
„Es … bringt ihn um …“ Sie konnte sprechen. Sie war sich dessen nicht sicher gewesen.
„Es ist ein Mörder. Also tötet es. Du lebst. Sieh nicht hin.“
„Das ist Lord Edmond!“
„Es ist auch die Frau aus dem Tal, die ich getroffen habe. Als ich in der Nacht aufgewacht bin …“
Sie wand sich in seinen Armen, und er zog sie enger an sich.
„Ich werde dich fortbringen“, sagte er leise. „Deshalb bin ich hier. Ich bringe dich in Sicherheit.“
Ein weiterer Mann trat ins Blickfeld.
Sein dampfender Anzug roch wie etwas, das zu lange und zu heiß gebügelt worden war. Dunkelheit ging von ihm aus, und sie schrie noch einmal, versuchte zu fliehen, konnte sich nicht aus Thorolfs Armen befreien.
„Sie hat überlebt“, sagte die Stimme des Dunkels.
Durch die Aura erkannte sie den Vampir, der halb hinter ihrem Beschützer kniete. In einer schnellen und eleganten Bewegung zog er seine Jacke aus und hielt sie Thorolf hin.
„Bedecke sie!“ Dann kroch er zu den Frauen, deren weite Kleider den Blick auf die Mordszene verstellten. Die Damen summten. Die Harmonie ließ sie bis ins Mark erbeben. Sie fühlte sich krank und doch auch einen Augenblick lang unendlich weit erhoben. Ihre Zähne klapperten. Sie merkte kaum, wie Thorolf sie in den Gehrock des Vampirs einwickelte, der ihr bis zu den Knien reichte.
„Vetter!“, hörte sie den Vampir sagen. „Geh und suche dir deine Beute anderswo. Dieses Schlachtfeld ist nicht mehr dein Jagdgrund. Der Kampf ist vorbei!“
Als hätte jemand sie gestoßen, fiel der Kreis der Frauen nach außen hin auseinander. Wie die Kegel fielen sie um. Ärgerliche Schreie und Rufe brachen erneut aus. Röcke flogen, Unterzeug und Spitze wurde sichtbar.
Von Orven. Er hatte in jenem anderen Reich so schwach und vom Tode gezeichnet ausgesehen, und im Augenblick wirkte er kaum gesünder. Blut sickerte in den Teppich. Das Gesicht des Mannes war so blass wie sein Haar, seine Züge schmerzverzerrt – und wütend.
Die Spinne streckte sich, und Miss Colpin stand da, während der Vampir, der, wie Catty plötzlich feststellte, auch nicht sonderlich gesund aussah, versuchte sich hochzurappeln.
Da war auch Ian, der anständige, höfliche Ian, der sein Essen mit ihr geteilt hatte. Er zog den Vampir auf die Füße und gemeinsam traten sie der Gouvernante entgegen, die immer schon eine Spinne gewesen war.
Das war wirklich mutig, fand Catty, und ziemlich unvorsichtig. Sie begriff, welche Gefühle ihn dazu veranlassten, und staunte selbst, dass sie es verstand, ohne die Implikationen fassen zu können.
Eine neue Stimme schnitt in ihre Wahrnehmung. Sie sah auf. Der Mann war aufgestanden, stand nun fast über ihnen, ein dunkelhaariger, bärtiger Herr, dessen konservative Kleidung ebenfalls etwas Rauch von sich gab.
„Sie sind jetzt beschäftigt“, sagte er. „Bringen Sie sie hier raus. Schnell!“
Thorolf kam auf die Knie. Sie merkte, dass er zitterte. Das machte ihr zu schaffen, denn er war ihr immer so stark und mannhaft erschienen. Fast schien er nun zerbrechlich, fragil wie zu dünnes Glas. War er verletzt? Man hatte ihr gesagt, er läge im Sterben. Beinahe mochte sie es glauben und streckte ihre Hand nach ihm aus, um seine zu halten. Sie war warm und stark.
Der andere Mann, der gesprochen hatte, trat zu Ian und seinem unheimlichen Freund, und schon fielen auch sie rückwärts, trudelten über den Boden. Zum ersten Mal sah sie sich wieder ihrer Gouvernante gegenüber und versank in deren Blick.
„Ah, die süße Catty hat überlebt“, sagte das Geschöpf giftig, und Catty wusste, dass der Augenblick, in dem sie noch hätten fliehen können, vorüber war. Sie hatten zu lange gezögert. „Die süße Catty und ihre Freunde, die für sie sterben würden, in guten und in schlechten Tagen, bis dass der Tod euch scheidet ...“
„Sie sind nicht tot!“, empörte sich Catty und versuchte, sich mithilfe von Thorolfs Arm aufzurichten. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie der Vampir und die beiden anderen Männer sich mühsam wieder auf die Beine brachten. Sie wirkten geradeso desorientiert wie die Damen, die ebenfalls dabei waren, wieder vom Boden aufzustehen.
„Aber bald.“
„Warum?“, fragte der Mann, den sie nicht kannte. „Sie sollten uns dankbar sein – wir haben dafür gesorgt, dass Ihr wahnwitziger Plan funktioniert hat. Das Mädchen allein wäre daran zu Grunde gegangen. Wir haben das wahrlich nicht für Sie getan, doch schließlich und endlich haben wir Ihnen geholfen. Sie lebt, und wir leben, und Sie leben auch – was manch einer bedauern mag. Die Energie, die Sie transportieren wollten, wurde transportiert. Sogar die werten Herren, deren kreative Seelen Sie verwerten wollten, scheinen es überlebt zu haben – wenn man nach dem allgemeinen Schnarchpegel urteilen darf.“
Erst jetzt stellte Catty fest, dass die Gäste ihres Vaters noch auf dem Teppich lagen und den Eindruck vermittelten, fest und wohlig zu schlafen. Es war ihre Genialität gewesen, die sie durchflossen hatte – das verstand sie nun – um dann wieder zu ihnen zurückzufließen, als die Frauen ihren Gesang begonnen hatten. Dabei hatten die Männer das vollbracht, zu dem man sie hier versammelt hatte, ihre Sinne hatten Lucillas Geist berührt. Was sie damit getan hatte, wollte Catty gar nicht wissen.
Das Bild zweier pulsierender Leiber, verloren in den Tiefen körperlicher Liebe, und die mentale Energie weniger Auserwählter kam ihr in den Sinn, und sie wünschte sich, die fremden Eindrücke aus ihren Gedanken zu verbannen.
„Lucilla hat, was sie wollte“, sagte sie, als sie plötzlich begriff. „Für das hier hat sie mich gebraucht.“
Hinter dem Sí versuchte eine Frau im Dirndl, von Orvens Blutung zu stillen.
„Aber ich nicht“, zischelte Miss Colpin. „Ich wollte die Reste dieses Festes. Dich habe ich aufgegeben – für die Macht. Doch nichts habe ich dafür bekommen.“
„Die Seelen und Gedanken dieser Leute haben dir nie gehört. Du hattest kein Recht darauf!“, erklärte eine Alte, der eine ängstliche junge Dame aufhalf, die eben ins Zimmer getreten war.
Miss Colpin wandte sich nach ihr um und sah ihre Feindin kalt an.
„Es steht dir nicht zu, das zu entscheiden, Weib! Ich kriege euch alle, einen nach dem anderen. Bissen für Bissen. Die sogenannten ausgezeichneten Köpfe dort bekomme ich auch, und zum Schluss bekomme ich Fräulein Lybratte und die vermaledeiten drei Musketiere. Einer für alle und alle für mich.“
„Du wirst dir den Magen verderben“, kommentierte der Vampir trocken. Er hatte sich neben den Verletzten gekniet und riss ihm das Hemd mit blitzschneller Klaue auf. „Lassen Sie mich helfen!“, bat er die Frau neben von Orven. „Ich kann ihm die Wunde schließen.“
Miss Colpin lachte.
„Hungrig, Vetter? Sein Blut ist süß und voller Erinnerungen an eine Nacht, die die meine hätte sein müssen. Meine, verstehst du?“
„Offenbar hatte die Macht dazu eine andere Meinung.“ Der Vampir legte den Mund an die blutenden Wunden in von Orvens Brust, und einige Frauen schrien entsetzt auf. Von Orven hob abwehrend die Arme, um den Sí zu bekämpfen, doch Ian fing seine Handgelenke und hielt sie fest.
„Lassen Sie ihn helfen, Herr Leutnant“, sagte Ian, und Cattys Sinn wirbelte ob der Ungeheuerlichkeit dessen, was sie sah.
„Aber ja“, gurrte Miss Colpin allzu süßlich. „Hilf ihm nur, Vetter. Er gehört ganz dir. Du hast Hunger, nicht wahr? Viel zu viel Hunger, um einfach aufzuhören, ehe du mit ihm fertig bist. Ich kenne dich. Ich kann deine Gier spüren. Sie treibt dich mit unendlicher Gewalt. Saug ihn aus und hol dir deine eigene Kraft wieder. Du wirst sie noch brauchen, und ich erlaube dir sogar, es zu tun. Aus reinem Familiensinn. Jedem das seine. Das Blut für dich, die Todesangst für mich.“
Der Vampir schwieg. Er war damit beschäftigt, Blut zu trinken und die klaffende Wunde, die quer über von Orvens Brust lief, zu belecken. Direkt neben Catty fiel eine Dame in einem besonders teuren Abendkleid mit einem Aufseufzen in Ohnmacht. Einen Augenblick später ließ ein lautes Krachen Catty in die entgegengesetzte Richtung blicken. Dort hatte eine exotisch aussehende Frau in einem ebensolchen Kleid einen Stuhl hochgehoben, den sie heftig wieder und wieder gegen den polierten Tisch schlug. Als schließlich ein Teil von dem Stuhl abbrach, ergriff sie das spitze Holzstück wie ein Messer und stürzte auf den Vampir zu.
„Zurück, Unhold!“, rief sie aus.
Der Dunkle sah hoch, sein Mund war blutverschmiert.
„Mädchen“, sagte er und leckte sich die Lippen. Dann fing er ihr Handgelenk, drehte es nach außen und küsste ihr die Hand, als sie die Waffe fallen ließ. „Dein Vokabular ist geradezu klerikal altertümlich. Ein hübsches Ding wie du sollte sich einer anderen Ausdrucksweise befleißigen.“
Er stand auf, und schon hielt er sie im Arm. Dunkle Augen fixierten ihren Hals.
„Möchten Sie tanzen, Fräulein?“, murmelte er, dann ließ er sie abrupt los, als der Rest des zerbrochenen Stuhls in Richtung seines Kopfes geschwungen wurde. Er duckte sich, fing ihn, zog ihn der anderen jungen Frau aus den Händen, die ihn zur Waffe hatte machen wollen, und transferierte seine Aufmerksamkeit auf sie, während er ihre Handgelenke in einer Hand festhielt.
„Oh Gott!“, wimmerte sie. „Ich dachte, Sie wären auf unserer Seite! Bitte? Bitte tun Sie mir nicht weh!“ Sie begann nervös zu schluchzen, und eine wütende Schar von Frauen eilte sofort herbei und versuchte, ihn von ihr fortzuziehen.
Er ließ sie los, war damit beschäftigt, das Angriffsgeschwader auf Armeslänge von sich fort zu halten, ohne irgendetwas Drastisches zu tun.
„Weinen Sie nicht!“, sagte er erstaunlich sanft. „Greifen Sie außerdem keine Leute an, die Sie auf Ihrer Seite wähnen! Noch ein guter Rat fürs Leben: Attackieren Sie nie einen hungrigen Vampir!“
Die Szene brach, als hartes Gelächter durch den Raum hallte. Die Spinne hatte sich wieder in Lord Edmond verwandelt, und seine Lordschaft schien über alle Maßen belustigt zu. Er hatte sich aufs Sofa fallen lassen und lachte, gurgelte vor Schadenfreude.
„Hast du all deine Macht verloren, kleiner Vetter?“, fragte er und japste nach Luft. „Bist du nichts weiter als der Knecht auf dem Hühnerhof – und diese kopflosen Hühner hacken sogar nach dir? Nach dir, dem Schrecken der Nacht, dem Jäger menschlichen Blutes?“
„Jetzt wird es langsam albern“, bemerkte der Herr im konservativen Anzug. „Können wir das hier nicht bereden wie zivilisierte Menschen? Fey natürlich auch.“
„Ah, die Stimme der Vernunft!“, höhnte Lord Edmond und lachte immer noch. „Dich hatte ich nicht vergessen. Ich denke, ich fange mit dir an, kleiner Zauberer. Als Hors d‘oeuvre.“
„Das scheint eine logische Wahl zu sein“, gab der Mann zerstreut zurück. „Wenn man mal Ihren Verwandten aus dem Spiel lässt, bin ich hier vermutlich der einzige, der Ihnen gefährlich werden könnte. Nur, sagen Sie mir doch eines: Was macht Sie so schrecklich wütend? Warum verschwinden Sie nicht einfach? Das können Sie doch gut. Ich habe Sie vor der Loge eine ganz wunderbare Verschwindungsnummer vorführen sehen. Wiederholen Sie diese Vorstellung doch, es wäre an der Zeit. Hier will Sie keiner haben, und aus dem Durcheinander, das hier herrscht, würde ich schließen, dass niemand wirklich besondere Angst vor Ihnen hat. Soweit ich das verstehe, sind Sie noch nicht einmal ein Vampir.“
Der Weißhaarige sprang auf und spuckte fast vor Wut.
„Natürlich bin ich kein kümmerlicher Blutsauger! Ich nehme mir die Essenz des Lebens, kleiner, dummer Zauberkünstler, und deine werde ich alsbald …“
„Du bist richtig zornig, nicht wahr, Vetter?“, kommentierte der Vampir süßlich.
Der Seelendieb fuhr herum.
„Allerdings …“
„Dann hast du ja tatsächlich etwas dazugelernt.“ Diese Feststellung klang noch etwas süßer. Die beiden Sí starrten einander an. Es wurde ganz still im Raum. Etwas ganz besonderes schien vor sich zu gehen, Catty verstand jedoch nicht, was.
Schließlich trat der Weißhaarige vor und zerrte Catty so plötzlich vom Boden hoch, dass der Schreck sie wie ein Blitz durchzuckte und sie vor Angst aufschrie.
„Ich wollte, dass du mich lieben lehrst. Doch alles, was du mir beigebracht hast, ist Wut.“
„Ich verstehe nicht …“, rief Catty, und Thorolf, der ebenfalls aufgesprungen war, versuchte, sie aus dem Griff des Feyons zu lösen.
„Lassen Sie sie los!“, brüllte er und wurde vollends ignoriert.
„Du wolltest mich nicht lieben!“, bellte Lord Edmond beleidigt.
„Ich konnte nicht!“, schrie Catty. „Sie sind kein Mensch!“
„Er aber auch nicht!“, triumphierte die Stimme. „Dein weißer Ritter ist allenfalls grau.“ Er wirbelte sie herum, so dass sie direkt in Thorolfs Gesicht sah, und hielt sie an den Oberarmen fest. „Sieh genau hin! Du kannst es erkennen. Ich weiß, dass du es sehen kannst, wenn du nur dein verfluchtes, kleines Katzenhirn anstrengst.“
Catty starrte den Mann, den sie liebte, an. Er schloss schmerzlich die Augen und schluckte. Nun sah sie es. Es war kaum zu erkennen, kaum existent, doch seine Ausstrahlung hatte einen Fey-Schimmer, so man wirklich versuchte, ihn zu sehen.
Sie wankte.
Thorolf streckte die Hände nach ihr aus, um sie zu stützen, berührte sie aber nicht.
„Es tut mir leid“, sagte er. „Es tut mir sehr leid. Ich … will Ihnen dennoch helfen, wenn Sie es mir erlauben. Wenn Sie möchten, dass ich gehe, werde ich das tun. Ich verstehe …“
Sie starrte den attraktiven Mann an und fühlte den Schmerz in ihm, als wäre es ihr eigener. Sie war unfähig, Worte zu finden. So viel in einer einzigen Nacht zu verlieren schien zu schwer zu sein. Ihr Vater war tot. Ihr Prinz grau. Ein Feyon.
„Bitte erlauben Sie mir, dass ich Sie zu meiner Mutter bringe. Sie wären dort sicher“, fuhr er fort. „Sie ist ein richtiger Mensch, das versichere ich Ihnen.“
„Sie bleibt hier, im Haus ihres Vaters!“, verfügte die Alte. „Mit der Gouvernante.“
„Niemals!“, schrie Catty und versuchte, sich aus Lord Edmonds Griff zu befreien. Aus Miss Colpins Griff.
„Deiner einstigen Gouvernante. Fräulein Draiss. Das wird das Beste sein, unter den Umständen.“
„Mein Vater ist tot!“, rief Catty. „Lucilla hat ihn getötet. Sie hat ihn umgebracht!“
„Ja. Dein Vater ist tot“, sagte die Alte. „Das ist sehr traurig, und die Dienstboten werden ihn am Morgen finden. Seine Frau hat ihn verlassen, und er ist vor Gram gestorben. Du bist hier mit deiner Gouvernante, geradeso wie man es erwarten würde. Niemand wird sich darüber wundern. Dann ein Trauerjahr, in dem du fleißig lernen und studieren wirst – dein Ausnahmetalent muss man in die richtigen Bahnen lenken zu deinem eigenen Besten – und wenn die Welt dann nicht mehr so verwirrend ist, kannst du über deine Zukunft entscheiden.“
„Will jemand Tee?“, fragte Fräulein Draiss, die den Teewagen mit Tassen und zwei verschiedenen Teekannen hereinrollte. Catty starrte sie an und verstand gar nichts.
„Haben Sie nicht etwas vergessen?“, fragte Lord Edmond und stieß Catty auf die Couch. Ihr Aufschlag war so heftig, dass sie fast wieder von der Couch geschleudert wurde. „Sie werden alle sterben. Freilich werde ich als guter Brite gerne warten, bis Sie mit dem Tee fertig sind.“ Er verneigte sich formvollendet.
„Sinn für Humor?“, spottete der Vampir. „Du machst ja wirklich gewaltige Fortschritte, Vetter. Wenn du jetzt noch aufhören könntest, die anwesenden Herrschaften zu bedrohen, würdest du vielleicht sogar feststellen, dass du gelernt hast zu lieben. Stell dir nur vor, was für ein Pech, wenn dir deine plötzliche Entwicklung tatsächlich ein Gewissen verschafft hätte. Das wäre reichlich unbequem für dich.“
„Ich halte das für ausgeschlossen“, murmelte die Alte eisig.
„Ich konnte immer schon lieben“, versicherte Lord Edmond mit der Überzeugungskraft, mit der manch einer einen Eid vor Gericht schwören würde.
„Die Macht? Wie ehrgeizig!“, lachte der Vampir. „Doch nun hat man dich von ihr abgeschnitten. Haben die Damen dir die Tür zu deinem Wolkenparadies vor der Nase zugeschlagen?“
Catty begann zu begreifen. Dass er Lucilla liebte, hatte sie immerhin erahnt. Dass der Ritus, der die Tür zum Wolkenreich geschlossen hatte, Lucilla auf die eine und ihren Liebhaber auf die andere Seite verbannt hatte, hatte sie allerdings nicht gewusst.
„Ist das alles, was Sie wollen? Wieder bei Ihrem Drachen sein?“, fragte die alte Jungfer ein wenig abfällig. Der Weißhaarige starrte sie an, und nach einigen Augenblicken wandte sie mühsam den Blick von ihm ab. Er trat zu ihr, drehte ihr Gesicht mit langkralligen Händen wieder in seine Richtung und zwang sie, ihn anzusehen.
„Was weißt du schon davon, du vertrocknete Jungfrau? Du summst und singst, schaust zu und mischst dich ein und spielst deine manipulativen Spielchen hinter den Kulissen des Lebens, aber du weißt gar nichts.“
Er sog ihren Duft ein, zog sie zu sich und krallte eine Hand in ihr Haar. Ihre Augen waren weit, und sie blinzelte nicht. Catty sah, wie ihr eine Träne über die Wange rann.
Wieder scharten sich die Frauen um Edmond, und wieder wurden sie mit Macht zurückgestoßen.
„Tun Sie etwas!“, rief von Orven, der sich erhoben hatte und zu Arpad getreten war. Das Blut auf seinem zerfetzen Hemd sah schlimm aus, doch ihm schien es gut zu sehen. Er war nur etwas blass.
Arpad schüttelte den Kopf.
„Es gibt nichts, was ich tun kann.“
Von Orven sah ihn kritisch an und trat dann selbst vor, um einzugreifen. Catty wusste, dass das Spinnenwesen keinerlei Einmischung tolerieren würde. Der Vampir konnte Menschen heilen, doch nicht einmal die Macht selbst konnte Tote wiedererwecken.
So stand Catty auf. Diese Menschen hatten so viel für sie gewagt. Vermutlich war es an der Zeit, sich zu revanchieren. Sie war zu alt, um sich wie ein Kätzchen herumschubsen zu lassen.
Sie trat zu Lord Edmond und schob sich zwischen ihn und die Dame. Sie hatte die Stimme erkannt. Dies war Ians und Thorolfs Nachbarin. Die Welt war so ein kleiner Ort, und alles schien irgendwie miteinander verbunden zu sein. Fast konnte sie ein Muster erkennen.
Kalte Fäden der Macht spannten sich vom Monster zur Frau. Sie berührten Catty, doch sie zerriss sie, als sie dazwischentrat. Energie kroch über ihre Haut wie Schlingpflanzen. Sie nahm sich zusammen und zwang sich, nicht zu quieken und davonzurennen. Davonlaufen war nicht mehr möglich.
„Nicht!“, rief Thorolf, doch sie hörte weder auf ihn noch auf die anderen, die alle gleichzeitig auf sie einredeten und -schrien. Mit ihrem schmalen Körper drückte sie die Dame von dem Weißhaarigen fort und nahm seine Hände. Er sah ärgerlich aus, dann ging ein kaltes Lächeln über seine Züge.
„Ich habe Sie geliebt“, sagte sie. Seine Hände waren warm und trocken. So menschlich. „Für eine Weile. Ich habe mich gleich auf der Treppe in Sie verliebt, während Sie nichts anderes taten, als mich an der Nase herumzuführen. Die böse Miss Colpin im einen Moment, der charmante Lord Edmond im nächsten. Ich habe Sie geliebt, als Sie für mich Klavier gespielt haben, und ich habe Sie geliebt, wenn ich daran dachte, dass ich Sie wiedersehen würde. Doch das Problem mit Ihnen ist, dass Sie immer zu viel wollen. Alles, und gleich. Alles nur für Sie. Ich glaube nicht, dass wahre Liebe so ist. Seien Sie ehrlich: Sie sind ein wahrlich erschreckender Mann, und eine ziemlich unerträgliche Frau. Was die Spinne angeht, da möchte ich gar nichts dazu sagen.“ Sie schauderte. „Doch ich habe Sie geliebt, und Sie haben währenddessen Lucilla geliebt.“
Sie hob die Hände, während sie die seinen noch hielt.
„Sie haben das alles für sie getan. Vielleicht kann ich auch etwas für Sie tun.“ Sie konzentrierte sich auf den Augenblick in Miss Colpins Zimmer, als Catty, die Katze, so dringend einen Fluchtweg gebraucht hatte, etwas wie das Loch im Zaun, durch das sie in der dunkeln Gasse entkommen war. Wie hatte sie das nur gemacht? Sie wusste es nicht. Da war nur dieser ungeheuere Wunsch zu entkommen gewesen, eine Zeile von Shakespeare und ein Griff nach dem Unmöglichen. „Ha, mir juckt der Daumen sehr, etwas Böses kommt hieher! … öffnet mir, wer immer hier …“
Sie fühlte, wie der Vampir sich ihren mentalen Anstrengungen anschloss. So ein starker Geist. Wild und gewaltig. Sie fühlte das verzweifelte Sehnen und die überlegene Macht des verräterischen Mannes, dessen Hände sie hielt. Roh und rücksichtslos. Sie sah die seltsamen Energielinien um sich. Die Welt war ein Strickzeug. Man musste nur den richtigen Faden finden und dran ziehen. Nicht jeder hatte dieses Talent, es war selten, wusste sie jetzt. Sie konnte dies tun, weil sie anders war.
Sie legte ihrer beider Hände aneinander, Handfläche an Handfläche. Dann zogen sie zusammen die Wirklichkeit auseinander.
„Nicht!“, schrien einige der Frauen, und Catty wurde eines nervösen Summens gewahr, das ihr den Zugang verwehrte. Doch der Zugang war da, leuchtend und weiß und unheimlich in der Mitte des Raumes zwischen ihr und Lord Edmond. Über den Abgrund ins Nichts hinweg blickte sie in die hellgrauen Augen direkt vor ihr. Die marmorne Schönheit des kleinen, weißhaarigen Mannes berührte sie nicht mehr. Sein Blick schmolz zu etwas, das beinahe Anerkennung hätte sein mögen.
Dann spürte sie Lucilla, begriff, dass sie das Undenkbare getan und die Macht wieder in die Nähe gebracht hatte, obwohl so viele Menschen sich doch so viel Mühe gegeben hatten, sie zu bannen.
„Entscheide dich: Friss, bis du platzt, oder geh. Jetzt“, sagte der Vampir zu Edmond.
„Komm!“, erklang es von der anderen Seite.
„Gehen Sie!“, sagte Catty.
„Für immer!“, fügte die Alte hinzu.
Er ging. Die Welt knallte zu.
Cattys Knie gaben nach, und sie fiel, doch schon hatte sie jemand gefangen und hielt sie. Thorolf zog sie in die Arme, und sie kuschelte sich an ihn an, weinte an seiner Schulter, kroch beinahe in seine Jacke, konnte ihn nicht loslassen. Er war ein Zuhause, ihre Burg, ihre sichere Zuflucht. Eine Hand strich ihr sanft übers Haar, kraulte sie hinter den Ohren, wie er es getan hatte, als sie eine Katze gewesen war. Der andere Arm hielt sie mit beinahe zu viel Kraft fest. Sie hatte ihn für den illegitimen Sohn eines Prinzen gehalten. Er war kein Prinz. Doch für sie fühlte er sich so an.
Was immer er war, und er war warm und trostreich, und er gehörte ihr. Auch wenn sie nicht gleich für immer zusammen sein konnten, weil sie zu trauern hatte und zu lernen, wusste sie, dass auch sie zu ihm gehörte.
Seine Andersartigkeit war jetzt, da sie ihre eigene akzeptiert hatte, nicht mehr einschüchternd. In der kleinen Welt von interagierender Energie war er ihr Gegenpol, egal ob er Fey-Blut in den Adern hatte oder nicht. Langsam konnte sie aufhören zu schluchzen, und andere Gefühle, die mit Verzweiflung und Angst nichts zu tun hatten, beschlichen sie.
In seinen Armen sehnte sie sich nach ihm, nach allem, was er war, nach einem Leben, in dem sie seine Berührung spüren, sein Grinsen und das Glitzern in seinen Augen sehen würde. Ein Leben, in dem sie sich seiner kraftvolle Grazie und seines Lachens erfreuen konnte – und darauf harren würde, dass er sie hinter den Ohren kraulte.
Wusste er das? Sie sah in seine Augen. Darin erkannte sie die Erleichterung, und dahinter sah sie die Liebe.
„Vielleicht“, sagte eine Frauenstimme hinter ihr – Thorolfs Nachbarin?, „sollten Sie beide sich ins Empfangszimmer zurückziehen. Wir haben hier noch ein paar Dinge zu erledigen. Es ist Zeit die Gäste zu wecken, den Herren eine gute Tasse Tee anzubieten und sie nach Hause zu schicken in der Überzeugung, dass sie einen wirklich intellektuellen Abend verbracht haben.“
Thorolf nahm sie hoch und trug sie, und sie legte ihm die Arme um den Nacken. Wo der Gehrock des Vampirs zu kurz war, berührte er ihre entblößten Beine.
„Fräulein Draiss wird euch begleiten!“, befahl die Alte.
„Sehr anständig“, spöttelte Arpad. „Auf ein Wort, bevor Sie gehen, Fräulein Draiss …“
Im Hintergrund erklang eine höfliche Stimme: „Hätten Sie gerne etwas Tee, Mr. Sutton?“
Durch die Tränen hindurch begann Catty zu lachen, während Thorolf sie aus dem Zimmer trug und sie draußen im Korridor auf die Füße stellte. Die Fliesen waren kalt an ihren nackten Füßen. Sie sah irritiert zu ihm hoch, und er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie. Seine Koteletten kitzelten an ihrem Gesicht, seine Lippen spielten mit den ihren, öffneten sie, während seine Zähne ganz zärtlich in ihre Unterlippe bissen. Eine Zunge eroberte ihren Mund, und sie hieß sie willkommen, erst ein wenig erschreckt, dann voller Verlangen. Er hielt sie ganz fest, sie spürte seinen Körper an ihrem, und die kalten Fliesen waren mit einmal nicht mehr wichtig. Sie brannte.
Ein entrüstetes Hüsteln beendete die Intimität des Kusses. Fräulein Draiss.
Weder sie noch Thorolf sahen sich auch nur um.
„Liebes“, sagte er. „Das habe ich gebraucht, ehe man dich schon wieder von mir fortreißt, und ich schon wieder mit nichts zurückbleibe als dem traurigen Wissen, dass ich das, was ich am meisten auf der Welt wollte, schon wieder nicht getan habe.“ Dann flüsterte er. „Macht es dir sehr viel aus, dass ich bin, was ich bin?“
„Du bist mein Prinz“, flüsterte sie und fühlte sich noch nicht einmal dumm bei diesem Geständnis. „Du bist mein weißer Ritter.“
„Du bist mein Kätzchen, und ich liebe dich. Verschwinde nicht wieder.“
„Ich werde nicht verschwinden“, versicherte sie. „Ich werde genau hier auf dich warten.“
„Aber ich werde nicht da sein. Ich muss fort, bis sich der Wirbel um den Mord, den Lord Edmond begangen und für den ich verhaftet wurde, gelegt hat. Außerdem muss ich einen Weg finden, wie ich uns entsprechend gut versorgen kann.“
„Brav gesprochen“, unterbrach Fräulein Draiss trocken. „Sicher werden Sie auch entsprechende Hilfe dabei erhalten, wenn es darum geht, Gras über diese ungute Mordsache wachsen zu lassen. Doch jetzt muss Fräulein Lybratte zu Bett gehen. Es ist spät, und dies war ein anstrengender Tag für sie.“
Thorolf nickte.
„Gleich nach dem Gutenachtkuss.“