Kapitel 49
Lord Edmonds Logis lag in einem der besseren Viertel der Stadt und wirkte perfekt und klinisch rein, gerade als ob dort nie jemand wohnte. Er war nur selten zu Hause, blieb oft tagelang fort. Dennoch genoss er es, ein Heim zu haben, wann immer er sich länger an einem Ort aufhielt. Er brauchte es nicht, um sich als Herr des Reviers zu fühlen, denn wo immer er war wurde die Welt zu seinem Revier. Doch er mochte das Konzept von Zuhause, die Möglichkeit, einen Gast einzuladen, und das stilvolle Image eines „normalen“ Lebens.
Sein Diener hatte ihm Mantel, Handschuhe und Hut abgenommen und verstaut. Dann hatte der Mann sich wieder in die Küche gesetzt, wie er das immer tat, reglos, mit gefalteten Händen und leerem Blick. Wenn die Glocke sechs Uhr schlug, würde er etwas essen. Dazu brauchte er keine spezielle Anweisung von seinem Meister. Er konnte allein all die Verrichtungen erledigen, die einem Menschen unerlässlich waren. Doch für alles andere brauchte er einen Befehl.
Der Brite reiste nie ohne Stephan, seinen Diener. Er war Kammerdiener und Kutscher, Butler und Sekretär, er war, was immer benötigt wurde. Ihn loyal zu nennen bedeutete, die Lage zu verkennen. Für Loyalität brauchte man einen freien Willen.
Lord Edmond lief im Wohnzimmer seiner Mietwohnung auf und ab. Die Wohnung selbst befand sich im ersten Stock, wie es sich gehörte. Er nahm die Details der Einrichtung nicht wahr. Er mochte Schönheit, hatte einen Sinn für Mode und ein gutes Gespür für Stil. Doch im Moment war er mit anderen Dingen beschäftigt. Sein Spielchen war danebengegangen, und er konnte sich nicht einmal genau entsinnen, warum er es je begonnen hatte. Langeweile vermutlich. Das Mädchen war so süß, und ihre Aura wilder arkaner Energie zu verführerisch, um nicht danach zu greifen. Ein Zeitvertreib, ein Spielzeug, um sich damit zu amüsieren. Ihr Vertrauen entzückte ihn, und er triumphierte ob der Liebe, die ihm so freiwillig entgegengebracht wurde. Liebe, die man offeriert bekam, konnte man erwidern. Diese Liebe formte eine Basis, einen Grundstock für mehr. Er konnte ihr Abbild für sich kopieren, schätzte den Sinneseindruck. Mit ihrem besonderen und überaus seltenen Talent konnte die junge Frau ihn quasi vervollständigen – ein theoretischer Gedanke, nicht wirklich eine große Chance, keine echte Möglichkeit. Kaum mehr als Wunschdenken.
Vielleicht hatte sie ja das Recht zu spüren, wie es war, wenn man geliebt wurde. Ein Luxus, den er ihr gönnte, ehe es zu spät für sie war. Sicher konnte er auch sanft sein, und liebevoll. Die Möglichkeit mochte er haben, und der Gedanke gefiel ihm von Minute zu Minute besser. Lord Edmond, der zärtliche Liebhaber. So neu.
Ihr Herz hatte er erobert. Ihr Vertrauen hatte sie ihm entgegengebracht. Doch sein Plan war durchkreuzt worden, seine nette, auf Zufallsemotionen basierende Nebenhandlung. In der großen Oper spielte er nur im Pausenspektakel die Hauptrolle, und man hatte ihn gestört.
Er hätte es gar nicht erst beginnen sollen. Lucilla hatte andere Pläne für das Mädchen, und ihm war sehr wohl bewusst, dass es falsch war, Lucillas Wünsche zu durchkreuzen. Strategisch falsch, nicht unbedingt moralisch. Moral war etwas für Menschen. Er war kein Mensch und interessierte sich nicht für deren seltsame, logisch kaum fassbare Ethik. Gut und Böse hatte keinen Einfluss auf das, was er plante. Spaß oder Langeweile, Genuss oder Eintönigkeit, Befriedigung oder Frustration – das waren die Maximen, nach denen er sein Handeln ausrichtete. Er wollte das Leben spüren und es genießen, es nehmen oder es zerstören.
Einen Augenblick lang hatte er im Atelier des Malers geglaubt, das Mädchen zu spüren, doch das Abbild ihrer Aura hatte sich verflüchtigt, war nicht mehr als eine Erinnerung des Malers gewesen, die wie ein Duft in der Luft hing. Er hätte die Wohnung durchsuchen können. Aber dazu hätte er den Maler ausschalten müssen, und der Mann stand ihm nicht zu. Nicht dass der junge Mann eine Chance gegen ihn gehabt hätte. Er war nur ein mickriges Menschlein – oder zumindest kaum mehr.
Doch Regeln waren Regeln, und die Regeln diesen Menschen betreffend waren erst vor kurzem deutlich in den Äther geschrieben worden. Die Macht eines elterlichen Schwurs umgab das Halbblut, machte es tabu für direkte Angriffe. Jeder Feyon konnte das Racheversprechen sehen, riechen, fühlen und spüren. Die Schutzaura würde mit der Zeit verschwinden, doch noch war sie frisch, neu und stark.
Doch das Spiel war noch nicht aus. Es würde nur auf einer anderen Ebene stattfinden. Der Künstler war ein Menschenmann, und trotz seines Fey-Erbes würden sich Menschen um ihn kümmern müssen. Menschen konnten die frische Warnung nicht sehen, die jedem Feyon so deutlich die Lage klarmachte. Also konnte man sich gemütlich zurücklehnen und zusehen, wie seine eigenen Leute ihn aus dem Weg räumten. Ohne Konsequenzen für Edmond, den britischen Edelmann. Großbritannien war ein so schönes Land und so nützlich. Die Tendenz der oberen Zehntausend, auf dem Erdenrund hin- und herzuschippern auf der Suche nach neuen Entdeckungen, Abenteuern oder Wilden, die man ausbeuten konnte, war überall bekannt und wurde nie hinterfragt.
Der Künstler war nicht sein Problem. Lord Edmond musste das Mädchen zurückbekommen. Das würde nicht einfach werden. Die Skizzen, die er in der Wohnung des Malers gesehen hatte, zeigten sie in einer jüngeren Version, als kleines Mädchen und nicht als heranreifende Frau. Er musste sie gemalt haben, als sie sehr viel jünger gewesen war, und sie hatte ihn so sehr beeindruckt, dass er ein Bild nach dem anderen von ihr angefertigt hatte.
Die Präsenz einer Katze hatte er im Haus gefühlt, diffus, aber spürbar. Das mochte heißen, dass die Katze dort gewesen und nun fort war. Oder dass die Katze die Kunst erlernt hatte, sich unauffällig zu machen. Nur war es ausnehmend schwierig, ihn zu täuschen. Zu schwierig für ein … Kätzchen.
Er goss sich ein Glas Sherry ein, trat ans Fenster und spähte vorsichtig hinter dem Vorhang hervor. Er konnte den Mann, der ihm gefolgt war, deutlich fühlen. Er wartete im Schatten einer Seitengasse, die gegenüber seinem Haus von der Hauptstraße abzweigte. Lord Edmond lächelte. Da überschätzte jemand eklatant seine arkanen Fähigkeiten, auch wenn diese für einen Menschen vielleicht beachtlich waren. Fast gelang es dem Menschlein, seine Aura bedeckt zu halten.
Aber nur fast. Lord Edmond war nicht gewohnt, dass man ihn verfolgte. So Menschen ein Interesse an ihm entwickelten, das über höfliche Distanziertheit hinausging, tendierten sie gemeinhin dazu, ihm nicht nach-, sondern vielmehr ihm davonzulaufen. Sein Diener war das letzte Exemplar, das ein so besonders ausgeprägtes Interesse an ihm bekundet hatte, und der Mann stand nun schon über zwanzig Jahre in seinen Diensten mit nur noch einem einzigen Interesse, nämlich ihm zu dienen.
Brauchte er einen neuen Diener? Einen jüngeren? Besser nicht. Sich mit anderen Menschen auseinandersetzen zu müssen würde Stephan nur irritieren. Fokussierte Zielstrebigkeit hatte seine Nachteile. Die Anpassungsfähigkeit an neue Situationen war nicht Stephans größte Stärke.
Wenn man davon absah, dass sein Verfolger in keiner Weise eine Bedrohung darstellte, so blieb es doch beunruhigend, dass er sich überhaupt für Lord Edmond interessierte, ihn als etwas Außergewöhnliches wahrgenommen hatte, das es zu beobachten galt. Meister gehörten zu Logen. Wo einer war, würden mehr hinterherkommen, ein ganzes Rattennest voll. Ihre gemeinsamen Kräfte mochten dann doch eine Gefahr darstellen.
Er besah sich die Person in den Schatten. Gute Tarnung. Der Mann hatte sich mit einer Aura von Interesselosigkeit und Langeweile umgeben. Niemand würde ihn wahrnehmen, keiner ihm auch nur einen Blick schenken. Dennoch war er noch recht jung für einen Meister. Vielleicht war er nur ein Adept, losgezogen, um sich zu beweisen. Vielleicht hatten die Logen die kleinen Veränderungen an der Matrix der Realität ja tatsächlich bemerkt.
Es konnte sich natürlich auch um ein Mitglied der Fraternitas Lucis handeln, der Bruderschaft, die seine schwächeren Artgenossen jagte. Ihn selbst hatten sie auch bisweilen schon gejagt, doch diese lächerlichen Versuche waren zum Scheitern verurteilt. Seit einigen Jahren verfügte er zudem über dezidiertes Wissen, was die Bruderschaft anging. Stephan hatte schließlich nicht umsonst einen recht hohen Rang in der frommen Gemeinschaft bekleidet.
Vielleicht war es Zeit weiterzureisen. Lange würde er ohnedies nicht mehr bleiben. Die Nacht der Nächte rückte näher. Sie brauchten Ruhe für das, was sie vorhatten, oder das, was zumindest sie vorhatte, Lucilla, wie sie sich in ihrer gegenwärtigen Erscheinungsform nannte. Sie war so schön. Sein Herz schlug höher beim Gedanken an sie. Dass er nicht lieben konnte, durfte wahrlich keiner behaupten. Seine eigene Gewogenheit wärmte ihn in einer kalten Welt.
Sie mochte es nicht, wenn man von ihrem Plan abwich.
Ein wagemutiger Plan. So viele ausgeklügelte Details für etwas, das den Menschen eine so einfache Sache war, ein Tanz zwischen den Laken, ein Spreizen der Schenkel, ein wenig Samen.
Das Mächtige hätte es einfacher haben können, doch Lucilla war, was sie war. Sich mit ihrer eigenen Art von Na Daoine-maithe zu paaren hätte Jahrzehnte, vielleicht sogar Jahrhunderte von Friedensverhandlungen und Kriegen um die Vormachtstellung bedeutet. Lucilla hatte andere Pläne, kunstvoll und sinnreich, verstrickte Pläne voller funkelnder Ideen und neuer Konzepte.
Er stellte sein Glas auf dem polierten Mahagonitisch ab und streckte die Arme aus, Handfläche an Handfläche. Dann zog er ganz langsam die Hände auseinander. Von seinen Fingern aus formte sich der Rahmen einer Tür, die aus dem Nichts erschien und den Eingang zu einer hellerleuchteten Himmelslandschaft aus perfektem Weiß freigab. Er trat hindurch, und die Öffnung hinter ihm zeigte nun den Ausschnitt eines stilvollen Wohnzimmers und verschwand dann spurlos. Er lächelte bei dem Gedanken an den Mann, der auf der anderen Straßenseite im Schatten eine leere Wohnung beobachtete. Verlassen bis auf Stephan, und der war so leer wie die Wohnung.
Dies war Asnahids Reich. Das Machtwesen hatte ihn gelehrt, es zu betreten und zu verlassen. Dazu brauchte er große Stärke, und er holte sie sich aus der Matrix der Energielinien, bediente sich ihrer so unverschämt wie ein Vielfraß beim Bankett. Im Gegensatz zu seinem eigenen dunklen Tal waren diese Gefilde real und nicht aus den Traumsequenzen seiner Gespielen gewoben. Doch dieses Reich beherrschte Die Macht nicht allein. Hier gab es andere, die wie Asnahid waren. Ihre Rivalität hielt sie auseinander. Wenn sie sich trafen, ging es nie ohne einen Kampf ab.
Doch ihm gefiel es hier, er fühlte sich so wohl, dass er die Gefahr in Kauf nahm. Die glitzernd weiße Schönheit dieser Wirklichkeit war zutiefst beeindruckend. Die Konsequenzen bei einer Entdeckung allerdings auch furchterregend. Er mochte starke Emotionen, lebte von ihnen, doch fühlte er primär die anderer, die der Menschen. Er nahm sie. Er spiegelte sie wider, und wenn sie verblassten, so ließen sie ihn wieder gierig und hungrig zurück, zwangen ihn, die Leere in sich zu fühlen. Er wünschte sich, die Dinge lägen anders, doch es war so, wie es war.
Hier konnte er eigene Empfindungen erspüren, Emotionen wie eisige Furcht und böse Ahnungen, wie das Schwelgen in der makellosen Schönheit dieser Welt und den Stolz darauf, hier Zutritt zu haben. Das Nichts füllte sich mit seiner knapp bemessenen Seele. Es fühlte sich gut an.
Weißliche Nebel wallten, und wie immer tanzte er auf den schillernden Schneeflocken der Wahrscheinlichkeiten, drehte sich in einem dreidimensionalen Walzer absoluten Genusses. Hier gab es keinen Anfang und kein Ende, keine Zeit, keine Dauer, nur Sein. Hier war er vollkommen. Er wusste, wie es war, fröhlich zu sein, und allein das Wissen darum machte ihn fröhlich.
Schließlich sah er eine schwarzgekleidete Gestalt auf einem Bett fedrigen Nebels. Er trat heran. Ein Mensch. Ein Mann. Er sollte nicht hier sein. Seine dunkle Kleidung brach die Perfektion des vielschichtigen, weißen Lichts. Er konnte sich nicht gut hierher verirrt haben. Ein Entkommen war ihm nicht möglich, und sein Überleben war genauso wenig vorstellbar.
Er ging näher heran und drehte die leblose Gestalt mit dem Fuß um. In dieser Sphäre hatte sie kaum Gewicht. Die physikalischen Gesetze der Menschenwelt trafen nur begrenzt zu.
Der Mann lag nun auf dem Rücken und seufzte schmerzhaft. Blassblaue Augen versuchten ihn zu erkennen, die Sicht scharfzustellen, den Abstand zwischen ihm und dem Wahrgenommenen zu ermessen. Das war nutzlos. Distanz war relativ.
Lord Edmond ließ sich neben dem Mann auf ein Knie nieder und lächelte.
„Außerhalb des Karussells, von Orven? Finden Sie die Aussicht beeindruckend?“
Der Mann war totenblass. Sein Mund zuckte, er blinzelte, versuchte, seine Augen gegen das grelle Licht zu schützen. Die Haut seines Gesichtes spannte sich straff über die Knochen. Sein Haar war ganz untypisch verworren.
„Wo bin ich?“, flüsterte er schwach. Seine Augen hatten dunkle Ränder vor Erschöpfung. Sein Gesicht wirkte beinahe papieren und zerbrechlich.
„Sie liegen … im Sterben, oder doch fast. Menschen können hier nicht lange überleben.“ Er sollte nun etwas fühlen können, dachte Lord Edmond. Anteilnahme oder Triumph, Mitleid oder Verachtung. Doch er erfasste nur den Schmerz des Mannes vor ihm. Auch der war nicht schlecht.
„Ich dachte, ich sei schon tot“, flüsterte der Ex-Offizier zurück und bemühte sich, durch halbgeschlossene Augen etwas zu erkennen. Er versuchte nicht einmal, sich zu bewegen, nur seine Hände zuckten, als wollte er etwas fassen. Doch sie blieben jedes Mal leer. Sein Verstand versuchte zu begreifen, dass da nichts war, doch er begriff es nicht.
„Dachten Sie, Sie wären in Ihrem christlichen Himmel gelandet? Da muss ich Sie enttäuschen. Wenn Sie auf rundliche Putten warten, die Sie in die Ewigkeit führen, ins grüne Tal des Gartens Eden, dann muss ich Ihnen sagen, Sie warten umsonst. Auch bin ich nicht der Torwächter. Mangels Schwert, sei es flammend oder sonst wie. Gelegentlich trage ich allerdings einen modischen Spazierstock – doch Menschen nehmen alles ja immer so wörtlich. Ein Spazierstock würde Ihnen kaum reichen, nicht wahr? Deshalb: Ich bin kein Erzengel. Der Beruf wäre mir entschieden zu langweilig.“
Der Mann rang nach Luft.
„Ich habe Sie nicht dafür gehalten“, flüsterte er. „Eher für einen Anverwandten der Schlange.“
Lord Edmond lachte. Das machte Spaß. Er mochte das Geplänkel. Spaß war eine großartige Sache. Er war dankbar – noch ein Gefühl, das ihn durchfuhr und dann verschwand.
„Sie glauben an die Schlange? Tatsächlich? Es ist ja nun nicht so, dass Ihre menschliche Rasse nicht die Begabung hätte, Böses zu tun, ohne dass ein kleines Reptil dafür Sorge tragen muss.“
„Ersparen Sie mir Ihre moralischen Ansichten. Sie kennen doch nicht einmal den Unterschied zwischen Gut und Böse.“ Die Empörung, die in den Worten schwang, war wundervoll.
„Aber Ihre Rasse kennt den Unterschied? Wie erklären Sie dann, dass so viele Menschen das Böse wählen? Seien Sie nur nicht so stolz auf Ihre Ethik. Von außen gesehen und an den menschlichen Durchschnittsentscheidungen gemessen, ist sie nicht viel wert. Sie brauchen Ihre Gesetze, weil Sie ohne diese nichts als wilde Tiere sind.“
„Sie auch, verdammt!“
„Sie sind noch gesund genug, um richtig wütend zu werden? Das ist gut. Zornig? Verächtlich? Verzweifelt? Haben Sie sich denn von Ihrer werten Gemahlin gebührend verabschiedet, deren Liebe Sie nicht für einen Ausflug jenseits der Welt eintauschen wollten? Haben Sie Ihr oft genug gesagt, dass Sie sie lieben? Eine weitere Chance werden Sie nicht bekommen.“
Diesmal gelang es dem Mann fast, die Schultern von einem Boden zu heben, den er nicht fühlen konnte. Doch es gab nichts, worauf er sich hätte abstützen können, und so schaffte er es schließlich doch nicht. Er schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, hatte Lord Edmond sich verwandelt, lächelte ihn aus einem Frauengesicht an. Von Orvens Augen wurden weit vor Erstaunen.
„Ich werde es dir ganz einfach machen“, sagte Miss Colpin. „Dennoch würde ich es sehr begrüßen, wenn du wenigstens versuchen könntest, dich zu wehren. Gegenwehr macht den Sieg um so vieles süßer, mein liebes, junges Genie.“
Sie lächelte und ließ ihn die beängstigende Perfektion ihrer Gesichtszüge wahrnehmen. Ihre Schönheit war von einer Ebenmäßigkeit, die so ohne Fehl war wie ein Hauch absoluter Reinheit. Dennoch, und das wusste sie wohl, machte diese Schönheit sie nicht liebenswert.
Sie neigte sich näher zu ihm hin und freute sich über die Panik in ihm. Sie presste ihre Lippen an die seinen. Seine waren kalt, und er zitterte bei dem Kontakt.
Kleine Hände hielten seinen Brustkorb nieder und ließen ihn an nahende Klauen denken.
„Aufhören!“
Erwischt. Dies war Asnahids Reich, und Asko war vermutlich hier, weil es ihn hier verstaut hatte.
„Er gehört dir nicht“, fuhr die Stimme fort, und ein Kuss von geradezu niederträchtiger Innigkeit fand ein abruptes Ende.
„Er ist schon so gut wie tot, meine Liebe“, rechtfertigte sich Miss Colpin, kaum in der Lage, die Gier in ihrer Stimme zu verbergen. „Du kannst ihn doch auch gleich mir überlassen. Er war einmal ein Soldat. Ich bin sicher, ihm ist ein schneller Tod lieber als ein langsamer. Oder doch immerhin ein schnellerer Tod, als nach und nach in der falschen Realität zu vergehen.“
„Wie selbstlos von dir. Doch ich will nicht, dass er jetzt schon stirbt. Ich gebe dir Bescheid, wenn ich mir sicher bin, dass ich ihn nicht mehr brauche. Bis dahin ist er mein. Nicht dein.“
„Er kann hier nicht überleben.“
„Nicht lange jedenfalls.“
„Er wird sterben!“
„Ich weiß. Sie sterben alle. Fortwährend.“
„Dann kannst du genauso gut …“
„Was willst du denn von ihm, Liebste? Den Schmerz, den er fühlt, oder die verkorkste, versteckte Liebe? Beides? Du bist gierig.“
„Lucilla!“
„Nein.“
„Warum soll er hier zugrunde gehen?“
„Hier ist ein gerade so guter Aufenthaltsort wie sonst wo. Hier geht er nicht verloren, und finden wird ihn hier auch niemand.“
Frau Lybratte beugte sich hinab und streichelte dem jungen Mann über die Stirn, strich ihm das wirren Haar zurecht.
„Tut mir leid, ich habe noch zu tun, Herr von Orven. Verzeihen Sie, dass ich Ihr Tete-à-tete mit meiner Freundin gestört habe. Aber ich werde bald Besuch bekommen. Wenn ich mich nicht irre, kommt Ihre Frau Gemahlin, um nachzufragen, wo Sie abgeblieben sind. Eben habe ich sie durch den Garten laufen sehen. Ein unangemeldeter Abendbesuch. Miss Colpin, möchten Sie die brave Gattin unseres Gastes kennenlernen? Sie wird sehr besorgt sein. Das mögen Sie gewiss.“
Die Gouvernante erhob sich und lächelte.
„Warum nicht? So viel Zuneigung sollte man unterstützen.“
Askos Protestschrei verklang im Nichts.