Kapitel 79
„Thorolf …“ Graf Arpad sah ihn an, und seine Augen verrieten außerordentliche Besorgnis. „Tu’s nicht! Lass es sein! Du weißt nicht, wie so etwas geht. Du verbrennst noch viel schneller als sie. Gegen diese Macht bist du nichts als Asche.“
„Wird es ihr helfen?“
„Kurzzeitig vielleicht. Letztlich ist es aber unwahrscheinlich.“
„Es verschafft ihr Zeit.“
„Es kostet dich das Leben.“
Thorolf kniete sich hinter das Mädchen.
„Was muss ich tun?“, fragte er.
Arpad starrte ihn an.
„Du bist wie deine Mutter“, sagte er. „Du liebst mit einem großen Herzen.“
„Ich war schon einmal tot, oder doch so gut wie. Mein Leben als Thorolf Treynstern ist vergangen. Lass mich etwas Sinnvolles anstellen mit dem, was ich gewonnen habe.“
„Tot?“
„Vergiftet – um zu überleben. Mein Tod hat mich vor dem Henker bewahrt. Sein Mord ...“ Er wies mit dem Kopf zur Spinne. „... nicht meiner.“
Arpad starrte ihn an. Er öffnete den Mund, um mehr Information zu erfragen, doch dann ließ er es, als ihm klar wurde, dass dies nicht der Augenblick für lange Erklärungen war.
„Knie dich hinter sie, ohne sie zu berühren!“, befahl er. „Ian, hilf mir, mich hinter Thorolf zu knien. Wir werden es gemeinsam tun.“
„Sie sind nicht in dem Zustand …“, mahnte der Akolyth. Seine Augen waren voller Besorgnis.
„Ian!“, unterbrach Thorolf. „Du wirst ihn nicht daran hindern!“
Ian sah ihn verzagt an.
„Verstehst du nicht? Man hat ihm ein Großteil seiner Lebenskraft gestohlen. Er ist zu schwach!“
„Dann hat er mal am eigenen Leib gespürt, wie das so ist!“
„Aber …“
„Das hier ist Catty! Begreifst du das nicht?“
„Ruhe!“, befahl Arpad. „Ich heile sehr schnell.“
Er fiel hinter seinem Sohn auf die Knie, kroch so nah wie möglich an ihn heran. Legte die Hände von hinten auf Thorolfs Schultern.
„Helfen Sie mir!“, bat Ian. „Sagen Sie mir, was ich tun kann!“
Das Spinnenwesen kicherte bösartig, während es zusah, wie nun Ian sich hinter dem Vampir kniete.
„Lieber Himmel! Was für eine Heilsarmee! Wenn die ehrenwerten Mr. und Mrs. Booth euch nicht zuvorgekommen wären, könntet ihr eine neue Bewegung gründen!“, höhnte die Spinne.
„Ich weiß ja nicht, wovon Sie da gerade reden, aber wenn Sie nichts Nutzbringendes zu all dem beizutragen haben, dann halten Sie doch einfach den Mund. Beide Münder“, murmelte Mr. Sutton ein wenig langgezogen. „Mr. Sí“, fuhr er fort, und sprach jetzt Graf Arpad an, „möchten Sie, dass ich mich hier dazugeselle oder sollte ich dem charmanten Stacheltierchen lieber beim Kanalisieren der Energie helfen?“
Wieder lachte Esmalyn.
„Mir beim Kanalisieren helfen? Eine glänzende Idee. Komm zu mir, Menschlein. Hilf mir! Bitte!“
„Sie sind Meister des Arkanen?“, fragte Arpad.
„Adept.“
„Sie wären in weniger als einer Minute von jeder Lebensenergie befreit.“
„Aber es muss etwas geben, was ich tun kann!“
„Stellen Sie sich hinten an!“
Sutton sah nicht überzeugt aus, doch dann warf er Mantel, Handschuhe und Hut ab und stieg in den Kreis. Das halblange Haar erhob sich um seinen Kopf wie ein Heiligenschein. Wortlos kniete er sich hinter Ian und legte seine Hände auf dessen Schultern.
„Bruder McMullen, ich werde nicht vergessen, dass ich Ihnen dieses Schlamassel hier zu verdanken habe“, brummelte er. „Ich bin gekommen, um unsere Loge zu befreien und nicht, um Ringelreihen zu spielen.“
„Hat er Angst um seine Loge? Ganz zu Recht …“ Die Spinne hielt inne und unterdrückte einen Fluch. Thorolf schlang endlich die Arme um Catty und zog sie zu sich. Die Spinne, die immer noch ihre Handgelenke hielt, krabbelte auf sechs Beinen vorwärts.
Cattys Leib war eiskalt. Thorolf spürte, wie ihre Haut seine Finger gefror und keuchte vor Schreck. Dann begann er, vor Schmerz zu stöhnen. Die Kälte war so intensiv, dass sie ihn verbrannte.
Ihr Kupferhaar lag an seiner Schulter, und Funken stoben daraus hervor. Ihre Augen blickten immer noch nach oben und leuchteten in unheimlichem, weißem Licht. Dies tat gewiss sehr weh, dachte er und zog sie noch näher, um ihr etwas von seiner eigenen Körperwärme zu geben. „Nicht sterben, Kleines“, dachte er. „Dass du mir nur nicht stirbst!“
Einen Augenblick später schnappte sein Kopf zurück, und sein Blick wurde weiß. Eine Sekunde lang flüsterten ihm seine überlasteten Sinne ein, aufzuspringen und davonzurennen. Doch er blieb, fühlte die kalte junge Frau in seinen Armen, zwei Hände auf seinen Schultern, die – was sehr untypisch schien – leicht bebten. Er fühlte, wie die tröstende Dunkelheit gegen die alles versengende Weißglut kämpfte, die in ihm von den Eingeweiden bis zu den Augen loderte, fühlte einen Traum seine Seele erreichen, der ihm vorgaukelte, er schwömme in einem kühlen, angenehmen Bergsee, wo es kein Inferno gab, nur die weit entfernte Herbstsonne auf den schneebedeckten Gipfeln. Er erkannte Ian, der eine Alternative wob, in der er nicht in einem Glutofen schmolz. Dann fühlte er, wie eine menschliche Macht sich aufbaute, hörte ein rhythmisches Trommeln und ein seltsam monotones Singen in einer fremden Sprache.
Er sah nicht, was geschah. Doch er hatte die Szene in wirren Farben auf seiner geistigen Palette, Weiß für Catty, Grau für ihn selbst, Schwarz für seinen Vater, Hellrot für McMullen und ein erdiges Braun für Ians Freund. Eine Säule verschiedener Farben schraubte sich chaotisch nach oben.
Er tauchte mit dem Sinn in die Farben ein, zwang sie in ein Muster wie mit einem Pinsel, verlangsamte ihre allzu schnelle Bewegung nach oben ins Firmament. Fast gelang es ihm, dann verließ ihn die Kraft, und er sank schwach und frustriert zurück, doch die Aufgabe wurde von dem Mann hinter ihm übernommen, der weitere Farbstränge ordnete und ihnen mit scharfen, schwarzen Linien Sinn und Kontur gab.
Atmen wurde schwierig. Ihm fiel erneut ein, dass er immer wieder bereut hatte, das Mädchen nicht geküsst zu haben. Auch diesmal war es wieder zu spät.
Formen waberten. Was sie waren, konnte er nicht ausmachen, Menschen in ekstatischer Verzückung? Weiße Wolken einer weißen Welt, in der eine Kreatur sich wand und kringelte, seufzte, keuchte und sich räkelte. Nichts ergab einen Sinn. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er direkt in von Orvens Gesicht, das jenseits von bloßem Vergnügen war, irgendwo zwischen Wahn und Schmerz, Ekstase und Reue. Das blonde Haar wehte im Sturm, die blassblauen Augen glitzerten einen Moment lang raubtierschwarz und verwandelten sich dann wieder in den Morgen eines dunklen Jägers nach einer Nacht voller Jagd.
Wo war sein Schwert? Thorolf hatte es fallengelassen. Es lag nicht mehr in seiner Hand. Er hatte nur noch das Mädchen gesehen. All dies war falsch. Er hätte die Spinne angreifen sollen, hätte sie umbringen sollen, sie erstechen, ihr sämtliche Beine einzeln ausreißen. Die Spinne – oder den oder diejenige, für die sie diese grausige Scharade veranstaltete.
Es war jenes schuppige, bleiche Wesen, das den Raum jenseits von Thorolfs Begriffsvermögen beherrschte. Es nahm ihn wahr, erfasste seine Präsenz. Silbergrüne Augen betrachteten ihn wie einen Nachtisch, eben serviert.
Doch die schillernden Augen verloren das Interesse an ihm. Er war keine Herausforderung, keine Gefahr, nichts, womit man sich befassen musste. Er war schon besiegt und zerschlagen, sank immer tiefer ins Dunkel, fort von den Farben, die noch nicht einmal einen halben Regenbogen ergaben, weiß, grau, schwarz, rot und braun. Nicht genug, um damit irgendein bleibendes Werk zu malen.
Gedanken sanken durch ihn hindurch, Ideen, die nicht die seinen waren, Philosophien über die Natur der Welt, den Stoff des Göttlichen, die Kreativität des menschlichen Sinns. Diese Gedanken kamen aus dem Kreis der Männer um sie herum. Starke Gefühle untermauerten Überzeugungen, die er kaum zu fassen vermochte. Nichts davon war in seinem eigenen Sinn geboren, nicht einmal die ungemalten Skizzen von Bildern, die noch darauf warteten Meisterwerke zu werden, und auch nicht die ungehörten Harmonien, die vielleicht irgendwann zu einer Symphonie geworden wären.
Er hatte kein Gefühl mehr in den Händen und wusste nicht, ob er das Mädchen tatsächlich noch festhielt. Auch seine Beine fühlte er nicht mehr, und ahnte nicht einmal, ob er noch immer auf dem Teppich kniete, direkt vor dem riesigen Spinnentier. Nicht einmal seinen eigenen Herzschlag konnte er noch hören. War er wieder tot? War es diesmal anders, weil es wirklich war? Er sank in einen Sumpf aus Spinnenaugen, hörte ein Kichern. Einen Augenblick später verstummte es.
Töne und Farben explodierten.
Grün, rosa, blau, gelb und mehr. Wie Blumen wuchsen die Farbkleckse und wurden zu Formen. Er hörte ihren Sang, Frauenstimmen in seltsamen Harmonien, und er wusste, dass er nun das sah, was er einmal versprochen hatte zu malen: ein Bild von Klang. Dem Briten hatte er dieses Versprechen gegeben, der Spinne vor ihm, der hungrigen Frau in dem einsamen mitternächtlichen Tal. Sie alle waren Aspekte derselben seelenverschlingenden Identität.
Schattierungen strömten wie Farbe von der Palette, vermischten sich und gebaren neue Färbungen. Er spürte, wie sich sein Vater vor Schmerzen wand und griff mit einem plötzlichen Gedanken nach ihm. „Halt dich an mir fest“, flüsterte sein Sinn. „Ich kann Klang malen. Für sie und für dich und für jeden, den ich liebe und respektiere.“
Dann tat er es. Mit der Essenz seiner künstlerischen Seele fasste er das mentale Malgerät. Er nahm die kühle Landschaft, die verzweifelt über seinem Traumselbst waberte, fügte den Rhythmus zu dem liturgischen Gesang und wandelte die flackernde Harmonie in ein strukturiertes Ganzes um.
Das Spinnental verblasste gegen den Regenbogen, der sich himmelwärts gegen ein Mysterium aus Angst und Faszination erhob. Mit allen Farben gleichzeitig schoss der Bogen hoch und krümmte sich um die Welt, um dann wieder in den exquisiten Salon einer Münchner Villa zurückzufahren und zu ankern. Die Richtung änderte sich, Ideen und Illusionen strömten nicht länger nach oben davon, sondern wieder hinunter und zurück. Die Welt verwirbelte, und eine Tür öffnete sich.
Dann fiel diese Tür knallend ins Schloss.
Jede sinnliche Wahrnehmung erlosch.