Kapitel 8

Charlotte von Orven war wach. Das erste Licht, das einen perfekten Frühlingstag ankündigte, drang in ihr Schlafzimmer und beschien das Gesicht ihres Gatten. Sie liebte diese Augenblicke. Sie liebte es, ihn anzusehen, wenn er schlief, wenn sein sonst so akkurat frisiertes Haar wild verwuschelt war und sein eisern gefasstes Gesicht einmal entspannt aussah.

Sie berührte ihn nicht, denn das hätte ihn geweckt. Dann wäre es ihm wieder peinlich, und dann wäre es auch ihr wieder peinlich. Schon würden sie sich trennen, so schnell wie möglich jeder seinen Aufgaben entgegeneilen und so tun, als wäre nicht alles schiefgegangen, als würde man sich gegenseitig auf diese Weise niemals wehtun. Dann würde sie irgendwann wieder in ihrem kleinen Büro sitzen und um das trauern, das sie verloren hatte, ohne es je besessen zu haben.

Was war es nur gewesen, ihn zu heiraten. Anderthalb Jahre war es her, da hatte ein Feyzauber ihre Herzen aneinander gebunden, und sie liebten einander seitdem. Dennoch hatte er sie zunächst abgelehnt, hatte sie bezichtigt, sich mit einem anderen Mann eingelassen zu haben. Als sie endlich ihre Schwierigkeiten überwunden hatten, hatte er auf einer formellen Verlobungszeit bestanden.

Dann war der Krieg ausgebrochen, der schreckliche Krieg von 1866, den sowohl ihr Heimatland, Österreich, als auch seines, das Königreich Bayern, gegen Preußen und dessen Alliierte verloren hatten. Der deutsch-deutsche Krieg. Nun gehörte Österreich nicht mehr zu Deutschland, nannte sich Österreich-Ungarn und richtete den Blick gen Osten. Preußen aber hatte sich eine Vormachtstellung in dem übriggebliebenen Bund deutscher Kleinstaaten und Königreiche erobert, von denen einige vollständig verschwunden waren und nun direkt zu Preußen gehörten. Der junge bayerische König hatte sich der neuen Ordnung gebeugt. Manche sagten, er habe es ungern getan, manche wieder behaupteten, er habe es allzu schnell getan, und wieder andere waren der Ansicht, dass diese Entscheidung für ihn eventuell lukrativ gewesen war. Einen Unterschied machte es nicht. Die Welt hatte sich nach der Schlacht von Königgrätz für Deutschland verändert. Am gleichen Tag hatte sich auch die Welt von Asko von Orven und Charlotte verändert.

Auf dem Schlachtfeld zwischen all den Toten und Sterbenden hatte man ihn nicht gleich gefunden, und als man ihn fand, hielt man ihn zunächst für gefallen und tot. Es war sein Freund, Leutnant von Görenczy, gewesen, der seinen leblosen Körper zu den Sanitätern gebracht hatte. Eine Kugel war in seinen Unterleib gefahren und hatte seine Hüfte zerschmettert. Er hatte mehr Blut verloren, als man gemeinhin überlebte.

So hatten sie nicht geglaubt, dass er leben würde, und als er überlebte, hatten sie nicht geglaubt, dass er das Bewusstsein je wiedererlangen würde. Als er aus der Bewusstlosigkeit erwachte, hatten sie ihm gesagt, er würde nie mehr gehen können.

Pflichtbewusster Narr, der er war, hatte er daraufhin Charly von ihrem Versprechen entbunden, damit sie sich nicht an einen Krüppel gebunden fühlte.

„Aber ich liebe dich“, hatte sie argumentiert. Sie war aus Österreich zu ihm gereist, sobald sie von dem Unglück hörte. Das Leiden, das sie in seinem schmerzzerfurchten Gesicht sah, hatte sie beinahe zerrissen. Die bittere Hoffnungslosigkeit, die er ausstrahlte, erschütterte sie noch mehr. Einfach ungefragt beiseite geschoben zu werden machte sie wütend.

„Tut mir leid“, hatte er gesagt. „Meine Gefühle für dich haben sich gewandelt.“

„Das glaube ich nicht!“

„Sei vernünftig. Du kannst keinen Krüppel heiraten. Ich kann nicht gehen, ich bin kein Soldat mehr, nur ein Invalide aus einem sinnlosen Krieg, von dem niemand etwas wissen will. Ich bin eine bloße Peinlichkeit, und ich kann eine Frau nicht erhalten und ernähren.“

„Das musst du auch nicht. Ich bin ziemlich gut situiert.“ Sie wusste, dass es das falsche Argument war in dem Moment, als sie es ausgesprochen hatte. Seine Züge versteinerten.

„Ich bin kein Heiratsschwindler. Ich habe nicht mehr viel übrig in diesem Leben. Aber ich habe noch meine Ehre. Die wenigstens ist mir geblieben.“

Sie starrte ihn böse an. Sie hasste seinen überzogenen Ehrbegriff. Von Anfang an war diese Ehrduseligkeit ihnen im Weg gewesen. Seine gottverdammte Ehre behinderte ihn mehr als ein kaputtes Bein es je können würde.

„Ich wollte keineswegs andeuten, es gebräche dir an Ehrgefühl. Alles, was ich sagen wollte, war, dass wir uns um die – vorübergehende – Zeit deiner Genesung keine Sorgen machen müssen. Du bist nicht gerade ein Bettler, und ich auch nicht. Wir werden beide ausreichend versorgt sein, bis du eine Möglichkeit findest, einen Lebensunterhalt zu sichern – mit deinem überragenden Erfindergeist. Ich weiß, dass dir das gelingen wird. Ich weiß es, weil du der sturste, starrköpfigste Mensch bist, den ich kenne. Ich glaube an dich. Warum solltest du also nicht selbst auch an dich glauben? Du wirst eine Lösung finden, weil genau das deine Art ist. Du findest immer eine.“

„Ich bin nur noch eine Belastung. Du kannst doch nicht ernsthaft an so einen Haufen halbtoten Fleisches gebunden sein wollen. Mitleid will ich nicht.“

„Was ich fühle, ist nicht Mitleid, du lieber Himmel! Es ist Liebe. Wenn du mir auf die Bibel schwören kannst, dass du mich nicht mehr liebst, dann höre ich sofort auf, hier eine Szene zu machen, und verschwinde, um anderen von meinem Herzeleid die Ohren vollzujammern. Aber du musst schwören. Ich werde dir ganz gewiss nicht den Rest meines Lebens hinterherweinen, nur weil dein verdammter Stolz im Weg war.“

„Charlotte …“

„Wenn dein Stolz wirklich das einzige ist, das dich hindert, dann musst du den eben einmal überwinden. Wir beide. Wenn ich dich vor dem Krieg schon geheiratet hätte, wäre das jetzt noch nicht einmal eine Frage. Ich wäre deine Frau, in guten und in schlechten Tagen. Jetzt habe ich dich nun mal nicht vorher geheiratet. Aber ich liebe dich. In guten und in schlechten Tagen.“

Sie verlor die Fassung, kniete sich neben sein Bett und weinte in sein Kissen. Das hatte sie absolut nicht tun wollen. Sie hatte ruhig und gefasst sein wollen, stark und optimistisch. Nach einiger Zeit fühlte sie eine schwache Hand ihr Haar streicheln.

„Dummchen, Charlotte. Jetzt wein’ doch nicht. Nicht weinen, Liebling. Bitte nicht.“

„Schick mich nicht weg, Asko. Bitte nicht! Bitte.“

Er schwieg lange. Schließlich begann er zu reden, streichelte dabei weiter ihre Locken und hielt ihren Kopf damit so nieder, dass sie ihn kaum heben konnte. Er wollte nicht, dass sie ihn ansah.

„Charlotte. Charly. Niemand weiß, ob ich je wieder laufen kann. Es ist gut möglich, dass ich den Rest meiner Tage auf dem Rücken liegend verbringe. Selbst wenn ich wieder laufen lernen sollte, eine Ehe besteht aus mehr als nur Invalidenpflege. Ich weiß nicht, wie ich dir dies sagen soll, aber es kann gut sein, dass ich nie … dass es mir nie … dass wir nie miteinander …“

Sie verstand nicht gleich, was er mit seinen halben Sätzen meinte, und versuchte, zu ihm aufzusehen, doch er hielt ihr Gesicht nach unten, als könnte er es nicht ertragen, dass sie ihn in diesem Augenblick ansah. Sie begann zu begreifen.

„Asko…“, murmelte sie.

„Charly. Die Ärzte haben gesagt …“

„Die Ärzte haben gesagt, du würdest nicht überleben. Sie haben gesagt, du würdest nie mehr aufwachen. Die Ärzte wissen verdammt noch mal gar nichts.“

„Charly!“ Er klang zutiefst schockiert. Mitten in einer lebensverändernden Krise hatte er nichts Wichtigeres zu tun, als sich über ihr allzu kräftiges Vokabular zu echauffieren. Wie absolut entnervend typisch!

„Asko, ich will bei dir sein. Ich glaube daran, dass du wieder gehen lernen wirst, und ich glaube auch, dass du wieder … tanzen lernen wirst. Ich will dabei sein und dir helfen. Bitte. Schick mich nicht aus falschem Stolz fort. Versteck dich nicht hinter deiner strammen, militärischen Haltung. Du bist nicht der Mann, der aufgibt, ohne etwas wenigstens zu versuchen, und ich bin nicht die Frau, die davonläuft. Du willst für mich stark sein. Aber kannst du mir nicht zugestehen, auch stark für dich zu sein?“

„Du bist eine junge, gesunde Frau. Leidenschaft ist dir nicht fremd …“

„Asko …“

„Vermutlich willst du doch Kinder …“

„Deine. Ich will deine Kinder bekommen. Nicht die von irgendjemandem. Wenn ich das nicht kann, dann lass mich an deiner Arbeit teilhaben. An deinen Erfindungen, deinen Ideen, denen du Leben einhauchen willst. Lass sie auch meine Ideen sein. Schick mich nicht fort. Schick mich nicht fort!“

Sie rappelte sich hoch und setzte sich vorsichtig zu ihm aufs Bett. Dann beugte sie sich über ihn und küsste ihren verwundeten Krieger, wobei sie darauf achtete, nicht gegen seinen verletzten, schmerzenden Körper zu stoßen.

Eine ganze Zeit lang tat sie nichts anderes, ihre Lippen und Zungen spielten scheu miteinander, dann weniger scheu, dann ernsthaft, getragen von der Liebe, die sie verband.

„Ich werde dich schon wieder zum … Tanzen bekommen!“, murmelte sie schließlich, und er lachte zum ersten Mal seit der Schlacht von Königgrätz.

„Ja. Vielleicht“, sagte er ein wenig außer Atem.

Er hatte sie geheiratet, als er wieder gut genug laufen konnte, um selbst zum Altar zu schreiten, wenngleich auch auf Krücken, die er zu benutzen lernte.

Er hatte sich entschuldigt, dass er sie nicht über die Schwelle tragen konnte.

„Ich bin ohnehin viel zu groß und ungelenk für so was“, hatte sie geantwortet.

Er hatte laufen gelernt, aber nicht tanzen. Er versuchte es nicht mal. Sie waren Partner in allem anderen, doch er fasste sie nicht an, wie ein Ehemann das sollte.

Er konnte nur langsam gehen. Sein unbewegliches Gesicht verriet dabei eiserne Kontrolle. Die meiste Zeit hatte er Schmerzen. Er war sehr dünn und hager geworden durch die Krankheit, doch für seine eigenen Knochen war er immer noch zu schwer. Er trainierte seine Muskeln jeden Tag. Doch er war zu zerstört, um wieder das zu werden, was er einmal gewesen war, ein starker, gesunder junger Mann voller Feuer, das er hinter einer braven und lauteren Seele versteckte.

Sie hatte diese Heirat gewollt, sich frei dazu entschieden. Sie versuchte, glücklich zu sein und gab sich Mühe, auch ihn glücklich zu machen. Er wiederum gab sich Mühe, ihr Bemühen zu schätzen. Er nahm ihre Ratschläge an, so sie welche zu geben hatte, er nahm sie ernst, wenn sie eine andere Meinung vertrat. Aber er nahm sie nie in den Arm. Eventuell hatte er Angst, etwas zu beginnen, von dem er sicher war, es nicht beenden zu können. Vielleicht wollte er sich die Peinlichkeit eines Versagens ersparen. Oder er fürchtete den Schmerz und die Schmach, die sein geschundener Körper zusätzlich aushalten müsste.

Charly verdurstete.

Er rührte sich, stieß einen kleinen Schmerzenslaut aus und erwachte. Ihre Blicke trafen sich.

„Guten Morgen, Asko“, flüsterte sie und versagte sich den Impuls, ihn zu berühren. Distanz. Er brauchte Distanz.

„Guten Morgen, Charlotte.“ Er hielt sie mit den Augen fest, die einzige Intimität, die er sich gönnte. Sie hatten ein gemeinsames Schlafzimmer, weil Charly darauf bestanden hatte. Er hätte vermutlich lieber alleine geschlafen, doch es hätte zu eigentümlich ausgesehen, wenn ein jungverheiratetes Paar getrennte Betten hätte. Das hatte auch ihn überzeugt. Er schlief also wegen der Dienerschaft bei ihr. Nicht ihretwegen.

„Hattest du einen schönen Abend bei deinem Professor?“, fragte sie. Sie wusste, dass ihn diese Einladungen ganz besonders freuten, vermittelten sie doch, dass er als integraler Bestandteil von einer Gruppe von Denkern und kreativen Menschen akzeptiert wurde, die zu den Ersten im Lande zählte.

Er lächelte, und ihr Herz jubelte.

„Es war äußerst interessant. Lybratte debattierte mit Feuerbach über die ultimative Wahrheit und die Möglichkeit, sie zu ändern oder zu begreifen, in dem man die Zeit selbst manipuliert.“

Charly fand das spannend. Sie mochte Philosophie und hatte sich nachhaltig damit befasst. Doch sie wusste, dass sie als Frau zu einer solchen Soiree nicht eingeladen werden würde. Sie seufzte.

„Das ist ein ungeheuerliches Konzept. Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen. Ich würde auch zu gern wissen, ob sie auch nur eine Ahnung davon haben, dass verschiedene Zeitlinien tatsächlich existieren, aber Menschen nicht zugänglich sind. Sie sollten einen Feyon konsultieren.“

Das Lächeln ihres Mannes wurde säuerlich.

„Zum Glück findet man die Fey nicht unter jedem Busch. Dafür muss man wirklich dankbar sein. Obgleich diese Leute natürlich nicht an die Existenz von Feywesen glauben. Undenkbar. Schließlich haben sie nie einen gesehen – und sie wissen nicht einmal, was für ein Glück sie da haben!“

Asko hatte die Sí nie gemocht, und ihre Begegnung mit Arpad, dem Vampir, in dessen Begleitung sie einige Tage gewesen war, war nicht dazu angetan, ihn in dieser Angelegenheit sanftmütiger zu stimmen. Vielleicht hätte er seine Eifersucht ja überwunden, wenn er nicht für sich gefunden hätte, dass er nun kein ganzer Mann mehr war. Arpad hatte sie intimer gekannt, als ihr Gatte das vielleicht je würde.

Wenn Asko damals nicht eingegriffen und es verhindert hätte, hätte sie ihre Liebe und ihre Jungfräulichkeit dem verführerischen, dunklen Feyon geschenkt. Der hatte es verstanden, ihren Körper mit seiner Berührung zum Singen zu bringen, und in seinen Armen hatte sie sich selbst als schöne Liebende wahrgenommen, statt als jungfräuliche Gattin bestenfalls mittelmäßigen Aussehens.

Sie biss sich auf die Lippen, schob die Erinnerung an ihr Verlangen und daran, wie es war, begehrt zu werden, weit fort und hoffte, dass ihr Mann die Sehnsucht nicht in ihrem Gesicht gelesen hatte. Niemand würde sie jemals mehr so berühren.

Doch es war egal. Sie hatte ihre Lebenswahl getroffen. Sie hatte sich für Asko entschieden, weil sie ihn liebte, und nicht für Arpad, egal wie verführerisch er sein mochte in seiner sinnlichen Eleganz.

Asko sah sie verärgert an, und sie erwartete einen harschen Kommentar über die Fey im Allgemeinen und ihren lieben Freund Arpad im Besonderen, doch nichts kam. Stattdessen zog sich eine nachdenkliche Falte durch seine Stirn.

„Da war gestern etwas, das ich mir unbedingt merken wollte, aber ich kann mich nicht erinnern. Mein Gedächtnis ist völlig leer. Dabei war es etwas Bedeutsames.“

Seinen Zügen war die Anstrengung anzusehen, mit der er in seiner Erinnerung kramte.

„Waren denn interessante Leute da – außer Feuerbach?“

„Oh ja! Ich habe den jungen Treynstern kennengelernt. Den Sohn deiner Freundin Sophie. Er ist dem Schicksal ausgebüchst und hat Wien mitsamt seiner Juristenkarriere an den Nagel gehängt, um hier Maler zu werden. Ist ja auch viel interessanter und unkonventioneller. Netter junger Mann.“

Charly kicherte.

„Das ist also des Rätsels Lösung. Jetzt wissen wir, warum uns Sophie mit einem Besuch beehrt. Ich hatte mich schon gefragt.“

„Er ist jung, aber er ist ein erwachsener Mann. Ich habe nicht den Eindruck, dass er diesen Schritt ohne nachzudenken unternommen hat. Er sieht auch wirklich nicht so aus, wie man sich einen pedantischen Paragraphenreiter vorstellt. Du wirst ihn ja sicher bald kennenlernen. Vermutlich wirst du ihn mögen. Vermutlich werden ihn alle Damen mögen, denke ich.“ Askos Stimme klang ein wenig säuerlich.

„Wenn er nach seiner Mutter kommt, muss er gut aussehen. Man kann deutlich sehen, was für eine besondere Schönheit sie war, und dabei ist sie schon jenseits der fünfzig“, entgegnete Charly.

„Er sieht ihr recht ähnlich. Wilde Kastanienlocken und lächelnde graue Augen. Gutaussehend auf eine klassisch-griechische Art. Erinnerte mich nicht wenig an den absolut skandalösen Marmorsatyr in der Glyptothek.“

„Du lieber Himmel. Griechische Statuen mögen für unser Klima unpassend gekleidet sein, aber es ist wirklich allzu altmodisch von dir, sie skandalös zu nennen. Dein eigener früherer König Ludwig I. fand sie absolut nicht anstößig.“

„Er liebte Kunst und Schönheit. Außerdem war er ein Mann.“ Askos Ton war ein wenig belehrend. In seinem strikten Weltbild mochte es Männern gerade noch gestattet sein, unbedeckte physische Attribute zu bewundern, doch Frauen hatten sie tunlichst zu ignorieren.

„Ach, und eine Frau darf Kunst und Schönheit nicht lieben?“, begehrte Charly auf. Ihr Mann zog eine Grimasse und brachte das Thema zurück zu dem jungen Maler.

„Treynstern ist bei der Akademie angenommen worden. Das spricht für sein Talent. Vermutlich stehen die Damen schon Schlange, um sich von ihm porträtieren zu lassen.“

„Nur wenn seine Kunst so gut ist wie sein Aussehen. Keine Frau nähme ein unvorteilhaftes Bild von sich in Kauf, nur damit sie bei den Sitzungen das zweifelhafte Vergnügen hat, einen hübschen Herrn anzuschauen. Oh! Wie gerne würde ich mit zu den Soireen kommen! Es ist ganz schrecklich rückständig von deinem Professor, Damen generell auszuschließen.“

„Tut mir leid, meine Liebe. Keine Damen – außer natürlich Frau Lybratte. Sehr witzig, intelligent und charmant. Außerdem ganz außergewöhnlich schön.“

Sie blickte ihn verdutzt an. Er hatte noch nie so von einer anderen Frau geschwärmt.

„Oh“, sagte sie und fühlte sich mit einem Mal unzulänglich. „Magst du sie sehr?“

„Sie nötigt einem Bewunderung ab. Sie verfügt über ein vorzügliches Denkvermögen.“

„Außerdem anscheinend über ein ausgezeichnetes Aussehen“, gab Charly etwas giftig zurück.

„In der Tat. Sie ist ausnehmend schön. Königlich und anmutig gleichermaßen.“

„So. Ich könnte also auf keinen Fall konkurrieren“, stellte sie trocken fest. Eine Schönheit war sie nie gewesen. Zu groß, zu ungelenk, zu dunkel. Jemand, mit dem man Schach spielen konnte, aber für den niemand Oden sang.

„Warum solltest du das wollen?“

„Weil ich dich liebe, du Idiot“, dachte sie, sagte aber nichts.

Er sah sie kritisch an.

„Charly, du bist doch nicht etwa eifersüchtig?“, fragte er etwas entnervt.

„Was wäre wenn?“

Desillusionierte Wut flammte plötzlich in seinen Augen auf.

„Wie, bitte, sollte ich dich betrügen?“ Seine Stimme klang wie ein Peitschenhieb, und sie duckte sich ob der plötzlichen Gewalt seiner Worte. Sie wusste nichts darauf zu sagen, fand keine Worte, die ihm ihre Gefühle klarmachen würden, ohne seine zu verletzen.

„Tut mir leid“, murmelte sie nach einer Weile unglücklich.

Blassblaue Augen blickten sie an, diese kritischen Aquamarinaugen, die sie so liebte und die so verdammt gut darin waren, seine sanfteren Gefühle zu verstecken. Ihr Leben wäre anders verlaufen, wenn sie nicht vor einer halben Ewigkeit über den Dinnertisch hinweg in jene Augen geblickt hätte. Sie hätte sich Arpad hingegeben. Asko hätte es nicht verhindert. Sie wäre keine Jungfrau mehr, und mit ziemlicher Sicherheit wäre sie bereits mausetot. Einen halbverhungerten Vampir zu lieben trug nicht zur eigenen Gesundheit bei.

„Nein. Mir tut es leid“, sagte er schuldbewusst, nahm ihre Hand und küsste ihre Fingerspitzen. Sie lief ob der seltenen Nähe der Berührung dunkelrot an. „Ich bin ein brummiger, selbstsüchtiger, missgünstiger, schwieriger Narr. Ich verdiene dich gar nicht.“

„Ich liebe dich.“

Er nickte und wandte sich mit einer vorsichtigen Bewegung von ihr ab.

„Wir sollten aufstehen. Wir wollen doch nicht unpünktlich sein!“, sagte er pflichtbewusst.

Sie seufzte. Sie waren nie unpünktlich.

Sie riss ihren Blick von ihm los, um nicht die schmerzhaften Verrenkungen mit ansehen zu müssen, die er machte, um sich in eine aufrechte Haltung zu zwingen. Sie krallte ihre Fingernägel in ihre Hände, um sie davon abzuhalten, nach ihm zu greifen und ihm zu helfen. Er wollte keine Hilfe. Er brauchte keine Hilfe.

Er griff nach seinen Krücken, die am Bett lehnten.

„Frau Lybratte ist eine schöne, intelligente Dame. Aber du bist meine Frau, Charly.“

„Ja, Asko.“

„Ich würde ihrer Anmut auch nicht erliegen, wenn ... die Dinge anders wären.“

„Ja, Asko.“

„Für so eine intelligente, gebildete Frau, wie du eine bist, meine liebe Charlotte, kannst du manchmal recht töricht sein.“

„Gewiss, Asko.“ Er liebte sie. Es gebrach ihm nur am passenden Vokabular.

„Ich auch, muss ich wohl leider gestehen.“

„Das stimmt, Asko.“